Die weiße Linie

Foto: Andrè PlathDas ist eine wei­ße Linie mit Grenz­be­deu­tung. Sie ist auf dem Ber­li­ner Bahn­hof Fried­rich­stra­ße foto­gra­fiert, wo es den „Trä­nen­pa­last“ gab und Ankom­men, Abfah­ren, Ein­stei­gen nur auf Kom­man­do … Der gelern­te Mit­tel­eu­ro­pä­er weiß um die Bedeu­tung die­ser wei­ßen Linie. Den Strich zu über­schrei­ten ist nicht ein­fach nur ver­bo­ten, son­dern man begibt sich und ande­re in Gefahr, wenn man es tut und der Zug fährt ein. Vor­sicht ist gebo­ten. Man kann aber auch kei­nen Platz fin­den im Zug, wenn man zu lan­ge aus­harrt hin­ter der Linie. So oder so sagt die wei­ße Linie, man soll bestimm­te Gren­zen nicht über­schrei­ten. Es gibt „Kul­tur­schran­ken“.

Frau Schaffer muss weg!“

Täg­lich schlägt sicher nicht nur in Sach­sen der nor­ma­le kon­ser­va­ti­ve Volks­zorn hin­ein in die ein­fachs­te Kom­mu­ni­ka­ti­on. Da ist die Frau, die mit ihrem Ein­kaufs­wa­gen näher ans Band möch­te und höf­lich fragt, ob ich nicht etwas rut­schen könn­te. Klar, sag ich in mei­ner geis­tes­ab­we­sen­den Nai­vi­tät: „Wir schaf­fen das.“ Da wird aus der Frau eine Furie und alle hören mit: „Köln zeigt, was wir Frau Schaf­fer zu ver­dan­ken haben; die muss weg.“ „Aber die war doch gar nicht dort.“ „Das ist alles ihr Werk.“ Punkt. Bei­fäl­li­ges Nicken rings­um. Bezah­len. Raus. Noch kei­ne Unter­stüt­zungs­ru­fe … die wei­ße Linie gilt noch.

Was erobert Raum und Macht, wenn Ange­la Mer­kel fällt? Es wird wohl mehr Anti­hu­ma­nis­mus sein, der sich Durch­bruch ver­schafft. Selbst die hie­si­ge CDU sucht nach der Reiß­lei­ne, fin­det sie aber nicht, nach­dem sie seit dem Neu­auf­bau des Lan­des Sach­sen das­je­ni­ge Den­ken geför­dert und gepflegt hat, das ihr nun selbst um die Ohren fliegt – was wie­der­um das „Fuß­volk“ der Par­tei zutiefst ver­un­si­chert; „unter­ir­disch“ sei die Stim­mung, ver­mel­den Par­tei­gran­den. Erin­nert sei an Stef­fen Heit­mann und dar­an, dass die Jun­ge Uni­on Sach­sen noch immer „und Nie­der­schle­si­en“ im Namen trägt. Es war der CDU-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de Stef­fen Flath der sich den radi­ka­len Abtrei­bungs­geg­nern demons­tra­tiv anschloss.

Die Mär von den Kirchenfeinden

Am Niko­laus­tag 2015 hat Mat­thi­as Kamann in „Die Welt“ die The­se in den Raum gestellt „Die neu­en Kir­chen­fein­de mar­schie­ren bei Pegi­da & Co.“. Die Selbst­dar­stel­lun­gen von Pegi­da, AfD und NPD wider­le­gen aber nicht nur das gestreu­te Gerücht, Pegi­da sei eine Athe­is­ten­be­we­gung, son­dern auch die, die Bewe­gung sei chris­ten­tums­fern; es ist nur ein ande­res Chris­ten­tum als das, was Frau Käß­mann ver­brei­tet. Garan­tiert lau­fen hier mon­täg­lich „Kon­fes­si­ons­freie“ wahr­schein­lich in Men­ge auf. Das ist schon demo­gra­fisch höchst wahr­schein­lich. Aber das Gedan­ken­gut vom „christ­li­chen Abend­land“ kommt nicht aus die­ser Ecke, im Gegen­teil. Hilf­reich ist, Pegi­da beim vol­len Namen zu nen­nen: „Patrio­ti­sche Euro­pä­er Gegen die Isla­mi­sie­rung des Abendlandes“.

Das klingt sehr nach säku­la­ri­sier­tem Heils­ver­spre­chen mit Anklän­gen an die „Deut­schen Chris­ten“, die in Sach­sen vor und wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus sehr stark waren. Bekannt­lich wur­de die Kir­che auch in der DDR nicht ent­na­zi­fi­ziert. Es gab SED-erlaub­te per­so­nel­le Kon­ti­nui­tä­ten als Gegen­leis­tung zu poli­ti­schem Wohlverhalten.

Es ist dar­an zu erin­nern, dass es 2014/15 in der evan­ge­li­schen Lan­des­kir­che einen offen geführ­ten Glau­bens­kampf gab, bei dem die Kon­ser­va­ti­ven letzt­lich gewan­nen und ihren Bischof Cars­ten Rensing wähl­ten. Noch immer gilt hier das „Schwu­len­ta­bu“ – und es gibt kei­ne wei­ße Linie zu den anti­mo­der­nen Bot­schaf­ten von Pegi­da und AfD. Es wur­den aber genü­gend Bibeln gekauft zur Bil­dungs­be­glei­tung der „Will­kom­mens­kul­tur“.

Den Germanen retten

Nichts kommt plötz­lich und von selbst. Bereits in den 1920er Jah­ren und im Natio­nal­so­zia­lis­mus wur­de eine säch­si­sche „Kul­tur des Gemüts“ und der eige­nen säch­sisch-deut­schen Art gepflegt. In der DDR gal­ten die Säch­si­sche Schweiz, das Erz­ge­bir­ge und das Vogt­land als Regio­nen beson­de­rer Hei­mat­tü­me­lei: Dahe­eme blei‘m. Als dann die Mau­er fiel und Arbeits­plät­ze ver­schwan­den und die Jun­gen in den Wes­ten gin­gen (um es mit dem Song­text von Jor­is zu sagen: „Von Ost nach West bis der Schmerz nach­lässt“), ver­such­ten es Bie­den­kopf und Nach­fol­ger mit säch­si­schem Natio­na­lis­mus und den christ­li­chen Kern­wer­ten Hei­mat und Fami­lie. Aus­ge­trie­ben wur­de den Ver­lie­rern der Wunsch nach Erneue­rung. Zwar über­nah­men meist Wes­sis nun das Kom­man­do, aber das waren wenigs­tens Ger­ma­nen, Leu­te von uns, Stamm­hal­ter. Jetzt aber kom­men die Syrer.

Frank Rich­ter (geb. 1973 in Dres­den), heu­te Kor­re­spon­dent der „Süd­deut­schen Zei­tung“ in New York, ist der Autor des Romans „89/90“. Dar­in schil­dert er, wie der rech­te Rand in sei­ner Jugend­zeit in sei­nem Hei­mat­land Sach­sen wäh­rend der „Wen­de“ ent­stand, die Kul­tur, die sich 1991 in Hoyers­wer­da aus­tob­te. Heu­te ist das fast „nor­mal“: Hei­den­au, Frei­tal, Frei­berg … Die dama­li­gen Akteu­re sind jetzt Mit­te vier­zig und ermun­tern sicher ihre Söh­ne, es bes­ser aus­zu­fech­ten als sie damals. Irgend­wo­her muss sich der „har­te Kern“ ja rekrutieren.

Jeden­falls sand­te Rich­ter aus fer­ner Über­see Ende August 2015 per Inter­view eine gehar­nisch­te Bot­schaft: „Der Ruf Sach­sens ist im Arsch“. Als nach der „Leip­zi­ger Volks­zei­tung“ auch die „Freie Pres­se“ am 31. August 2015 den Text nach­druck­te, hagel­te es Pro­tes­te. Die Säch­si­sche Regie­rung war zu die­ser Zeit noch der Auf­fas­sung, es sei alles nicht so schlimm, wie über­trie­be­ne Stim­men behaup­ten. Man kön­ne doch mit den Ver­nünf­ti­gen bei Pegi­da reden, es sei Teil von des Vol­kes Stim­me. Das erle­dig­te sich schnell und die hie­si­ge Tou­ris­mus­be­hör­de hat inzwi­schen eine ähn­li­che Auf­fas­sung wie Rich­ter. Öko­no­men sehen, was den Wirt­schafts­stand­ort betrifft, ziem­lich schwarz. Frem­den­feind­lich­keit ist kein Inves­ti­ti­ons­vor­teil. Was aber, wenn die Ableh­nung der Moder­ne, noch mehr als bis­her als säch­si­scher Cha­rak­ter­zug vor­ge­zeigt und wahr­ge­nom­men wird?

Als eine wei­ße Linie über­schrei­tend wur­de Rich­ters Bot­schaft ver­stan­den, die den ech­ten deut­schen Sach­sen belei­digt: Er wol­le irgend­wann zurück nach Sach­sen, wes­halb er dank­bar sei „für jeden, der es in der Zwi­schen­zeit auf sich nimmt, dort für eine Öff­nung der Men­ta­li­tät und am bes­ten auch des Gen­pools zu sorgen.“

Die Gegenmoderne marschiert

Was ist denn dies für eine Kul­tur, die vom rech­ten Rand über die AfD bis in die Mit­te der Gesell­schaft sich öffent­lich dar­stellt gegen den Main­stream unter der Flag­ge von Mei­nungs­frei­heit gegen die „Lügen­pres­se“?

Micha­el Lüh­mann, gebo­ren 1980 in Leip­zig, Poli­tik­wis­sen­schaft­ler und His­to­ri­ker, lebt und arbei­tet in Göt­tin­gen. Zuletzt ist von ihm das Buch „Der Osten im Wes­ten – oder: Wie viel DDR steckt in Ange­la Mer­kel, Mat­thi­as Platz­eck und Wolf­gang Thier­se?“ erschie­nen. Bereits Mit­te Sep­tem­ber leg­te Lüh­mann im „Frei­tag“ eine Kurz­fas­sung sei­ner Ana­ly­se der AfD unter dem Titel vor „Die Kräf­te der Gegen­re­form sind ange­tre­ten“, wobei er den anti­li­be­ra­len Begriff der „Gen­de­rei“ in den Mit­tel­punkt rückt: „Kaum etwas über­for­dert die neu­en kon­ser­va­ti­ven Kul­tur­kri­ti­ker mehr als die mul­ti­plen Mög­lich­kei­ten von Lebens- und Selbst­ent­wür­fen, bis hin zur Infra­ge­stel­lung von Geschlech­ter­rol­len und ‑nor­men, ja der Ein­deu­tig­keit von Geschlecht an sich.“

In sei­nem kurz vor Weih­nach­ten 2015 erschie­nen Arti­kel „Pegi­da passt nach Sach­sen“ auf „Zeit-Online“ geht er noch wei­ter: „Stram­mer Kon­ser­va­tis­mus plus extrem rech­tes Gedan­ken­gut: Die Pegi­da-Mischung ist auch typisch für die poli­ti­sche Tra­di­ti­on Sach­sens. Frem­des und Neu­es sind hier suspekt.“

Neu ist in dem Text, dass Lüh­mann nun eine par­tei­über­grei­fen­de Kul­tur­strö­mung erkennt, deren „Glau­ben“ bei Pegi­da und AfD kei­ne wei­ße Linie hat. Der CDU sei es nicht gelun­gen, die­ses Milieu poli­tisch ein­zu­he­gen. Es sei ihr ent­glit­ten. „Das ultra­kon­ser­va­ti­ve, radi­kal-evan­ge­li­kal über­form­te Milieu des säch­si­schen Bibel­gür­tels. Jener Regi­on im Süden und Osten des Lan­des also, in der sich eine beson­ders regres­si­ve Gesell­schafts­po­li­tik erhal­ten und wei­ter­ent­wi­ckelt hat. Für ein Abtrei­bungs­ver­bot, gegen gleich­ge­schlecht­li­che Ehen, gegen Gleich­stel­lung und Mei­nungs­plu­ra­lis­mus und immer wie­der Angst und Stim­mungs­ma­che gegen Migran­ten, Mus­li­me, Lin­ke. Das alles ist in die­sen Regio­nen nicht unbe­dingt mehr­heits­fä­hig, aber doch weit mehr als ein Randgruppenphänomen.“

Wer in die­ser Situa­ti­on der not­wen­di­gen Ver­tei­di­gung von Huma­ni­tät und Huma­nis­mus in den der Moder­ne auf­ge­schlos­se­nen Chris­ten, Juden und Mus­li­men vor allem Reli­gi­ons­ver­tre­ter sieht und nicht Bünd­nis­part­ner, macht einen stra­te­gi­schen Fehler.

Schluss mit Humanitätsduselei

Huma­ni­täts­du­se­lei“ ist ein gefähr­li­ches Wort; August Bebel hat es benutzt, die SS … Aber es gibt so etwas wie ein unver­ant­wort­li­ches „Gut­men­schen­tum“ (auch so ein zu miss­brau­chen­des Wort), gera­de in der unin­for­mier­ten „Will­kom­mens­kul­tur“, fern vom „gesun­den Men­schen­ver­stand“. Man muss hier nicht die wohl­ge­mein­ten oder vor­ge­schütz­ten For­meln vom „Gene­ral­ver­dacht“ oder der „Pau­schal­ver­ur­tei­lung“ bemü­hen, wenn Huma­ni­tät und Huma­nis­mus ver­tei­digt wer­den müs­sen – mit Macht und Gesetz und sach­li­cher Abwä­gung von Grün­den und Moti­ven. Kein Zurück hin­ter erreich­te Humanisierungen.

Wir Sach­sen sehen in einer „Duse­lei“ eine Unacht­sam­keit. „Dusel“ hat gehabt, wer gera­de noch mal davon­ge­kom­men ist. Aber ein „Dus­sel“ ist ein Unbe­lehr­ba­rer. So will ich Huma­ni­täts­du­se­lei und Köln als Wen­de­punkt auch unter unser­eins ver­stan­den wis­sen, näm­lich als Wis­sen um die Rea­li­tät und Kom­ple­xi­tät des­sen, was pas­siert und pas­sie­ren kann.

Wenn Inte­gra­ti­on nicht vor­an­kommt, gar nicht statt­fin­det, was machen die vie­len jun­gen Män­ner den gan­zen Tag in ihren tris­ten Unter­künf­ten. Dar­un­ter befin­det sich durch Sozia­li­sa­ti­on, Krieg, Elend und Reli­gi­ons­ver­satz­stü­cke ver­wahr­los­tes Gesin­del, aber auch das sind Men­schen mit Wür­de. Ein nai­ver Umgang mit den Her­ge­kom­me­nen muss der Ver­gan­gen­heit ange­hö­ren. Das betrifft auch „uns­re eigen Leut‘“: Was machen die jun­gen wei­ßen Män­ner, wenn sie „Ord­nung“ ins schö­ne Sach­sen­land brin­gen wol­len, um „Gemüt­lich­keit“ wie­der her­zu­stel­len? Sie wer­den auch ihre Gangs auf­ma­chen, ihre Bür­ger­weh­ren, Ver­tei­di­gungs­bü­ros … Machos kon­tra Machos.

Die wei­ße Linie ist sicht­bar – noch.

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