Lotte Strub-Rayß (1912–2008) hinterließ ihrem Sohn Konrad Rayß ihre Memoiren. Er hat sie 2018 im Berliner Trafo-Verlag mit einem umfänglichen Vorwort mir veröffentlicht unter dem Titel „Verdammt und entrechtet. Stuttgart – Basel – Moskau … 16 Jahre Gulag und Verbannung“.
Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die nach dem Ersten Weltkrieg in einer schwäbischen bürgerlichen Familie aufwuchs. Sie studierte Kunst an der Stuttgarter Kunstgewerbeschule, verliebte sich in den bekannten Arzt und Dramatiker Friedrich Wolf und erlebte die ganz große Liebe. Früh wandte sie sich der linken Bewegung zu und leistete Widerstand gegen das erstarkende NS-Regime. 1933 musste sie Deutschland verlassen. Sie floh nach Moskau. In Engels studierte sie Pädagogik, heiratete den Journalisten Lorenz Lochthofen. 1938 wurde sie Opfer des Stalinterrors.
Diese Autobiographie ist ein Beitrag zur Dokumentation der End-Zeit-Weimarer Republik, eine Aufklärungsschrift zur Gulag- und Verbannungsgeschichte der Sowjetunion und zum Schicksal deutscher Politemigranten und – wie die Rezension von Peter Steinbach zeigt – auch ein Beitrag zur Landesgeschichte Baden-Württembergs.
Editorische Notiz zum hier publizierten Text: Er folgt meinem Aufsatz „Und wie ein Vieh und unter Vieh zu wohnen“ (Wolfgang Duncker). Aus der Arbeiterbewegung in den Gulag. Das Leben von Lotte Rayß (1912–2008). In: BzG. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Berlin 2017. 59. Jahrgang. Heft 4, S. 35–94. Dies ist eine erweiterte Fassung des zuvor publizierten Textes: Die Suche nach Glück und die Kunst des Überlebens. Ein kulturwissenschaftliches Nachwort. In: Lotte Strub-Rayß: Verdammt und entrechtet. Stuttgart – Basel – Moskau… 16 Jahre Gulag und Verbannung. Aus dem Nachlass herausgegeben von Konrad Rayß. Berlin: Trafo Verlag 2018, S. 529–587.
Die Fußnoten befinden sich am Ende des Textes. Sie sind im Text in eckige Klammern gesetzt [Fn + Zahl]. Zitate, die sich auf die Seitenzahlen in den Memoiren beziehen, stehen ebenfalls in eckigen Klammern [Seitenzahl].
„Und wie ein Vieh und unter Vieh zu wohnen“ (Wolfgang Duncker)
Aus der Arbeiterbewegung in den Gulag. Das Leben von Lotte Rayß (1912–2008)
Über den Titel dieses Aufsatzes
Lotte Rayß wohnte um 1944 im KarLag in einer Erdhütte wie ein Vieh unter Vieh: „Wir fuhren hinaus in die Steppe. … Aus einem zum Wohnwagen umfunktionierten Plattenwagen kletterte ein Mann heraus. Pawel Sergejewitsch, Leiter der Schaffarm, ein Freier. Ich sollte die Buchführung für ihn machen.
Kleine Hügel, wie Beulen auf der Steppe, waren rings um den Wohnwagen verteilt. In die Erde gegrabene winzige Unterkünfte, die mit Matten als Dach und mit etwas Heu bedeckt waren. Die Unterkünfte der Hirten.
Als erstes sollte ich mir meine Unterkunft graben. … Nach kurzem Suchen fand ich einen Spaten, fing an zu graben. Ein Reiter kam. Er sei der Bewacher, erklärte er mir, nachdem er abgestiegen war. Er … nahm mir den Spaten aus der Hand…, warf Scholle um Scholle weg. …
Er ließ eine breite Erdbank stehen: ‘Deine Liege.’ Daneben ließ er in Form eines Nachttisches einen höheren Block stehen: ‘Dein Arbeitstisch.’ Es blieb nur ein schmaler Gang entlang der Liege aus festem, lehmigem Boden. Drei Erdstufen führten in das Erdloch, das nur um weniges größer als ein Grab war. ‘Ich muss weiter, sonst gibt’s Ärger.’“ [403 f.]
Zur Entstehung dieses Textes
Der vorliegende Aufsatz entstand im Frühjahr 2017, nach meiner Beschäftigung mit dem Schicksal von Max Hoelz, im Zusammenhang mit der Neuausgabe von dessen Erinnerungen Vom „Weißen Kreuz“ zur „Roten Fahne“ von 1929 in einem italienischen Verlag in deutscher Sprache. [Fn 1] Bereits die Hoelz-Studie führte hin zum Umgang mit deutschen Politemigranten in der Sowjetunion. In früheren Arbeiten, etwa zur proletarischen Reiseliteratur,[Fn 2] die auch auf Erinnerungen deutscher Arbeiter an ihren Aufenthalt in der Sowjetunion einging, etwa der geschönte Bericht vom Aufbau des Moskauer Elektrizitätswerkes,[Fn 3] hatte ich zwar kritisch, aber noch sehr naiv geurteilt.
Die nun folgende Arbeit basiert im Wesentlichen auf späteren Lektüren, konkret auf meinem Nachwort zu den im Frühjahr 2018 veröffentlichten Memoiren von Liselotte Strub-Rayß.[Fn 4] Der dortige Text wurde für die Bedürfnisse dieser Zeitschrift durch zahlreiche Zitate aus dem Buch ergänzt und auch sonst leicht überarbeitet.
Über die Memoiren
Liselotte Strub-Rayß lebte vom 17. Februar 1912 bis zum 6. Januar 2008. Sie hinterließ ein humanistisches Buch. Es ist ein großer Appell an die Barmherzigkeit, den Kernbestand des Humanismus.[Fn 5] Die Autorin zeigt, was mit Menschen geschieht, Opfern und Tätern, wenn Humanität verloren geht, sie nicht das Handeln leitet, sondern das Gegenteil und dies dann noch mit dem hehren Anspruch, das diene einem höheren Zweck, in diesem Fall dem Kommunismus. Wir lernen bei der Verfasserin aber auch, wie Menschenwürde und Menschlichkeit Bestand haben können unter menschenverachtenden Umständen.
Ende März 2018 veröffentlichte der Berliner Trafo-Verlag die hinterlassenen Erinnerungen von Lotte Rayß, die seit 1959 Liselotte Strub hieß, unter dem Titel Verdammt und entrechtet. Das Buch sollte ursprünglich „Persona non grata“ heißen. So wurde das Manuskript hinterlassen, das Leben resümierend. Dann erhielt das Konvolut den Namen „So war es, mein Lieber“, weil dies ein oft wiederholter Ausspruch der viele Jahre bettlägerigen Autorin gegenüber dem Adressaten des Berichts war, ihrem 1946 im Karagandiner Gulag geborenen Sohn Konrad Rayß, worauf noch eingegangen wird. Lotte Rayß war zweimal verheiret, einmal mit Lorenz Lochthofen im sowjetischen Exil, dann mit Richard Stub, dem Sohn des Schweizers Walter Strub, der noch vorgestellt wird. Die Memoiren umfassen die ersten 42 Jahre ihres Lebens. Die Autorin zitiert darin den Dichter Friedrich Wolf (1888–1953), der zu ihr sagt: „Ich brauche dich, du bist meine Muse.“ [184] [Fn 6]
Wir werden sehen, wie treffend diese Aussage für etwa sieben Jahre ist – und wie lange diese Liebe in der Frau nachwirkt. Es wird dabei deutlich, dass es der historischen wie literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Leben und Werk von Friedrich Wolf geschadet hat, dieser Beziehung nicht genauer nachgegangen zu sein. Vielleicht nahmen die damit befassten Forscherinnen und Forscher an, in diesem Urteil wohl mit Nachdruck bestärkt durch die einflussreiche Familie, bei der hohen Promiskuität Wolfs sei dies eine Liebschaft wie viele andere gewesen.
Doch sie war siebenfach anders: Erstens dauerte diese Beziehung länger als andere. Zweitens nutzte der Künstler seine Geliebte Lotte Rayß spätestens ab 1932 als Sekretärin, Redakteurin und Ratgeberin bei einigen seiner Produktionen sowie mitunter als „Statthalterin“ bei seiner häufigen Abwesenheit von Stuttgart. Drittens begleitete ihn diese Muse auf der Flucht vor den Nazis durch halb Europa. Viertens brachte sie seine Söhne aus Stuttgart in Sicherheit. Fünftens rettete sie unter Lebensgefahr sein Archiv und schmuggelte es in die Schweiz. Sechstens hatten sie ein gemeinsames Kind mit dem Namen Lena. Siebentens holte er sie zu sich in die Sowjetunion, wo sie Anfang 1938 ein Opfer dessen wurde, was die Zeitgenossen und viele Spätere verharmlosend und auf eine Person reduziert „Stalinismus“ nannten.
Spätestens seit der Lenin-Biographie von Wolfgang Ruge ist belegt, dass eine direkte politische Kontinuität zwischen Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) und seinem Nachfolger Josef Wissarionowitsch Stalin (1879–1953) besteht,[7] dass Letzterer aber das System der Grausamkeiten ausbaute, systematisierte und charakterlich gesehen daran auch einen gewissen Gefallen fand.[Fn 8] Die Maschinerie entfaltete einen Selbstlauf, in dessen Räderwerk auch Lotte Rayß geriet. Es wird darauf noch ausführlich eingegangen, auch auf das gesellschaftspolitische Konzept, dass dem „Aufbau des Kommunismus“ zugrundelag.
Dieses Programm war eine radikale, im Kern ultralinke Abkehr von den Vorstellungen und Traditionen der europäischen Arbeiterbewegungen, dies besonders hinsichtlich des Platzes, der den Arbeitern und ihrer Arbeit zugedacht war. Es gab nach dem Sieg der „bolschewistischen Revolution“ keine realistischen, schon gar nicht sozialökonomisch verifizierbaren Vorstellungen von der „Arbeiterklasse“.[Fn 9] Das betraf auch die Ansichten über ihre Bedürfnisse, Interessen und Organisationen.
Die bürgerliche und mittel- wie großbäuerliche Bevölkerung, im Vergleich zu West- und Mitteleuropa spät entwickelt und zwei wenig kultivierte „Klassen“, wurde zu Kapitalisten und Feinden der neuen Gesellschaft erklärt und persönlich bekämpft bis zur physischen Vernichtung. Die Analysen und das Ideengebäude von Karl Marx, wenn überhaupt im Original rezipiert, wurden stark vereinfacht und zu einer nahezu ersatzreligiösen Prophetie einer „historischen Mission“ verklärt, die sich in ihren verkürzten Thesen bereits bei dem vielgelesenen Herman Gorter findet.[Fn 10]
Aus der Idee der „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“, eines höchst komplexen Vorgangs, wurde deren „Verstaatlichung“ unter Federführung, wie wir noch sehen werden, der Staatssicherheit, die in der „Partei neuen Typs“ und über sie herrschte. Der „Marxismus“ galt nun als bloße Vorstufe des „Leninismus“, der diesen als für die Epoche des Imperialismus gültig definierte in Form einer kanonischen Lehrschrift über die neue Weltanschauung in der Lesart Stalins, letztlich des „Stalinismus“.[Fn 11]
Deren Hauptkomponenten waren die „Ausnutzung der Macht des Proletariats zur Niederhaltung der Ausbeuter …, zur endgültigen Lostrennung … von der Bourgeoisie …, zur Organisierung des Sozialismus“, wobei die „Diktatur des Proletariats eigentlich die ‘Diktatur’ seiner Avantegarde, die ‘Diktatur’ seiner Partei“ darstellt. Die so definierte Mehrheit (der Arbeiter und der werktätigen „Massen“) hat das Recht, „die Minderheit zur Unterwerfung zu zwingen“ und den Grundfehler jeder Opposition zu beseitigen: Das ist „der Unglaube an den Sieg des sozialistischen Aufbaus“, das „Fehlen der Zuversicht“.[Fn 12] Wer dem befohlenen Optimismus nicht folgte, konnte ermittelt und durfte bestraft werden. Lotte Rayß geriet in dieses Misstrauen.
Die vorliegende Autobiographie zeichnet sich dadurch aus, dass sie sowohl Beiträge zu einer Dokumentation der End-Zeit-Weimarer Republik bereitstellt als auch eine Aufklärungsschrift zur Gulag- und Verbannungsgeschichte der Sowjetunion und des Schicksals der dorthin gereisten Politemigranten ist. Sie gibt Einblick in zeithistorische Mentalitäten. Wir könnten dabei die erste Hälfte des Buches, die Zeit bis Ende 1937, durchaus als zwei „Liebesromane“ lesen, zumal der Text oft in Gestus und Sprache an dieses Genre anschließt. Die zweite Hälfte könnte davon getrennt mit den Überschriften „Leidensbericht“ und „Anklageschrift“ versehen werden. Doch das Leben ist nicht teilbar, es wird in einem Zug gelebt.
Die Gliederung der Autobiographie von Liselotte Strub-Rayß folgt der episodischen Erzähllogik der Autorin, wie die „Editorische Notiz des Herausgebers“ erläutert. [vgl. S. 625 ff.] Die Erinnerungen beginnen mit einem Gedicht, der Anrufung einer der drei Horen der griechischen Mythologie – Dike. Das gibt den Aufzeichnungen symbolisch Richtung und Zweck, denn die Eltern der Dike sind die Götter Zeus, die mächtigste, oberste Gottheit,[Fn 13] und Themis, die für Gerechtigkeit steht. Schwestern der Dike sind Eunomia, ein Symbol für „gute Ordnung“, und Eirene, die „Frieden“ bedeutet. Vor allem aber ist Dike die Mutter der Hesychia, der Personifikation von Ruhe und Frieden, die die Autorin durch das Schreiben zu finden hoffte.
Das Gedicht ist terminiert auf den 2. Dezember 1999. Da ist die Verfasserin 87 Jahre alt und mittendrin im Diktiervorgang ihrer Memoiren. Die drei Verse bemühen die heidnische Antike. Dike soll der „Verfemten“ Gerechtigkeit widerfahren lassen, als Göttin des Sommers ihr frierendes Herz erwärmen. Sie möge auch denen Wärme spenden, die kalten Herzens den Verdammten weh taten. Die Verfasserin vergibt den Tätern nicht in der Art und Weise des christlichen Credos („Vater unser“), dass sie ihren Schuldigern verzeiht. Das würde die Geschichte, Ursache und Wirkung verdrehen. Sie legt das Urteil über die Schuldigen in die irdische Welt, in die Gerichtsprechung der Leserschaft. Sie selbst ist völlig schuldlos in das Inferno geraten – wenn man nicht das Leben selbst als sündhaft ansieht, eine Lebensvorstellung ihrer Kindheit, von der sie sich emanzipiert hat.
Die Erinnerungen von Lotte Strub, wie sie von ihr geschrieben wurden, waren ursprünglich in vier Bücher geordnet. Die Memoiren sind im Wesentlichen die Wiedergabe der ersten drei:
Das schwierige Erwachsenwerden der Lotte Rayß, persönliches Glück und eine frühe künstlerische Lernphase bilden die Leitthemen des ersten Buches. Darin schildert die Verfasserin ihre Kindheit (bei ihr: „Kindzeit“) und Jugend in einer bürgerlichen Familie, in der ältere Damen dominieren und die durch die Inflation ihr Vermögen verlor, nicht aber ihren Dünkel. Die Autorin beschreibt ihr Erwachen als Frau und Künstlerin sowie den Beginn ihrer großen Liebe zu Friedrich Wolf. Sein Spruch „Nenne mich Wolf“ [73] wird mit aller Mehrdeutigkeit, die in dieser Aufforderung liegt, für ihr ganzes Leben bedeutsam. Ihre Erzählungen sind eingebunden in die Beschreibung einer ab 1933 vom Nationalsozialismus zerstörten linken, weitgehend kommunistischen Kulturbewegung der späten Weimarer Republik im schwäbischen Stuttgart und seiner näheren Umgebung.
Im zweiten Buch erzählt Lotte Rayß von der Flucht vor dem Nationalsozialismus aus Deutschland mit Wolf, vom Exil in Österreich, Frankreich, der Schweiz, Prag und Moskau, von ihrem Kind Lena,[Fn 14] ihrer Übersiedlung ins wolgadeutsche Engels im Juli/August 1934 auf direkten und persönlichen Befehl der stellvertretenden Volksbildungskommissarin Nadeschda Krupskaja (1869–1939), der Witwe von Lenin, und schließlich der endgültigen Trennung von Friedrich Wolf 1935, die aber kein Ende der persönlichen Kontakte ist. Dieser Teil berichtet über die deutschsprachige Kunstszene in der wolgadeutschen Hauptstadt, die erfolgreiche und einträgliche Arbeit von Lotte Rayß als Lektorin und Illustratorin, die Heirat mit dem deutschen Emigranten Lorenz Lochthofen (1907–1989) am 10. November 1935 und ihrem gemeinsamen Kind Larissa.
Unter „normalen“ Umständen hätte Lotte Rayß gar kein Asyl in der Sowjetunion erhalten, denn sie war nicht „organisiert“, weder im „Kommunistischen Jugendverband Deutschlands“ (KJVD), schon gar nicht in der „Kommunistischen Partei Deutschlands“ (KPD). Sie war in der ganzen Zeit, die in der Autobiographie beschrieben wird, parteilos.
Eine Aufenthaltsgenehmigung für die Sowjetunion erhielt sie nur durch Fürsprache von Wolf, einen im Land bekannten und verehrten Dichter und Politiker. Damit nahm aber die schon durch ihre Liebe zu ihm vorhandene persönliche Abhängigkeit zu. Als sie sich ab Spätsommer 1935 trennen und er dann Ende 1937 aus der Sowjetunion ausreist (er ist unmittelbar vorher, im Dezember, noch einmal in Engels), geht mit ihm auch ein möglicher Schutz vor den um sich greifenden Verfolgungen verloren. Aber sicher konnte sich niemand sein in dieser Zeit, so dass dies kein Urteil über die neue Situation ist.
Das dritte Buch beginnt mit ihrer Verhaftung Anfang 1938. Es legt Zeugnis ab vom Leben in der alltäglichen Hölle der sowjetischen Strafverfolgung unschuldiger Menschen. Lotte Rayß beschreibt zuvor die Zeichen einer gesellschaftspolitischen Wende – und dann den persönlichen Absturz, die Verhöre und Folterungen, den Tod des Kindes Larissa, die Verurteilung und schließlich die Lagerhaft mit anschließender Verbannung „auf ewig“.
Für dieses System steht das Akronym „Gulag“ (eigentlich: GULag) – es wird noch darauf eingegangen. Es steht für „Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und ‑kolonien“.[Fn 15] Seit dem Buch „Artikel 58“ (1967) von Warlam Schalamow (1907–1982) und, bekannter, weil nahezu mit Millionenauflage gedruckt, Alexander Solschenizyns (1918–2008) „Der Archipel Gulag“ (1974), steht der Begriff „Gulag“ für die gesamte Ordnung der Zwangsarbeitslager und des Ausbeutungsregimes der Verbannung.[Fn 16] Um aber dennoch die zwar geringen, aber doch lebenswichtigen „Verbesserungen“ nach der Freilassung aus dem Gulag in die Verbannung aufzuzeigen, sind sie im Titel des Buches getrennt worden. Im Rückblick der Autorin handelt es sich um 16 verbundene Jahre.
Beginnende Rezeption einer sperrigen Biographie
Lotte Rayß passte nicht in die in der DDR glatt gebügelte, von ihm nicht infrage gestellte Heldenbiographie von Friedrich Wolf. Der erste öffentliche Hinweis auf die Existenz einer Freundin und Bekannten der Familie Wolf in der Sowjetunion (noch nicht bezogen auf die Zeit vor 1933) findet sich in dem glänzend (zumal wenn man die damalige Quellenlage kennt) recherchierten Buch aus dem Jahr 1981 von David Pike (Jg. 1950) über „Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil“. Da das Werk in der DDR und in der Sowjetunion gängige Legenden angriff und tatsächliche Vorgänge offenlegte, war die Rezeption in der östlichen Literatur- und erst recht in der Geschichtswissenschaft entsprechend ignorierend bis ablehnend. Aber die ausgebreiteten Fakten waren nun in der Welt.
Der Germanist Pike (Jahrgang 1950), bis zu seiner Emeritierung Professor in North Carolina, konnte 1976 ein Jahr lang in Moskau und 1979 bei einem halbjährigen Forschungsaufenthalt in der DDR Archivbestände der deutschen literarischen Emigration studieren, also Bestände etwa der Exilsammlung an der Deutschen Bücherei Leipzig und der Akademie der Künste, die auch einheimischen Literaturhistorikern seit dem systematischen Aufbau dieses Archivs ab 1960 in den 1970er Jahren zur Verfügung standen.[Fn 17] Diese Sammlung ging letztlich auf Verfügungen des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda zurück, die zur gesonderten Anzeige „unerwünschter Literatur“ führten, die von 1939 bis 1944 als „Liste der in der Deutschen Bücherei unter Verschluss gestellten Druckschriften” intern erschien und auch ausländische Titel enthielt.
Eher nebenbei erwähnt werden in dem Buch von Pike acht in der Lehnitzer Außenstelle des Friedrich-Wolf-Archivs der Akademie der Künste der DDR von ihm gefundene Briefe, die in einem Zeitraum von 14 Monaten geschrieben wurden (6. Januar 1937 bis 10. Dezember 1938) und in denen Friedrich Wolf, „über eine enge Freundin, Lotte Raiss [sic] in Engels“ berichtet. Fünf davon waren an die Familie Strub in der Schweiz gerichtet.
Die Post verdeutlicht, dass Wolf sehr gut informiert war über das Schicksal von Lotte Rayß und ihrer beiden Kinder, wovon dasjenige, wo er der Vater war, die Lena, von seiner Frau Else Wolf nach Moskau geholt wurde, als die Mutter bereits verhaftet war. Doch davon schreibt sie der Mutter in ihren halbjährlich erlaubten Briefen drei Jahre lang nichts ins Lager. Schließlich wird das der Mutter entfremdete, pubertierende Kind in die Armut von Lotte Rayß in die Verbannung nach Karanda regelrecht abgeschoben. „Lästig war sie den Wolfs geworden.“ [483] Dies bringt weiteres Gift in die sowieso von Beginn an schwierigen Beziehungen der beiden Frauen.
Als Lotte Rayß verhaftet wird, darf sie nur ein Kind mitnehmen. Es geschah wenige Tage nach ihrer Entlassung aus der ersten Haft, „es war die Nacht zum 5. Februar 1938, trommelten Fäuste gegen den Fensterladen meines Hauses. Es war schon nach Mitternacht. ‘Aufmachen!’ Zwei bewaffnete Milizionäre kamen ins Haus.“ [229] Nach Durchsuchung der Habe, verbunden mit der Plünderung bei einer Ausländerin, machen die ungebetenen Besucher kurzen Prozess: „Die Milizionäre herrschten mich an: ‘Machen sie sich fertig!’ Ich sagte: ‘Ich muss erst die Kinder wecken, sie anziehen.’ Bekam die höhnische Antwort: ‘Von wegen Kinder. Nur eins ist erlaubt!’“ [230] Sie entscheidet sich in den wenigen Minuten, die ihr von der Polizei gegeben werden, für das Baby.
Weder sie noch alle andren Verhafteten konnten ahnen, in welche Hölle sie kommen, welcher Hades die Arretierten erwartet. Das Baby kommt im Staatssicherheitsgefängnis unter ungeklärten Umständen ums Leben. Wolf erfährt zeitnah von diesem Schicksal: „Larissa, Lottes Kind von Lorenz, ist gestorben. Was mag L. alles ausgehalten haben!“[Fn 18]
In der DDR existierte Lotte Rayß nicht als Person, die Friedrich Wolf fast ein Jahrzehnt lang sehr nahestand, mit dem sie künstlerisch zusammenarbeitete, dem sie vor allem die zwei Söhne an einen sicheren Ort brachte, wobei sie sich durchaus der Gefahr einer Verhaftung durch die Gestapo aussetzte.[Fn 19]
Lotte Rayß geriet 1933, illegal in Stuttgart in eine Personenkontrolle. Es rettet sie ihr Bruder Wolfgang, der inzwischen zur SS gehört. „Nach diesem Geschehen – da habe ich … all diese Erinnerungen an Wolfgang aus meiner unglücklichen Kindheit, an seine Fausthiebe, an seine Tritte, an die vielen Peitschenhiebe, an den Verrat, als er vor meiner Familie aus meinem geraubten Tagebuch zitiert hatte, um mich zu verletzen. Es zählte nicht mehr. Denn soeben hatte Wolfgang mir das Leben gerettet. Und das Archiv von Wolf auch.“ [141] Sie sprach mit Friedrich Wolf nie über diese Rettung, „unter welchen Gefahren ich sein Archiv gerettet hatte. Und Wolf – er hat kein einziges Wort über meine Rettung seines Archivs verloren, als wir uns wiedersahen.“ [144] Es versteht sich, dass auch das Lehnitzer Wolf-Archiv nicht über diese Geschichte berichtete.
Als 1988 einige Fotos aus ihrem Besitz ohne ihre Genehmigung und mit fast durchweg irreführenden Bildunterschriften in der DDR gedruckt wurden,[Fn 20] musste sie von einer Klage gegen den „Henschelverlag“ absehen – zu sehr waren diverse Aktionen einflussreicher Leute erkennbar, Lotte Rayß in der offiziellen Biographie von Friedrich Wolf bis zum Ende der DDR nicht vorkommen zu lassen. Darauf wird zurückzukommen sein.
Dabei hatte sie dem Dichter nicht einfach nahegestanden. Nachdem ihre gemeinsame Tochter Lena geboren und er aus den USA in die Sowjetunion zurückgekehrt war, stellte er ihr sogar eine Ehe in Aussicht. Seine Frau Else bittet Lotte Rayß, ihre Familie nicht zu zerstören. Sie „fragte mich in diesem Brief, ob ich denn bedacht hätte, was für Folgen das hätte, wenn Wolf seine Familie in Moskau verlassen würde, um mit mir eine neue Familie zu gründen. Markus und Konrad brauchen … den Vater… Und du willst ihnen nun den Vater wegnehmen? Hast du dir Gedanken gemacht, was Wolf in diesem Provinznest Engels mit einem einzigen, kläglichen Theater soll? Er braucht Welttheater, Kontakt mit Schauspielern, den Gedankenaustausch mit Regisseuren und mit Schriftstellern.“ Er würde „dahin flüchten, wo er das für seine Arbeit findet, was er am meisten braucht.“ [193]
Die Liebenden trennten sich, aber man muss auch sehen, dass Wolf in Engels zeitweise einen Fluchtort aus Moskau sah, besonders, als er aus dem Westen in die bedrückende sowjetische Wirklichkeit zurückkehrte. Wolf mehrere Varianten des persönlichen Überlebens. Er betrieb parallel sehr intensiv seine Ausreise aus der Sowjetunion – verständlich, denn auch ihn konnte es tödlich treffen.
Wahrscheinlich liegt Sergej Lochthofen, der Sohn ihres Mannes in Engels, geboren 1953 in Workuta, richtig mit seiner lapidaren Antwort: Wolf „brauchte Muse und Ehefrau“.[Fn 21] Die Familie hatte auch im Exil für die täglichen Geschäfte eine Haushälterin. Wer gibt so etwas auf?
Geheimnisse der Lilo Herrmann-Legende
Auf dem beruflichen Weg von einer Mathematikerin und promovierten Pädagogin an der 1990 aufgelösten „Pädagogischen Hochschule ‘Liselotte Herrmann’“ in Güstrow zur freien Journalistin und Schriftstellerin begab sich Ditte Clemens (Jg. 1952) von 1987 bis 1992 auf die Suche nach der wahren Biographie der Namensgeberin ihrer damaligen Arbeitsstätte, die 1972 diesen Titel von der DDR-Führung verliehen bekam.
Die geborene Berlinerin Liselotte Herrmann (1909–1938) gehörte seit den 1950ern in der DDR zur Gründungslegende des Staatswesens. Sie wurde zu einer Traditionsikone stilisiert. Sie ging als Stuttgarter Studentin in die Erinnerungskultur ein, weil sie hier 1929 bis 1931 studierte, ab September 1933 dort im Betrieb ihres Vaters arbeitete, besonders aber, weil dies der Ort ihres letzten Widerstandes war, nachdem sie als Kommunistin im Juli 1933 von der Berliner Universität verwiesen wurde, wo sie seit Wintersemester 1931/1932 Biologie studierte. Ebenfalls in Stuttgart wurde sie im Juni 1937 zum Tode verurteilt. Ein Jahr später, am 20. Juni 1938, starb die junge Mutter in Berlin-Plötzensee unter dem Fallbeil (Geburt des Sohnes Walter Herrmann am 15. Mai 1934; er starb 2013).
Lilo Herrmann war, folgt man der „Liste von im Deutschen Reich hingerichteten Personen“ auf „Wikipedia“, die erste von insgesamt etwa 250 in Berlin-Plötzensee zwischen 1933 und 1945 hingerichteten Frauen, bei der ein klar politisch definiertes Todesurteil gegen eine Widerstandskämpferin vorlag. Vor ihr starben zwar bereits einige Frauen auf dem Schaffott, aber wegen Mordes bzw. Spionage.
Die Aufklärung ihrer geheimnisumwitterten Lebensgeschichte gleicht einer kriminalistischen Analyse.[Fn 22] Von den Akten der kommunistischen Widerstandskämpferin waren zu dieser Zeit, als Ditte Clemens ihre Studien begann, nur diejenigen zugänglich, die das offizielle Geschichtsbild bestätigten.[Fn 23] Eine Ausnahme bildete die 1970 erschienene Studie des Rostocker Historikers Karl Heinz Jahnke (1934–2009),[Fn ]24 der sich auf den antifaschistischen Jugendwiderstand spezialisiert hatte und in den 1970ern auch in Stuttgart forschen konnte. Lilo Herrmanns Briefe aus dem Gefängnis fand Ditte Clemens 1988 durch Zufall. Auch ihr Sohn Walter sowie die Enkelin Birgit Herrmann (1970–1999) lasen diese erst danach.[Fn 25]
Für diesen Umgang mit Liselotte Herrmann gab es verschiedene Gründe. So war sie im Dezember 1935 als Mitarbeiterin des illegalen Abwehrapparates der KPD verhaftet worden. Dieser Sicherheitsdienst war bis zum Ende der DDR in Dunkelheit gehüllt, auch deshalb, weil fast der gesamte „Kippenberger-Apparat“ („M[ilitärischer]-Apparat“), benannt nach seinem Organisator Hans Kippenberger (1898–1937),[Fn 26] in der Sowjetunion liquidiert wurde.
Ein weiterer Grund war, dass die Biographie- und Widerstandsforschung in der Bundesrepublik Liselotte Herrmann in den 1970ern sowohl als Gegenstand einer alternativen Geschichtsforschung behandelte, wie der kommunistische Journalist Willi Bohn (1900–1985) es tat, als auch das gerade Gegenteil geschah. So spielte der sozialdemokratische Historiker Eberhard Jäckel (geb. 1929) ihre Bedeutung herunter und verhinderte eine offizielle Ehrung durch die Universität, weil sie als Kommunistin keinen demokratischen Staat angestrebt habe.[Fn 27]
Der Märtyrerkult um Liselotte Herrmann begann in der DDR 1951 mit dem Artikel über sie in dem Sammelband von Stephan Hermlin (1915–1997) „Die erste Reihe“. Im gleichen Jahr erschien ein Poem. Es stammte aus der Feder von Friedrich Wolf, [Fn 28] den der Stoff seit 1942 beschäftigte.[Fn 29] Das dort über sie Gedichtete galt als gelungene ästhetische Umsetzung der historischen Wahrheit über ihre Person.
Bei dem Heldengedicht handelte sich um ein Auftragswerk der SED-Parteiführung. Wolf schrieb über Liselotte Herrmann, als habe er sie in Stuttgart persönlich gekannt, als sei sie eine Pionierleiterin in seinem Umfeld und er ein ihr bekannter Kampfgenosse gewesen. Wolf vermischte eingangs persönliche Erinnerungen an Lotte Rayß, die klar erkennbar sind, mit echtem biographischem Material, soweit es offen lag, und mit reinen Erfindungen. Dies wäre der dichterischen Freiheit erlaubt, wenn er nicht glauben machte, er dokumentiere die Realität:
„Im derben Leinenkleid ein
stämmig blondes Mädel.
So kannten wir Dich, Lilo,
wenn Du als Chef mit Deinen Pionieren
am Sonntagmorgen ins Neckartal hinauszogst;
Lieder lehrtest Du sie, Schwimmen, Zelten
und lehrtest sie auch Mut, Hilfsbereitschaft, Solidarität –
Denn Du wußtest um unsere Sache.
Den Bleistift überm Textbuch,
eine Holzbank als Soufflierpult,
halfst Du den Spieltrupps unsrer Jugend
bei den Proben
der politischen Revuen …“.[30]
Die erzeugte Fama der Pionierleiterin hatte zur Folge, dass das Kinderferienlager am Scharmützelsee bei Bad Saarow-Pieskow 1956 ihren Namen erhielt und fortan „Zentrales Pionierlager ‘Lilo Herrmann’“ hieß, bis dahin benannt nach dem 1956 abgesetzten ungarischen Parteiführer Matyas Rakosi (1892–1971).
Ditte Clemens fand überdies heraus, dass die Legenden über Lilo Herrmann deren tapferen und tragischen Widerstand derart überlagerten, dass daraus eine Geschichtsklitterung wuchs, deren Entdeckung mit allen Finessen behindert wurde. Im Rahmen ihrer Nachforschungen stieß sie auf Liselotte Strub und führte im Frühsommer 1989 viele Stunden Gespräche mit ihr. Sie erfuhr auf diese Weise von nahezu allen in diesen Memoiren vorkommenden Hauptereignissen. Zunächst bestand Einvernehmen, im Lilo-Herrmann-Buch auch von Lotte Rayß zu berichten. Doch dann ist Clemens gezwungen, sie in ihrem Buch lediglich kurz zu erwähnen. Sie nennt sie nur „Lotte“, weil ihr die volle Namensnennung telefonisch verboten wurde.[Fn 31]
Ditte Clemens war die erste Wissenschaftlerin, die Liselotte Strub in Berlin ausführlich als Zeitzeugin befragte. Stalins Lager sind in der Zeit ihrer Interviews noch ein Tabu. „Das weiß Lotte, und sie hält sich mit eiserner Disziplin daran, die ich nicht begreifen kann. Ich respektiere das von ihr ausgesprochene Schreibverbot … und streiche ein Kapitel“.[Fn 32] „Sie sagte mir, dass sie bisher mit niemandem so ausführlich und offen über all die Dinge gesprochen hätte. Nicht einmal mit ihrem Sohn. Sie bat mich nicht nur, dass ich das alles für mich behalten soll, sondern sagte, dass sie mir untersagt, über ihr Leben zu schreiben und ich solle die Sache mit Wolf ruhen lassen, weil es [das Poem, HG] ein Kunstwerk von ihm ist, dass ich nicht zerstören dürfe.“[Fn 33]
Es gelang Ditte Clemens im Rahmen ihrer Ermittlungen sogar im Sommer 1989, auf nahezu abenteuerliche Weise, Markus Wolf zu sprechen. Er versicherte, Lilo Herrmann nicht gekannt zu haben, und rät der Autorin, geduldiger zu recherchieren und mit der Publikation abzuwarten.[Fn 34] Sie befragte ihn auch zu Lotte Rayß und wollte wissen, warum sein Vater sie im Stich gelassen habe. „Er sagte mir, dass in großen bedeutenden Zeiten auch schlimme Dinge geschehen, die man nicht überbewerten darf.“ Diese Antwort ist bezeichnend und entlarvend zugleich, denn sie kolportiert die Wertung der „Sieger der Geschichte“,[Fn 35] dass „höhere Zwecke“ Menschenopfer rechtfertigen.
Ditte Clemens wird kurze Zeit nach diesen Interviews eine Studienreise nach Stuttgart erlaubt, wo sie den Historiker Lothar Letsche (Jg. 1946) trifft, der seit Jahren der Widerstandsgeschichte im Stuttgarter Raum nachgeht und über Liselotte Herrmann forscht. Beide haben nun Gewissheit hinsichtlich der möglichen „Verwechslung“, denn Ditte Clemens hat inzwischen mit örtlicher Hilfe ein noch lebendes Mitglied der Pioniergruppe von Lotte Rayß ausfindig gemacht, die diese erkannte.[Fn 36] In den späteren 1990er Jahren vermittelt Letsche eine langjährige „Brieffreundschaft“ von Liselotte Strub mit Gretel Weber, geborene Kaupp, die ihrer Pioniergruppe angehörte.[Fn 37] Letsche fand noch andere „Gewährspersonen dafür, dass die ‘Pionierleiterin Lilo Herrmann’ eine Legende war.“[Fn 38]
Lother Letsche interviewte dann ab 1992 Liselotte Strub und erhielt von ihr Briefe. Sie belegte ihn aber, wie zuvor auch Ditte Clemens, mit einem „Schweigegebot“.[Fn 39] Letsches „Aufzeichnungen von Gesprächen mit Lotte Rayss“ wurden bisher nicht veröffentlicht. Sie dienten ihm jedoch zum Beleg, dass Wolf bei der Abfassung seines Poems über Liselotte Herrmann stark an Lotte Rayß gedacht haben musste. Diese Identität, eigentlich das Unterschieben einer Biographie in die einer anderen historischen Person durch Wolf, zeigt den ignorierenden Umgang mit Lotte Rayß, die – zur Erinnerung – 1951/1952 noch in der Verbannung zu überleben versuchte.
Die „Vermischung“ wird noch zehn Jahre später so interpretiert, dass es Wolf wegen der politischen Lage in der DDR und wegen seiner soeben beendeten Tätigkeit als Botschafter in Polen (1949–1951) nicht opportun erschien, das Geheimnis um Lotte Rayß zu lüften.[Fn 40] Es wurde aber vor allem Lilo Herrmann Unrecht getan, deren Sohn Walter, in Stuttgart bei den Großeltern aufwachsend, also im Westen lebend, erst mit 57 Jahren den Namen seines leiblichen Vaters Fritz Rau (geb. 1904) erfuhr,[Fn 41] den die Gestapo im September 1933 in Haft totgeprügelt hatte.
Der Durchbruch
Erst nach dem Ende der DDR und der Sowjetunion entstand für Liselotte Strub eine neue Situation. Es setzte, zunächst eher zaghaft, ein gewisses Interesse an ihrer außergewöhnlichen Biographie ein. Reinhard Müller (Jg. 1944) griff als einer der ersten Literaturhistoriker die bei Pike genannte Quelle teilweise auf. Er zitierte aus zwei Briefen Friedrich Wolfs, beide vom Oktober 1937, die Wolf an seine Frau Else schreibt. „Lottes Jugend ist auch zum Teufel.“ Sie lehne seine Mitschuld an ihrem Schicksal ab: „Aber das ist so ein betäubender Heroismus.“[Fn 42]
Lothar Letsche hielt nach den Interviews einige Vorträge und veröffentlichte kleinere Aufsätze zu Friedrich Wolf und Lilo Herrmann. Dort hinein flossen Informationen über das Leben von Lotte Rayß. Spätere Autoren griffen in aller Regel darauf zurück, so dass Letsches Texte selbst zu Quellen wurden. So hielt er am 6. Oktober 2000 einen Vortrag über „Friedrich Wolf – die Jahre in Stuttgart“. Dazu erstellte er eine umfängliche Ausarbeitung, die hier vorliegt. Es ist ihm zu verdanken, dass von nun an das Interesse an Lotte Rayß zunahm, bis dann, eine positive Folge des Forschungsprojekts von Meinhard Stark (Jg. 1955) zu den Gulag-Kindern,[Fn 43] 2013 ein Artikel im „Freitag“ Lotte und Konrad Rayß umfänglicher vorstellte.[Fn 44]
Manuskriptgeschichte
Parallel zu diesen Abläufen intensivierte Liselotte Strub 1998 ihre eigene Erinnerungsarbeit. Ihr in Karaganda in der Verbannung am 28. April 1946 geborener Sohn Konrad Rayß ist heute der Herausgeber ihrer Memoiren. In die Autobiographie wird er mit seinem ursprünglichen russischen Namen Nikolai eingeführt. Namensgebung wie ‑änderung geben Aufschluss über das pragmatische Denken unserer Autorin.
Während ein deutscher Name in Russland nachteilig war, zumal im Gulag, galt Ähnliches für den in den 1950er Jahren – zumal in der DDR – russisch klingenden Namen Nikolai. Schon in ihrem Rückkehrer-Fragebogen (dazu später) nannte Lotte Rayß ihr Kind anders als in der Sowjetunion, nämlich Nikolaus. Als die Mutter es im Oktober 1954, etwa zwei Wochen nach Ankunft in Berlin, als Konrad Rayß in der Schule anmeldet, wurde dies umstandslos akzeptiert. Amtlich erfolgte die Namensänderung erst, als Lotte Rayß fünf Jahre später Richard Strub heiratete. Für die Reise in die Schweiz brauchte sie Papiere für das Kind. Erst da stellte man fest, dass das Kind nicht Konrad hieß. Also beantragte die Mutter eine Namensänderung, die dann beurkundet wurde.
Konrad Rayß erlebte bereits in seiner Jugend „eine kontinuierliche Erzählpraxis seiner Mutter … Anlässlich ihres 90. Geburtstages im Jahre 2002 begann [sie] … ihren Lebens- und Lagerbericht zu schreiben. Das … Dokument wurde zu einer schonungslosen Offenbarung, ohne jede Auslassung und Schönfärberei. Konrad … gab die handschriftlichen Seiten, sobald die Mutter sie abgeschlossen hatte, in den Computer ein und wurde so erstmals mit allen grausamen Details bekannt.“[Fn 45]
Lieselotte Strub versuchte, Dank einer Kontaktvermittlung Letsches, nach der Niederschrift mit Hilfe des Friedrich-Wolf-Forschers Henning Müller (Jg. 1943) eine Publikation zu erreichen. Müller war Anfang der 1990er Jahre, wahrscheinlich auf dem soeben beschriebenen Weg, auf den Namen Lotte Rayß gestoßen, ging aber zunächst, obwohl Pike das Gegenteil schon 1981 veröffentlicht hatte, davon aus, dass der Dichter nichts vom weiteren Schicksal der Lotte wusste.[Fn 46]
Er führte in der Folge eine Reihe von Gesprächen mit Liselotte Strub und erhielt etwa 2005 noch von ihr selbst eine Kopie ihrer Erinnerungen. Er kündigte dann ein Jahr nach dem Tod der Autorin in seiner letzten bekanntgewordenen Publikation 2009 die Veröffentlichung zweier Bücher an.[Fn 47] Es handelte sich hier um bearbeitete Stücke aus seiner am 5. Oktober 1989, zwei Tage vor dem „Republikgeburtstag“ und vier Wochen vor der Maueröffnung, an der „Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED“ verteidigten Dissertation B (Habilitationsschrift).[Fn 48] Müller plante zudem ein drittes Buch. Er hatte die Absicht, die DDR-Erinnerungen von Lotte Strub herauszugeben.[Fn 49] Doch scheiterten in der Folge diese Projekte aus bisher unbekannten Gründen. Müller verließ auch die „Friedrich-Wolf-Gesellschaft“. Leider sind auf den verschlungenen Wegen, mit ihren Erinnerungen umzugehen, auch zahlreiche Fotos aus dem Leben von Lotte Rayß und Abbildungen einiger ihrer Kunstwerke verloren gegangen, die sie ihrem Nachlass anvertraute.[Fn 50]
Im Jahr 2015 erschien die bisher einzige, reich bebilderte, achtzigseitige Publikation über Lotte Rayß von Hans-Joachim Seidel (Jg. 1941), Professor für Arbeitsmedizin in Ulm. Die Schrift ist das Ergebnis von Recherchen und Gesprächen über den Teil der vorliegenden Memoiren, der sich mit ihrer geheimnisumwitterten Jugendarbeit bei den „Bündischen“ befasst, bei denen Lotte versuchte, sie auf kommunistische Seite zu ziehen, wohl im Auftrag der KPD, vermittelt über Friedrich Wolf. Der Text legte erstmals weitere Details aus ihrem Leben offen.[Fn 51] Der Autor geht den Lebensspuren seines Vaters Hans Seidel (gest. 1969) nach, die auf Lotte Rayß verweisen. Hans Seidel war damals Medizinstudent. Er konnte 1933, nach einer KZ-Haft, sein Studium beenden und wurde Arzt.
Kindheit und Jugend
Der Vater von Lotte war Martin Rayß (1874–1921), ein Architekt und Dozent für Baukunst. Er verstarb früh nach langer Krankheit an einem Gehirntumor, nachdem er die letzten sechs Jahre in einer Nervenheilanstalt verbrachte. Über ihn kursierten im Familienkreis abenteuerliche Geschichten, etwa über eine Reise ins revolutionäre Russland 1905, aber all dies ist nicht mehr verifizierbar. Bei seinem Tod war Lotte Rayß neun Jahre alt, der Bruder etwas älter, die Schwester etwas jünger. Die Kinder wuchsen ab 1915, Lottes drittem Lebensjahr, in Stuttgart auf. Sie wohnten mit ihrer Mutter Laura (gestorben 1963) in deren schwäbischer Familie bei einer Tante. Sie bekam Klavierunterricht, lernte gut zeichnen.
„Jeden Abend saß ich auf dem Fußschemel in der Küche, um für alle die Schuhe zu putzen. Angetan war ich mit einer Quäkerschürze, die mir – viel zu groß – bis auf die Schuhe hing. Die Familie saß inzwischen gemütlich im Wohnzimmer um den Tisch.“ [40] Gewöhnlich kam ihr Onkel Wilhelm in die Küche, kritisierte ihre Arbeit, um sich an ihr sexuell zu vergehen. „Er riss mich vom Schemel hoch, streifte die Schürze ab, schob mein Kleid hoch und zog mir die Höschen hinunter. Mein Gesicht drückte er gegen seinen ausgebeulten, harten Hosenschlitz, dann fuhr er mit der Hand ganz sanft von unten nach oben über meinen Po – und dann schlug er hart und fest drauf. Dies wiederholte er noch und noch, dann stieß er mich zurück und lief davon.“ [40 f.]
Das Mädchen erfuhr in ihrem Stuttgarter Zuhause nicht nur solche Widerwärtigkeiten, sondern generell wenig Zuwendung. Besonders war sie der tyrannischen Großmutter und deren religiös motivierter Herrschaft nahezu hilflos ausgeliefert, ebenso später ihrem Bruder. Sie ist in deren Augen das „Aschenputtel“, eine Außenseiterin, Ketzerin, ein Objekt ihrer Gewalt- und Sexualphantasien.[Fn 52] Sie bekommt wieder und wieder die „Lederknute mit den sieben Riemen zu spüren“. [45]
Ihr Bedürfnis nach Selbstbestimmung erscheint als Trotz. Sie erduldet zunächst alles, so auch ein künftiges Verhaltensmuster, um dann nahezu explosionsartig nach Lösungen zu suchen. Lotte fragt sich durch zum Vormundschaftsamt. „Die Männer grinsten. Das gehöre doch zur Erziehung, sonst werde aus uns Kindern nicht Gescheites.“ [48] „Da packte mich die Wut, ich riss meine Bluse von der Schulter, zeigte ihnen die blutigen Striemen der Knute.“ [49] So erhält sie dann doch einen Vormund.
Doch weiterhin wird von der Familie versucht, ihr jeden Widerstand durch totalitäre familiäre Autorität auszutreiben. Das befördert ihren Wunsch, auszubrechen, und ihre Hinwendung zur Kunst als einem Hilfsmittel zur Ich-Identität, zur inneren Stabilität und zu einer eigenen Art der Lebensgestaltung zu finden.
Dieses freidenkerische Bewusstsein eigener Würde wird später mit Hilfe von Friedrich Wolf ausgebaut und durch ihre Pionierleitertätigkeit befestigt, so dass sie rückblickend schreibt: „Ich gehörte ihm. Es war eine schöne Zeit. Und ich tat alles, um was er mich bat, war dabei bemüht, es in seinem Sinne bestens auszuführen. Jetzt sollte ich nach seinem Wunsch ‘Pionierleiterin’ werden, Kinder der zur ‘Internationalen Arbeiterhilfe’ gehörenden Organisation betreuen.“ [83]
Diese zunehmend selbständige Haltung, bei aller unkritischen Nähe zu Wolf, bekommt Bestand und lässt Lotte Rayß später die finstere russische Nacht überstehen, wo sie – wie ihre Mithäftlinge – entpersonalisiert werden soll. Das gelingt jedoch ihren Peinigern nicht. Der schwere Weg zur Personalität wie zu ihrer Selbstsorge wird in der Autobiographie nachvollziehbar beschrieben.
Doch vor dieser Befreiung der jungen Frau und vor der Bekanntschaft mit Wolf wird das Fräulein Rayß 1927 von einem Kunstmaler, dem zehn Jahre jüngeren Freund der Tante, vergewaltigt. Die Mutter nimmt das Kind von der Schule und steckt es in eine Fabrik. Die Metallfabrik ‘Knecht’ lag direkt gegenüber der hinteren Seite der Wilhelma. Der Eingang in den Park war nicht verschlossen, und auf einer nahen Bank aß ich in der Mittagspause stets mein mitgebrachtes Brot.“ [57]
Lotte Rayß wird sie vom Firmenchef als Produktgestalterin entdeckt und gefördert. „‘Haben Sie Zeichnungen zu Hause? Mitbringen!’ … Die Folge war, dass der künstlerische Leiter, ein Familienvater, entlassen wurde. Nun arbeitete ich an den Entwürfen und an den Katalogen allein da oben unterm Dach. Da war ich sechzehn Jahre alt.“ [58]
Doch dann ging es der Firma schlechter. Man schrieb das Jahr 1928, Beginn der großen Weltwirtschaftskrise. Sie muss als Löterin in die Fabrikhalle, dann als Metallmalerin, Fräserin … bis der Betrieb in Konkurs geht. „Alle Arbeiter standen vor dem Eingang. Man ließ uns nicht hinein. Auf den Stufen davor stand die Angestellte vom Lohnbüro: ‘Die Firma ist bankrott, es gibt keine Arbeit.’“ [59] Ihren letzten Lohn kassiert die Familie.
Lotte Rayß beschreibt die Machtlosigkeit des Arbeitsamtes. „Die Beamtin … eröffnete mir nach mehreren vergeblichen Besuchen: ‘Ich habe da etwas. Eine Stelle als Geschirrspülerin im Feinkostgeschäft >Böhm<. Alle Mädchen und jungen Frauen haben diese Arbeit bisher abgelehnt.’ ‘Ich nehme die Stelle’, sagte ich entschlossen.“ [60] Es war eine schwere und auch unappetitliche Arbeit in einer feuchten Küche, die im Keller lag. liege. Auch hier steigt sie nach einer längeren Leidenszeit auf: „Als der Juniorchef meine kreativen Fähigkeiten entdeckte, holte er mich aus dem Keller hinauf: Ich sollte jetzt die Schaufenster dekorieren und Geschenkkörbe arrangieren.“ [62]
Bei den Firmen „Knecht“ und „Böhm“ verrichtet Lotte Rayß zahlreiche schwere, ungelernte und schlecht bezahlte Lohnarbeit. Sie zeigt ihre rasche Auffassungsgabe und die Fähigkeit, als Arbeiterin zu funktionieren, sich schnell und klaglos an neue technische Anforderungen anzupassen. Auch ihre künstlerische Begabung fällt auf und wird genutzt. Diese Eigenschaften werden ihr später im Gulag mehrmals das Leben retten.
Nebenbei malt sie der Künstler weiter als Akt – und missbraucht sie regelmäßig. Das Ganze entpuppt sich schließlich als Intrige von Mutter und Großmutter, Lotte Rayß zwangszuverloben, um die ungeliebte Esserin aus dem Haus zu bekommen. Auf dieses damals übliche Frauenschicksal muss sie sich einlassen, darf aber im Gegenzug auf die Kunstakademie und bekommt ein kleines Stipendium. Doch ihr Verlobter ist ein Sadist. Letztlich scheitert der Coup am Willen der Betroffenen, die ihre eigenen Wege geht.
An einer Schneidemaschine im Feinkostgeschäft „Böhm“ verletzt sich Lotte am linken Zeigefinger, die Wunde heilt nicht, der Kassenarzt will amputieren. „Da fiel mir ein Arzt ein, der gegen chirurgische Eingriffe war. In Stuttgart wurde viel von ihm gesprochen. In Schaufenstern hatte ich Broschüren gesehen, die dieser Arzt verfasst hatte. Unüblich schon der weiße Einband, die Schrift blau oder auch rot. Diese Broschüren wirkten auf mich so rein und jung – und ungewohnt modern. Ein Titel war ‘Der schwache Punkt der Frau’ und ein anderer Titel, den ich witzig fand, ‘dein Magen – kein Vergnügungslokal’.“ [63] Lotte Rayß sucht 1928 den Arzt Friedrich Wolf auf.
Die „schöne Zeit“
Friedrich Wolf, Spross einer jüdischen Kaufmannsfamilie, ein geborener Rheinländer und inzwischen „Wahlschwabe“, humanistisch gebildet, Vegetarier, Nichtraucher und Abstinenzler,[Fn 53] Homöopath und Körperkultpfleger, seit 1913 „Dissident“,[Fn 54] war damals vierzig Jahre alt und bereits ein bekannter linker Dramatiker. Er lebte das Motto: „Licht an den Körper und in die Köpfe“. Viele seiner Naturheilschriften waren sehr populär und die Themen sind heute im Rahmen einer „Alternativmedizin“ wieder gefragt. Mit einigen seiner Schriften käme er allerdings heute, milde formuliert, in Konflikt zur „Schulmedizin“.[Fn 55]
Wolf vollzog, beschleunigt durch seine Erlebnisse als Schiffs- und dann als Truppenarzt im Krieg, eine totale Kehrtwende vom bürgerlichen Mediziner zum kommunistischen Dichter. Man kann Wolf – er war ein „Wandervogel“ und als solcher Teilnehmer der großen Jugendkundgebung 1913 auf dem Hohen Meißner[Fn 56] –, zum einen als einen Erben der „Lebensreformbewegung“ des beginnenden 20. Jahrhunderts sehen.[Fn 57]
Zum anderen ähnelt seine persönliche Wende in vielem der des Schriftstellers, Politemigranten in Moskau und späteren SED-Kulturfunktionärs Alfred Kurella (1895–1975).[Fn 58] An diesem Typus wollte der Sozialwissenschaftler Max Weber (1864–1920) nie begreifen, dass sie „jugendbewegt mit dem Zupfgeigenhansl aus dem Industriezeitalter herausmarschieren und sich zugleich noch zum marxistischen Flügel der Sozialdemokratie zählen konnten.“[Fn 59] Ihnen gemeinsam wurde ein Glaube an die Ideale des Kommunismus und die Oktoberrevolution in Russland.
„Kürschners Deutscher Literatur-Kalender“ von 1932 listete für Stuttgart 121 Schriftsteller auf,[Fn 60] neben Friedrich Wolf zwei weitere, die bekanntermaßen der KPD angehörten: Max Barth (1896–1970; genannt „Bufti“ bzw. „Mufti“) und Gregor Gog (1891–1945; Gründer der „Bruderschaft der Vagabunden“), der 1945 in Taschkent an den Folgen seiner langjährigen Wirbelsäulentuberkulose starb. Gog sollte als Nachfolger von Johannes R. Becher in Moskau die Zeitschrift „Internationale Literatur“ übernehmen. Seine Frau war bis 1934 Anni Geiger-Gog (1897–1995; „Hanne Menken“). Sie und er waren unmittelbar nach dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 verhaftet, gefoltert und in Konzentrationslager gesperrt worden, sie freigelassen, er floh.
Gog und Geiger-Gog zählten in Stuttgart zum Freundeskreis der Wolfs. In dieser Kulturszene besaß Wolf einen herausragenden Status.[Fn 61] Diesen hat er aber auch als Mediziner bei den gelangweilten, zahlungskräftigen Großbürgerfrauen, mit denen sich seine Gattin regelmäßig im Stuttgarter Schloßgarten zu Kaffee und Kuchen traf, mit denen sie Gesellschaften pflegte.
Als Lotte Rayß dem Dichter Friedrich Wolf 1928 in dessen Praxis als „Arzt für Naturheilkunde & Homöopathie“ begegnete, war er gerade nach Stuttgart umgezogen, des Publikums, der Kundschaft, der Theater, der Bibliotheken, der Partei und weiterer Gründe wegen, darunter, dass seine Frau sich nicht langweilt. Die Wolfs waren und wurden nie arme Leute.
Nach mehreren Krankenbesuchen in der kurz zuvor eröffneten Praxis wurde die 16-jährige Kunststudentin Lotte Rayß seine Geliebte: „Er hatte die Liebe zu meinem Vater während meiner ganzen Kindheit abgelöst.“ [105] Friedrich Wolf war zu dieser Zeit bereits sechs Jahre mit der Kindergärtnerin Else Wolf (1898–1973; geborene Dreibholz) in zweiter Ehe verheiratet. Diese Ehe hielt ein Leben lang und Else Wolf die Kernfamilie zusammen, was immer auch in seinen zahlreichen offenen Liebesverhältnissen und politischen Affären geschah. Seine Frau wusste, „dass Du das brauchst“. Wolf besaß für sexuelle Abenteuer von ihr eine Art „Freibrief“.[Fn 62] Sie selbst hatte Lotte Rayß 1928 prophezeit: „Heute sind’s Sie, morgen ein anderes kleines Mädchen.“
Auch in diesem soeben angeführten Billett vom 16. Juli 1932 ging es um Lotte Rayß, weil Else Wolf feststellte, dass hier wohl mehr gegenseitige Anziehung im Spiel war als sonst, vor allem, dass sich eine intensive Arbeitsbeziehung anbahnte, wie etwa bei den gemeinsamen Recherchen zum Stück „Bauer Baetz“, für das sie zu zweit weit reisten. Sie tippte das ganze Stück in die Schreibmaschine, die zu schreiben sie extra für ihn erlernte. „So wurde ich auch mit dem gesamten Text des ‘Bauern Baetz’ bekannt. Das Werk war vollendet. Eine Arbeiterlaiengruppe in Rohracker, unweit von Stuttgart, sollte es aufführen.“ [96] Wegen dieser Arbeit trafen sie sich täglich.
In dem oben genannten Brief legte Else Wolf bei aller Toleranz fest, dass es für sie nie eine „Freundschaft zu dritt“ geben könne – was dann nach 1933 in Moskau trotzdem eintrat und viel erklärt im komplizierten Verhältnis der beiden Frauen.
Um die damaligen Auffassungen der Wolfs und vieler linker Gleichgesinnter besser zu verstehen, ist die Gleichzeitigkeit von sich ausschließenden Familienbildern in der Gesellschaft zu sehen, zum einen die vorherrschenden konservativen Vorstellungen von Ehe, Moral und Sexualität, wie sie auch Lotte Rayß zu Hause vorfand; und zum anderen die alternativen, sehr freizügigen, lebensreformerischen Verhaltensweisen, die in einigen kommunistischen Intellektuellenkreisen gelebt und propagiert wurden, von der „sexuellen Freiheit“ über die „Auflösung der Familie“ und der „Gemeinschaftserziehung“ der Kinder bis zur „Vergesellschaftung der Frau“.
In einer solchen „Gemeinde“, der Siedlung Barkenhoff in Worpswede bei Heinrich Vogeler (1872–1942), hatte Wolf seine spätere Frau Else 1921 kennengelernt und ihr beigebracht, dass Kommunisten vorurteilsfrei und großzügig leben, aber dann auch gelernt, dass ein „Kommunismus zu zweien“ weniger nervt als das Leben in einer Großkommune.[Fn 63] „Sie der Hafen, er der Umgetriebene, der stets hinaussegelt zu anderen Ufern – so wird es bleiben bis zu seinem Tod (1953), vor dem er ein halbes Jahr vorher wieder Vater geworden ist – wie im Fall L. und manches Mal dazwischen.“[Fn 64]
Gemeint ist Lotte Rayß. Vorher zitiert die Autorin aus einem Brief an Else vom 15. April 1932: „Daß ich L. liebgewonnen habe, hängt zum Teil damit zusammen …daß ich Dich sehr liebhabe“. Die Autorin Ursula Schmidt-Goertz durfte zu DDR-Zeiten im Friedrich-Wolf-Archiv an den Quellen forschen. Das Ergebnis ist ein im Persönlichen sehr erhellender, wenn auch etwas zu stark glorifizierender Aufsatz in einem Heimatkalender über Else Wolf, der allerdings die politischen Dimensionen entweder nicht erkennt oder nicht darlegt.
Wolf Jahr 1928 im Zuge seiner Übersiedlung nach Stuttgart, wenige Zeit, bevor er Lotte Rayß kennenlernte, der KPD beigetreten und wurde ein vorzeigbarer Kommunist, ein gutes Aushängeschild für die Partei vor Ort und deutschlandweit. Das hat ihm auch geschmeichelt. Er wurde parallel dazu Mitglied des „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ (BPRS) und verfasste die Streitschrift „Kunst ist Waffe“.[Fn 65] Die Losung war – entgegen der Wirkung des Buches – eher umgekehrt gedacht: Wolf versuchte, den ästhetisch wenig geschulten Funktionären der KPD zu erklären, dass Kunst nicht nur eine besondere, sondern überhaupt eine Waffe sein könne. Auch das sehr erfolgreiche naturheilkundliche Volksbuch mit dem Titel „Die Natur als Arzt und Helfer“ erschien erstmals 1928.[Fn 66] Wolf gründete außerdem die Sektion Stuttgart des „Volks-Filmverbandes“.
Zu den politischen Verwicklungen Wolfs zählt besonders sein öffentliches Eintreten für die Abschaffung des Paragraphen 218, der Abtreibungen unter strenge Strafe stellte und Ärzte mit Berufsverbot bedrohte. Else Kienle (1900–1970), die ebenfalls in Stuttgart praktizierte, wurde wegen ihres Engagements als Sozialmedizinerin und wegen ihres Eintretens gegen das Abtreibungsverbot bekannt.
Am 19. Februar 1931 erging ein Haftbefehl gegen sie und Friedrich Wolf, von dem es inzwischen das Stück „Cyankali. § 218“ und seit Mai 1930 den gleichnamigen Spielfilm gab. In ihrer Autobiographie berichtet sie: „Der Zufall wollte es, dass ich ausgerechnet an diesem Abend in einem Freidenkerverband einen Vortrag über den § 218 halten musste. Ich war grade im Begriff, zu diesem Vortrag zu gehen, als ich beim Verlassen der Haustüre vom Garten aus die Kriminalbeamten die Treppe herabkommen sah“.[Fn 67]
Wolf wurde kurzzeitig verhaftet und der gewerbsmäßigen Abtreibung beschuldigt. Nach Protesten kam er frei und sprach im April 1931 im Berliner Sportpalast auf einer Großkundgebung. Im Mai des gleichen Jahres reisten Wolf und Kienle auf Einladung sowohl des Ärzte- als auch des Schriftstellerverbandes mehrwöchig in die Sowjetunion. Es war seine erste Fahrt dorthin,[Fn 68] die zweite erfolgte im Oktober/November 1932, unter anderem zur Aufführung von „Matrosen“ und zum Plenum des „Internationalen Arbeiter-Theater-Bundes“.
Derweil vertrat Lotte Rayß in Stuttgart und Umgebung einige seiner künstlerischen Interessen. Sie leitete zudem eine Pioniergruppe der KPD-nahen „Internationalen Arbeiterhilfe“ und kümmerte sich intensiv um Wolfs Söhne Markus (in der Sowjetunion: „Mischa“) Wolf (1923–2006), den späteren Chef der DDR-Auslandsspionage, und Konrad Wolf (1925–1982), den berühmten Filmregisseur und Präsidenten der Akademie der Künste der DDR von 1965 bis zu seinem Tod. „Die beiden Buben kamen oft zu mir. Wir nahmen dann die Matratze aus meinem Bett heraus, zogen eine Schnur quer durch mein Zimmer, legten meine Decke darüber und spielten Camping. Mindestens zweimal in der Woche ging ich mit Markus und Konrad ins Mineralbad ‘Neuner’“. [83]
„Auch Wolf schickte seine Kinder zu den ‘Pioniernachmittagen’.“ [84] In der Pioniergruppe ließ ich „meine Schützlinge zeichnen, malen und basteln. Wir machten Spiele, die ich selber meist in Kinderferienheimen kennengelernt hatte, sangen Volkslieder, die man auch in der Schule singt. Proletarische Lieder kannte ich nicht. Ich versuchte auch, mit den Kindern zu musizieren.“ [84] Eine Instruktion, was sie tun sollte, gab es nicht. Lotte Rayß setzte ihre Tätigkeit als Pionierleiterin in Botnang auch nach dem Verbot kommunistischer Organisationen nach dem Reichstagsbrand 1933 fort. Doch wurden sowohl die Kinder- wie die Jugendgruppen nach und nach durch Ausschaltung des Führungspersonals und durch Verrat, Druck und Verlockungen von den Nazis übernommen und in die „Hitler-Jugend“ (HJ) überführt.
Lotte Rayß war im Zusammenhang mit ihrer Pionierleitertätigkeit der „Internationalen Arbeiterhilfe“ (IAH) beigetreten. Dort leitete sie nicht nur die Botnanger Pioniergruppe, sondern gehörte auch einer „Kommission zur Prüfung der Wohnverhältnisse der Arbeiter“ an. 1931 trat sie dem „Roten Frontkämpferbund“ (RFB) bei, der 1932 reichsweit verboten wurde.[Fn 69]
Vor allem unterstützte sie Friedrich Wolf in der Direktion der Theatergruppe „Spieltrupp Südwest“ bis zu deren Verbot 1933. „‘Agitprop’ … war ein Kunstwort aus den Wörtern Agitation und Propaganda und bezeichnete einen zentralen Begriff der kommunistischen politischen Werbung. … Vom ersten bis zum letzten Tag des Bestehens der Gruppe war ich bei jeder Probe dabei. … Die Stücke, die zur Aufführung kamen, schrieb Wolf natürlich selbst: ‘Wie stehn die Fronten?’ und ‘Tai Yang erwacht’. Er gab mir für „Tai Yang erwacht“ auch den Auftrag, die chinesischen Masken für die Spieler anzufertigen. Ich entwarf die bescheidenen Kostüme, sofern sie für ein Stück nötig waren. Ich lernte Trommeln, denn bei den Sprechchören wollte Wolf eine rhythmische Begleitung. Ein Kriegsveteran gab mir im Wald Unterricht.“ [87]
Lotte Rayß schrieb nun auch erste eigene Texte und Szenen und führte, so auch bei „Bauer Baetz“ (Uraufführung in Rohracker am 3. Dezember 1932 durch den Spieltrupp „Rot Sport“ des dortigen Turnerbundes), teilweise Regie. In ihrer Autobiographie gibt sie umfassend Auskunft – immer aus der Sicht einer Friedrich Wolf liebenden Frau und Muse, die ihm alles abnimmt, was diesen rastlosen Menschen beim Arbeiten stören könnte.[Fn 70]
Nach seiner Rückkehr von der zweiten Sowjetunionreise überschlugen sich die Ereignisse. Zum einen wurden die künstlerischen Aufführungen bedroht, untersagt, nur unter Auflagen zugelassen, durch Nazis und Klerikale gestört; und zum anderen wurden die Inhalte und Darstellungen im Rahmen der radikalen „Einheitsfrontpolitik“ der KPD immer agitatorischer. Sie folgten der Linie der KPD-Führung mit ihrer Front gegen den „Sozialfaschismus“, also die SPD.
Auf dem Weg dahin verbündete sich die KPD mit allen, die dem Kapitalismus und dem Bürgertum schaden könnten, weil sie Leidtragende der gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Auch Wolf ist hier eins mit seiner Partei. Schon im Juni 1923 hatte das IX. Plenum des „Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale“ (EKKI) in Sachen „Einheitsfrontpolitik“ vorgegeben, die Hauptaufgabe der Kommunisten sei die „Organisierung der Unorganisierten“.[Fn 71]
1924 sprachen Sinowjew und dann wenig später Stalin erstmals davon, Sozialdemokratie und Faschismus seien „Zwillingsbrüder“. In der Ausformung dieser Politik hin zu einer weiteren Linkswendung ab 1928 wuchs aus dieser These, strukturell bedingt, weil die meisten Arbeiter in sozialdemokratischen Gewerkschaften, Verbänden und Kulturvereinen organisiert waren, die Sozialfaschismustheorie. Im Juni 1929, auf dem 12. Parteitag der KPD, und dann im Juli 1929, auf dem 10. Plenum des EKKI, war daraus bereits die kommunistische Grundwahrheit geworden, in der SPD eine sozialfaschistische Partei zu sehen, die gefährlicher sei als die Nationalsozialisten.
Diese Linie transportierte auch der. So lautete der Titel seines Auftrittsliedes bezeichnenderweise „Klasse gegen Klasse“. In der letzten Strophe hieß es:
„Hart ran, Prolet!
Die Opfer von Noske bis Severing mahnen:
Her zu uns unter Lenins Fahnen!
Brecht durch den faulen Nebel eine Gasse!
Her zu uns, her zu uns, zur Front der Arbeiterklasse!“[Fn 72]
Solchen Analysen der Texte und ihre Einordnung in eine Parteipolitik stand Lotte Rayß fern. Für die junge, liebende Frau war ihr Engagement in der Pionierarbeit und im „Spieltrupp Südwest“ wichtig, „weil ich so in seiner Nähe sein, ihn anschauen konnte.“ [87] Um umgekehrt die Anziehungskraft zu verstehen, die Lotte Rayß auf den Mann und Schönheitsfanatiker Friedrich Wolf ausübte, genügen Blicke auf damalige Fotographien von ihr, besonders das Porträtfoto, das ihr Gesicht in Licht taucht, dadurch das Profil hervorhebt, das auf Wolfs besonderen Wunsch im Juni 1933 hergestellt wurde und das nun auf dem Cover ihrer Memoiren abgebildet ist. Da war sie bereits von ihm schwanger.
Lotte Rayß berichtet in ihren Erinnerungen vom Entstehen des Fotos. Das alles spielte sich in einem Fotoatelier in Stuttgart ab. Der Fotograph war Jude. Er flüchtete im Herbst 1934. Sein Geschäft wurde von der SA verwüstet und von den Nazis ausgeraubt. Dabei fiel ihnen wohl das Bild in die Hand. Es wurde dann Ende 1934 im antijüdischen Hetzblatt von Julius Streicher veröffentlicht, als Beispiel für eine schöne deutsche Frau, ohne Namensnennung. Nicht auszudenken, wenn dieses „Stürmer“-Bild dem NKWD oder später der Staatssicherheit in die Hände gefallen wäre.
Nach dem Reichstagsbrand begleitete Lotte Rayß Friedrich Wolf am 29. Februar 1933 mit der Eisenbahn ins Exil. Sie machten zunächst auf einer Berghütte in Schruns (Vorarlberg) Station. „Wolf hatte im Rucksack seine Schreibmaschine mit ins Exil genommen. Er saß in der Skihütte, schrieb täglich an einer Abhandlung, seine Einschätzung zum Reichstagsbrand: ‘Der Reichstag brennt!’ [Fn 73] Ich war beeindruckt von Wolfs Arbeit, von seiner Einschätzung, wozu der Reichstagsbrand inszeniert worden war.“ [105]
„Kurz darauf kam Else zu uns in die Hütte. Wir hausten dort nun zu dritt. Ich kochte für uns. Zum Schlafen drückte ich mich ganz hinten an die Wand.“ [106] Nach einem bösen Streit mit seiner Frau [vgl. S. 106], erklärte sich Lotte Rayß zur Rettung der Kinder bereit. Dann reiste er nach Paris, die Frau zu ihren Eltern und sie zurück nach Stuttgart, um die Söhne Markus und Konrad in Sicherheit zu Bauern aufs Land zu bringen und sie dort zu betreuen.
Sie hört von einer dramatischen Geschichte über einen jüdischen Arzt in Deutschland und beginnt selbst, an einem Theaterstück zu schreiben. „Da war der jüdische Arzt; da war seine ‘arische’ Frau, die ich genau dasselbe sagen ließ, was Else auf der Schrunzer Hütte zu ihrem Mann gesagt hatte: ‘Das war mein größter Fehler: einen Juden zu heiraten!’“ [119] Schließlich fuhr Friedrich Wolf mit Lotte Rayß nach Rapperswil (Zürichsee). Dort eröffnete sie ihm: „‘Wolf ! Ich habe ein Geschenk für dich, eine Überraschung.’ Ich holte mein Manuskript hervor, gab es ihm. Er las, las noch einmal. Interessiert ließ er sich von mir die ganze Geschichte berichten, die Geschichte von diesem traurigen Mann und seinem besten Freund, dem jüdischen Arzt.“ [120]
Sie arbeiteten nun gemeinsam an seinem Drama „Professor Mamlock“, das er dann in Frankreich fertigstellte, da sein Gastaufenthaltsrecht in der Schweiz abgelaufen war. Ein dauerndes Gastrecht hatte Wolf mit einer scharfen Rede für Abtreibungserlaubnisse auch in der Schweiz verwirkt.
Lotte Rayß kehrte kurz nach Stuttgart zurück (wo dieses oben erwähnte Foto entstand) und folgte ihm dann nach Frankreich, von wo sie aber von ihm wegen entstandener Probleme mit Else Wolf abgeschoben wird und über Paris und Stuttgart Aufnahme in der Schweiz in der Familie von Walter Strub findet, der vielen deutschen Emigranten bei ihrer Flucht vor dem Naziregime half.
Davor war sie in Stuttgart vor einer Verhaftung gewarnt worden und musste nun selbst ins Exil, so dass es sinnvoll ist, den Beginn ihres Exils auf den Juli 1933 festzulegen. Dafür sprechen auch einige Hinweise der Autorin in ihren Memoiren.
Auch der aktive Beitrag von Lotte Rayß im beginnenden Widerstandskampf gegen die Nazis ist weitgehend unerforscht und infolgedessen ungewürdigt. Im RFB, den sie in den Memoiren nicht erwähnt, gab es gewöhnlich eine Einführung in die Untergrundarbeit. Sie nahm im Januar 1933 an einer illegalen Pionierleiterschulung im Bocknanger Wald teil. Lotte Rayß agierte nachweislich ihres Rückkehrer-Fragebogens mehrfach im Auftrag des im Untergrund tätigen KPD-Funktionärs Anton Ackermann (1905–1973; eigentlich Eugen Hanisch), dem späteren führenden SED-Politiker (Stichworte: „Gruppe Ackermann“ im Mai 1945, „deutscher Weg zum Sozialismus“). Sie schmuggelte auf gefährlichen Wegen an der deutsch-schweizerischen Grenze Geld, Flugblätter und Zeitungen („Süddeutsche Arbeiterzeitung“).
Wenn man dies berücksichtigt, wird die in den Memoiren geschilderte, gut vorbereitete Aktion ihrer „Jungs“ als einer antifaschistischen Widerstandsgruppe von Jungkommunisten, auf dem Schornstein der Cannstadter „Kodak-Werke“ eine rote Fahne zu hissen, nachvollziehbar [vgl. 109 f.]. Von Erfahrungen in der Konspiration zeugt vor allem, wie letztlich routiniert sie das verteilte und verpackte Wolf-Archiv in Stuttgart einsammelte und in die Schweiz verbrachte.
Das alles wird von der politischen Polizei nicht unentdeckt geglieben sein. Belegt wird dies durch die versuchte, ansonsten unübliche direkte Übergabe von Lotte Rayß und ihrem Neugeborenen an die Gestapo durch die Schweizer Behörden in deren Diensträumen, die nur durch ihre Geistesgegenwart scheitert. „Was ich sah, erfasste ich sofort: Ein SS-Offizier war im Zimmer! Entsetzt ergriff ich die Flucht … Vor dem Polizeirevier stand eine schwarze Mercedes-Limousine. An ihrem Steuer saß ein zweiter SS-Mann, der eine Zeitung las.“ [156] Von hier an war klar, sie konnte nicht in der Schweiz bei den Strubs bleiben.
Walter Strub, ihr Vertrauter in der Schweiz, wurde 1882 in einer Lehrerfamilie geboren und starb im Sommer 1938.[Fn 74] Er ist der Vater von Lotte Rayß‘ späterem Ehemann Richard Strub. Ein weiterer Sohn, Heiri Strub, war ein politisch aktiver Baseler Künstler, der 2014 im Alter von 97 Jahren starb. 1908 heiratete der Jurist Walter Strub Margrit Saxer, eine Meteorologin, die 1909 promovierte. Ab 1910 war er kantonaler Gewerbeinspektor von Basel-Stadt. In dieser Funktion verbesserte er die Schweizer Arbeiterschutzgesetzgebung und setzte sich für die Reglementierung der Lehrlingsausbildung ein. Von 1910 bis 1919 arbeitete er als Zivilrichter, war 1914 bis 1923 und 1938 Baseler Grossrat. 1933 wurde Walter Strub von Regierungsrat Carl Ludwig offiziell verwarnt, weil seine Familie deutsche Kommunisten beherbergte.
Früh war Strub Sozialdemokrat geworden und hatte 1921 die „Kommunistische Partei der Schweiz“ mitgegründet, woraus sich für ihn zahlreiche berufliche Schwierigkeiten ergaben. Weitgehend ihm zuzuschreiben ist das erste kantonale Feriengesetz von 1931. Im Zusammenschluss mit den Gewerkschaften versuchte er, die 48-Stundenwoche mit allen Verordnungen einzuführen. Für die Unternehmen war er oftmals ein „rotes Tuch“, besonders weil er eine Färberei zum Einbau teurer Entlüftungsanlangen zum Schutz der Arbeiter zwang, nachdem er persönlich das Raumklima in den Fabrikräumen gemessen hatte.
Die Hilfe für Friedrich Wolf und Lotte Rayß entsprang seinen politischen Überzeugungen und ästhetischen Neigungen. So brachte er in den späteren 1920er Jahren den jungen sowjetischen Film nach Basel und bewarb und vertrieb die Bücher des kommunistischen „Malik-Verlages“ (1916–1947) von John Heartfield (1891–1968). Ein weiteres Feld seiner Aktivitäten war die Verbreitung der Psychoanalyse und ihre Anwendung in der Arbeiterbewegung, wozu er auch publizierte. Dieses Interesse stellte bei den Kommunisten eine absolute Ausnahme dar.[Fn 75]
Exil in der Sowjetunion
Am 21. Februar 1934 wurde in Zürich die mit Friedrich Wolf gemeinsame Tochter Lena geboren. Wolf lebte da schon im sowjetischen Exil. Lotte Rayß folgte dem Vater ihres Kindes am 2. Mai 1934 nach Moskau, wurde im Zug ausgeraubt und hauste mit Lena vier Monate lang in den beengten Verhältnissen der Zweizimmerwohnung der vierköpfigen Familie Wolf, also mit dessen Ehefrau unter einem Dach. Danach ging sie zum Lehrerstudium nach Engels – und zwar auf direkten Befehl der Krupskaja.
Fremdgehen wurde in der Partei zwar geduldet, wenn es diskret ablief, die Familienverhältnisse als für „in Ordnung“ und „sauber“ angesehen wurden, vor allem nicht zu erwarten war, dass die Ehefrau sich an die Partei wendet, damit diese ihre Probleme löst. Aber jedes Durcheinander ließ das Ansehen des „Übeltäters“ rapide sinken, bot, wie es dann hieß, dem Klassenfeind Angriffsflächen, öffnete auch sonst Tür und Tor für Verleumdungen.
Das Liebespaar Wolf-Rayß hatte wohl Angst und beide berechtigte Sorgen, dass der bekannte Dichter sein breites Ansehen in der Sowjetunion verlieren und sich und seine Freunde in Gefahr bringen könnte. So hat im konkreten Fall von Lotte Rayß wohl die Partei- und Staatsmacht „vorsorglich“ in Gestalt von Lenins Witwe eingegriffen und den Wegzug aus Moskau veranlasst.
Engels, bis 1931 Pokrowsk, eine ehemalige Kosakenstadt an der Wolga, 850 Kilometer südlich von Moskau gegenüber Saratow im europäischen Teil Russlands gelegen, war von 1924 bis 1941 die Hauptstadt der „Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“ (ASSRdWD). Es gab dort das „Deutsche Staatstheater“ mit 800 Plätzen, in dem zu dieser Zeit unter anderem Erwin Piscator (1893–1966), Bernhard Reich (1892 [1894?]-1972), Curt Trepte (1902–1990) und Maxim Vallentin (1904–1987) inszenierten und auftraten. Das Theater wurde vor allem von deutschen Laienspielzirkeln mit wechselndem Personal bespielt. Stücke von Wolf kamen zur Aufführung und er öfters nach Engels.
Vor und nach ihrer Trennung von Friedrich Wolf unterstützte Lotte Rayß die künstlerische Arbeit am Theater in Engels. Sie arbeitete in einem Verlag als Lektorin, wurde gut bezahlt, konnte freiberuflich hinzuverdienen, kaufte sich ein kleines Haus, eher eine Hütte nach hiesigen Maßstäben. Als Lotte Rayß in Engels eintraf, besaß die Stadt ein blühendes Kulturleben, das durch die Emigranten zu einer hohen Blüte gebracht wurde.
Im Oktober 1935 wurde in Wolhynien (heute Ukraine) der gesamte deutsche Bezirk Pulin aufgelöst. Parallel zur Zwangsumsiedlung der Einwohner 1936 setzte in der Wolgarepublik ein Rückgang des Anteils der Deutschen in den Verwaltungen bis auf dreißig Prozent ein. Im Zusammenhang mit dem ersten Moskauer Schauprozess im August 1936 setzten 1937 auch in Wolgadeutschland Terroraktionen ein.
Im September 1937 wurden die deutschen Theaterprojekte gestoppt,[Fn 76] und zwar per Verwaltungsakt, indem „die Verträge aller Emigranten plötzlich angesichts öffentlicher Denunzierungen der Exilierten als Faschisten gelöst wurden“.[Fn 77] Das Kulturleben erstarb mehr und mehr. Das wurde begleitet von Verleumdungen der deutschen Emigranten, sie seien eingereiste „bourgeoise Nationalisten“. Wolf kommt im Dezember 1937 unter dem Vorwand der Abwicklung von Theaterprojekten noch einmal nach Engels.
In Engels hatte Lotte Rayß Ende 1935 den Journalisten Lorenz Lochthofen geheiratet,[Fn 78] der für die „Deutsche Zentralzeitung“ arbeitete. Die Zeitung erschien von 1927–1939 und war das deutsche Sprachrohr der sowjetischen Partei- und Staatsführung, brachte aber auch Artikel über das Leben in der Wolgarepublik, woraus dann die Repressionen begründet wurden. Einer der Redakteure war Herbert Wehner unter seinem Parteinamen Kurt Funk.
Lotte Rayß beschreibt die Kulturlosigkeit der Eheschließung. Das Verfahren, auch die Scheidung, war in der Sowjetunion zu dieser Zeit eine einfache Registratur. Es gab kein Steuersystem, das einen Census erfordert hätte. Die Freiheit, eine Ehe zu schließen oder sich zu trennen, hatte auch sonst keine große Bedeutung, denn es gab kein Sozialsystem, das nach Bedürftigkeit zu entscheiden gehabt hätte. Wohlfahrt galt als bürgerlich. Die Familien waren zerrissen. Gefeiert wurde nicht, auch nicht im Fall der neuen Eheleute Lochthoven.
Wer hätte eine Ritualisierung bewerkstelligen können oder sollen, etwa der Staat oder die gar die Partei? Die Kirche war abgeschafft, ohne neue Zeremonien einzuführen; die Gebäude wurden zerstört oder in einen Klub der Werktätigen oder, wie in Moskau, in einen Klub der Invaliden umgewandelt. Die Villen der enteigneten und vertrieben Fabrikanten verkamen oder wurden zu Kulturhäusern. Freidenker, wie in der deutschen Arbeiterbewegung, gab es nicht. Die entsprechende Organisation in der Sowjetunion hieß „Bund der kämpfenden Gottlosen“.[Fn 79]
Spontane, private Feiern standen immer unter dem Verdacht einer konterrevolutionären Verabredung, regionale Bräuche unter dem Vorwurf des Aberglaubens oder des antisowjetischen Nationalismus. So wurde auch kein neuer Erdenbüger feierlich begrüßt oder ein Gestorbener in Gemeinschaft verabschiedet – schon gar nicht in den Lagern.
„Für den Hochzeitstag ließen wir uns von unseren Arbeitsstellen eine Stunde früher freigeben. … Wir trafen uns …, um gemeinsam zum Amt zu gehen, das Ehen registrierte. Fanden auch das entsprechende Hinweisschild, klopften an die Tür. Eine in der Tür befindliche Klappe wurde nach innen herabgelassen. Im Zimmer war eine Beamtin zu sehen, die unsere Bitte entgegennahm. Wir reichten der Beamtin unsere Pässe. Kurze Zeit darauf erhielten wir unsere Heiratsurkunde. Die Klappe wurde wieder geschlossen. Wir waren verheiratet. … Eheringe gab es nicht. Sogar den obligatorischen Kuss vergaß Lorenz. Denn er war in Eile, war Mitglied der KPdSU, musste zu einer Parteiversammlung.“ [203]
Die Ehe mit Lochthofen war leidenschaftlich, die Memoiren zeugen davon. Sie leidet aber schnell an den schwierigen Umständen. „Inzwischen war jedoch eine Zeit angebrochen, die uns ängstigte. Wir hörten von Verhaftungen, hörten dabei Namen von Emigranten, die wir allerdings nicht näher kannten. Wir fragten uns, warum sie sich schuldig gemacht hatten und was sie getan hatten. Dann hörten wir etwas Ungeheuerliches: Der Deutschamerikaner, der all sein Eigentum in den USA verkauft hatte und der aus Idealismus mit seinen Freunden hierhergekommen war, um den Sozialismus mit aufzubauen, war verhaftet worden.“ [209]
Der Kreis schloss sich und die Schlinge um die kleine Familie zog sich immer enger zusammen. „Dann hörten wir von ‘Sippenhaft’ bei den Verhaftungen. Das beunruhigte uns noch mehr. Wir überlegten gemeinsam, dachten uns eine Möglichkeit aus, wie wir der Verhaftungsgefahr aus dem Weg gehen könnten. Lorenz und ich beschlossen, uns scheiden zu lassen. Nur pro Forma und hauptsächlich, damit bei Verhaftungen die Gefahr der „Sippenhaft“ an den beiden Kindern vorbeigeht“. [209]
Lorenz Lochthofen und Lotte Rayß ließen sich im Frühjahr 1937 scheiden, „ein Trick“, der sich als Irrtum erweist, da auch geschiedene Eheleute von der Sippenhaft betroffen sind. Am 19. Juli 1937 war dem geschiedenen Paar Larissa geboren worden, die zweite Tochter von Lotte Rayß.
Die „Sippenhaft“ war kein Geheimnis, sondern auf allen Ebenen des Terrors gegenwärtig. Das Politbüro hatte ihre Anwendung am 5. Juli 1937 beschlossen. Danach sollten alle Ehefrauen überführter Vaterlandsverräter und trotzkistischer Spione in einem Lager für die Dauer von mindestens fünf bis acht Jahren inhaftiert werden. Deren Kinder waren in Kinderheimen und geschlossenen Internaten unterzubringen.
Stalin betonte im engsten Führungszirkel von Partei und Komintern die konsequente Anwendung dieses Vorgehens in einem Trinkspruch beim Empfang am 7. November 1937 anlässlich des 20. Jahrestages der Oktoberrevolution:
„Und wir werden jeden dieser Feinde vernichten, sei er auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten.
Jeden, der mit seinen Taten und in Gedanken einen Anschlag auf die Einheit des sozialistischen Staates unternimmt, werden wir erbarmungslos vernichten.
Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst, ihrer Sippe – bis zum Ende!
(Zustimmende Ausrufe: Auf den großen Stalin!)“[Fn 80]
Opfer des „Großen Terrors“
„Ich kam als Gast in euer Land gereist
Und sah des Schaffens Glück in eueren Zonen.
Ich sah die frohe Arbeit von Millionen
Geführt von Stalins Kraft und Lenins Geist.
Ich kam als Gast in euer Land gereist.
Dann machte mich ein Richtspruch zum Spionen
Und Frau und Kind verwitwet und verwaist.
Viele Jahre schon das man mich Häftling heißt.
Und grausam zwingt wie ein Vieh zu fronen
Und wie ein Vieh und unter Vieh zu wohnen“.
Die Verse, eine Zeile gibt dem vorliegenden Aufsatz den Titel, stammen aus einem Gedicht des Politemigranten Wolfgang Duncker (1909–1942). Es entstand zwischen 1938 und 1940 im Gulag Loktschimlag (Pesmog, Komi ASSR), den er nicht überlebte. Seine Mutter war die kommunistische Bildungsexpertin Käte Duncker (1871–1953), damals in der „Westemigration“, wie es später in der DDR hieß, durchaus von den „Moskowitern“ verächtlich gemeint.
Die Dichtung wurde im März 1956 von dem im Lager mitgefangenen Österreicher Josef Freund per Brief an den betagten Vater Hermann Duncker (1874–1960) geschickt, einen Mitbegründer der KPD.[Fn 81] Er lebte zu diesem Zeitpunkt hochbetagt und wohlgeehrt in der DDR.
Der hier zitierte Auszug des Klagegesangs leitet über zu den Memoiren von Lotte Rayß nach der „schönen Zeit“. Der erste Satz des Gedichts lautet: „Das hätte meine Mutter nie gedacht“. Das war keine Feststellung, sondern eine Klage, die auch von Lotte Rayß stammen könnte, trotz ihrer mitleiderregenden Kindheit, aber in guter Erinnerung an die notgedrungene Hilfe, die ihr bei der Rettung des Wolf-Archiv von der Familie Zuteil wurde.
Lorenz Lochthofen, ihr geschiedener Ehemann, wurde am 31. Oktober 1937 verhaftet, einen Tag nach seinem dreißigsten Geburtstag. Friedrich Wolf ist nach diesem Ereignis gerade in Engels. Folgt man den Erinnerungen von Lotte Rayß, gingen ihnen bereits Bekannte auf der Straße aus dem Weg. Im Dezember kam Wolf, wie schon erwähnt, noch einmal kurz nach Engels. Er informierte Lotte Rayß über seine bevorstehende Ausreise nach Spanien. [Fn 82]
Lochthofen wurde zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt und nach Workuta verbracht. Nach der Haft setzte er seine Arbeit im Lager als Verbannter fort, allerdings nun mit all den sowjetrussischen „Privilegien“ eines Chef-Mechanikers. Im Lager wurde ihm eine gefälschte Urkunde über den Tod seiner ehemaligen Ehefrau übergeben. Er schreibt einen Trauerbrief an die Wolfs, die weder ihn über diese Lüge aufklären, noch Lotte Rayß informieren, dass ihr Lebensgefährte lebt und wo er ist, trotz bestehenden Kontakts zu beiden, entgegen der Vereinbarung und trotz Nachfrage.
Lochthofen heiratete in der Verbannung eine Russin und hatte mit ihr zwei Kinder. 1957, zurück in Berlin, unterhielt er guten Kontakt zu Lotte Rayß. Ihm gelang in der DDR ab 1961 als Werkleiter eine Karriere und schaffte es bis ins ZK der SED. Die Erinnerungen schildern die beklemmende Wiederbegegnung der beiden verlorenen Menschen.
Lochthofens Sohn Sergej fragte sich viele Jahre später, warum der Vater überlebte. Die Antwort ist erhellend und leitet in das nächste Lebenskapitel von Lotte Rayß über: „Wie jeder Betrieb im Sozialismus musste der Gulag den Plan erfüllen, nicht nur an Toten, auch an Tonnen Stahl und Kohle. Wenn der NKWD versagte, dann waren die Lagerchefs selbst dran. Als Journalist wäre der Vater an den Entbehrungen wie viele andere in der Tundra krepiert, als erfahrener Mechaniker wurde er in Workuta gebraucht.“[Fn 83]
Für Lotte Rayß ist Gleiches zu konstatieren. Ihre Anpassungsfähigkeit und ihr Geschick wurden vorn bereits erwähnt. Auch sie kam immer wieder in Situationen, da war sie „ein Vieh und unter Vieh“, wie es im obigen Gedicht steht. Sie überlebte, oft zufällig, aber vor allem, weil sie gut arbeitete, sich fügte, anpasste, qualifizierte, nichts herumtratschte und so in verschiedenen Berufen auf niedere wie „gehobene“ Stellen kam: Rechnungsführerin, Getreidelaborantin, Traktoristin, Geburtshelferin in der Schafzucht (März 1943-März 1945), Garten- und Ziegeleiarbeiterin (März 1945-Mai 1947), dazwischen Buchhalterin, Töpferin, letztlich sechs Jahre Verwaltungs- bzw. Wirtschaftsschwester im Krankenhaus und in der letzteren Tätigkeit dort auch als Freie – aber „Verbannte“ – beschäftigt (Juni 1948-September 1954).
Sie lernte, dass plötzliche Versetzungen in andere Lagpunkte zum System gehören, um jede Solidarität im Keim zu ersticken; dass man jederzeit, auch im Lager, wieder verhaftet werden kann (was ihr im Herbst 1941 während des Vormarsches der deutschen Wehrmacht tatsächlich widerfährt); dass Verurteilungen zu „nur“ fünf (statt wie üblich zehn) Jahren Arbeitslager vor Ort Positionen erlauben, die sonst nur Kriminellen vorbehalten sind, die zu den „Lagereliten“ gehören.
Die Politischen, die „58er“, gelten als die schlimmeren Verbrecher, die „Zehnjährigen“, zumal Frauen, bilden die unterste Gruppe der Lagerhierarchie. Tiefer stehen nur die Arbeitsunfähigen. Sie vegetieren auf dem nackten Fußboden und bekommen nur eine Hungerration Essen zugeteilt. Weil Hochschwangere nicht mehr arbeiten dürfen („Frauenschutz“ als zynisches Prinzip) geriet auch Lotte Rayß ins Lagerprekariat. Durchgängig galt im sowjetischen System in und außerhalb der Lager die verballhornte Losung der Arbeiterbewegung: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“[Fn 84]
„Ich arbeitete nicht, also galt das ungeschriebene Lagergesetz, wer nicht arbeitet, hat kein Recht auf einen Schlafplatz auf der Pritsche. Man wies mir unter einer Einzelpritsche an der Wand zwischen zwei Fenstern meinen Schlafplatz zu. Am Tag durfte ich auf meinem Bündel an die Wand gelehnt hocken.“ [429]
Die Schwangerschaft selbst war gewollt und der – letztlich durch allerlei Zufälle geglückte – Versuch, die Lagerhaft zu beenden und sich selbst durch die Pflege des Kindes einen Lebenssinn zu geben. Denn die Zeit der Lagerhaft von Lotte Rayß hatte schon lange die ursprünglich fünf verhängten Jahre überschritten. In den Kriegsjahren wurden aber generell keine Deutschen entlassen, sondern die Verweildauer einfach verlängert.
Als sie die Nachricht erreichte, dass Friedrich Wolfs nach Berlin abgereist sei und er – angeblich – die gemeinsame Tochter Lena mitgenommen habe, brach sie psychisch zusammen. Eine Mitgefangene verhinderte den Suizid. Sie munterte Lotte auf, indem sie ihr vorschlug, sich noch ein Kind anzuschaffen. Das war ein schwacher Trost, aber eine Hoffnung auf Rettung durch Verantwortung. Der Grund Entlassung aus dem Lager in die Verbannung 1946 war nicht Menschenfreundlichkeit gegenüber einer Mutter, ihrem Kind oder gar eine Intervention von Friedrich Wolf, sondern ganz pragmatischer Art: Frauen mit Kleinkindern störten das Lagerregime und erinnerten die anderen Frauen an ihren möglichen Wunsch, auch einmal in Freiheit zu kommen und Mutter zu werden.
„Als ich aus dem Krankenhaus entlassen war, das Kind auf dem Arm, führte man mich zu einem zweistöckigen Gebäude, um mein Entlassungspapier und den Geburtsschein meines Kindes zu erhalten. Ich stand mit Kolenka vor dem Schreibtisch. Erst ließ er mich warten, ein Militär in strammer Uniform. Schließlich nahm er die Papiere für mich in die Hand, schnauzte mich an: „Das Kind! Das Kind war ein ganz großer Fehler. Das hätte nicht passieren dürfen. Wir hätten Sie nie mehr freigelassen!“ Ich spürte, ich war keine Gefangene mehr. Immerhin, wenn auch sehr grob, hatte er mich mit ‘Sie’ angeredet. Die Papiere knallte er vor mir auf den Tisch. Ich konnte gehen.“ [436 f.]
Der Gulag
Das Wort „Gulag“ wird in den Erinnerungen von Lotte Rayß erst am Ende des Buches von ihr selbst benutzt, als sie, schon in Berlin, Besuch von ihrer Mutter aus dem Westen und Nachricht über Lorenz Lochthofen erhält. Es gab dieses Wort in der DDR-Sprache nie offiziell. Auch die Rückkehrer lernten es in der Regel danach. Sie hatten in ihren Stationen logischerweise keinen Einblick in das System. Sie kannten nur „Lagpunkte“, höchstenfalls deren Zentralen, z.B. Dolinka, wie in diesen Memoiren. Aber sie ahnten den übergreifenden Apparat.
Der juristische Kern des Systems „Gulag“ geht auf Artikel 58 des Strafgesetzbuches der „Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik“ zurück. Er wurde am 25. Februar 1927 erlassen und mehrfach verschärft, besonders nach dem Attentat auf den Leningrader Parteichef Sergej Kirow 1934. Er blieb bis 1959 in Kraft.
Die „58er“ waren schuldig des Vaterlandsverrats und/oder der Spionage, des bewaffneten Aufstands und/oder seiner Vorbereitung, verdächtig, terroristische Handlungen zu begehen und/oder konterrevolutionäre Absichten [sic] zu hegen, propagandistisch oder organisatorisch Sabotage ausgeübt oder geplant und/oder entsprechende Absichten, von denen man Kenntnis erhält (oder Kenntnis erlangt haben könnte!), nicht angezeigt zu haben. Der „58er“ war ein Gummiparagraph. Er passte letztlich immer, wenn der Geheimdienst es wollte, ob mit erzwungenem Geständnis oder ohne.
Als politische Repressionsmaßnahme besitzt die Verbannung nach Sibirien in Rußland eine lange Geschichte schon in der Zarenzeit. Während des Bürgerkrieges in Russland (1918–1922) griff Lenin im August 1918 die aus dem Zweiten Burenkrieg (1899–1902) stammende Idee der Konzentrationslager auf und forderte im Zusammenhang mit der Gründung der Geheimpolizei „Tscheka“ einen „Roten Terror“ gegen feindliche Armeeangehörige, Kulaken, Popen und zwielichtige Elemente.[Fn 85]
Parallel dazu führte die Sowjetunion ab 1922 für „Asoziale“ und Kriminelle „Besserungslager“ ein, in denen diese durch Internierung und bezahlte [!] Arbeit erzogen werden sollten. Aus der Vermischung beider Maßmahmen und ihrer verwaltungsmäßigen Bündelung entstand nach einigen regionalen Versuchen (Solowezki-Inseln) vor allem ab 1929 der „Gulag“, die Lager der Zwangsarbeit.
Diesem rasanten Wandel lag die Praxis der „Militarisierung der Arbeit“ und der Schaffung von „Arbeitsarmeen“ zugrunde. Sie hatten sich zwar als ineffektiv erwiesen, aber eine freie Lohnarbeit galt bei den Bolschewki als Kapitalismus. Sie waren geleitet von einem Gleichheitsideal, dass sich aber nur auf niedrigstem Niveau bewerkstelligen ließ. Damit fielen Anreize zur Mehrarbeit, überhaupt zur „Arbeiterarbeit“ weg. Zudem waren durch ihre eigenen Maßnahmen, durch Hunger in den Städten, durch den Bürgerkrieg usw. ein übergroßer Anteil der Arbeiter zu ihren Familien auf das Land zurückgekehrt. Die späteren Repressionen gegen die Bauernschaft brachten die Geflohenen, nun Vertriebene, auch nicht zurück.
So blieb die Idee virulent, auch in der kurzen Zeit der „Neuen Ökonomischen Politik“, die Schacherei und Betrügereien unter den gegebenen russischen Bedingungen begünstigte. Das Konzept geht auf Leo Trotzki (1879–1940) zurück.[Fn 86] Die Prinzipien der Kriegswirtschaft von 1918 bis 1921 wurden auf Druck der „Roten Armee“, die bis 1925 unter Trotzkis Führung stand, weiter ausgebaut. Sie basierten auf der gesetzlichen „Arbeitspflicht“ und der unbedingten Ortsbindung der Arbeiter.
Einige Elemente der Arbeitsarmeen blieben damit erhalten, aber Formen der Kasernierung, Uniformierung und kollektiven Beköstigung fielen weg, auch wenn Letzteres in den meisten Fabriken beibehalten wurde. Diese Lockerungen führten, so seltsam dies klingen mag, zu Einsparungen. Um die Flucht der Arbeiter zurück auf die Dörfer zu verhindern, wurden aber die Pässe eingezogen und die Eisenbahnverbindungen der Oberaufsicht der Geheimpolizei unterworfen. Fahrkarten waren sowieso Raritäten. Hinzu kam ein wucherndes Bestechungsregime.
Ging es zunächst um zeitweilige, begrenzte Repressalien gegen die „Faulenzer, Liederlichen und Desorganisatoren“, erkannten Trotzki und Stalin, da die „Neue Ökonomische Politik“ Lenins nicht funktionierte, dass das außergewöhnliche Mittel der Revolutionszeit, der „Kriegskommunismus“, allgemein gesetzt und auf Dauer gestellt werden sollte. Trotzkis Devise, „Repressalien zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele sind ein notwendiges Werkzeug der sozialistischen Diktatur“,[Fn 87] wurde dann nach Ausschaltung Trotzkis 1926 unter Stalin zu einem üblichen Instrument – und ab 1927 (Verabschiedung Artikel 58) verstärkt auf politische Delikte ausgedehnt, die zudem willkürlich erfunden wurden.
1929, mit dem ersten Fünfjahresplan, führte die Parteiführung um Stalin Zwangsarbeit im großen Stil ein. Man begann, eine Millionenarmee von Arbeitssklaven zu organisieren und zwar nicht mehr wie in den Anfängen unter Trotzki durch das Militär, sondern durch den Geheimdienst (NKWD), der sich Schritt für Schritt und ab 1934 per Gesetz zu einer allgemeinen Polizei mit Justizvollmachten entwickelte.[Fn 88]
Die Zwangsarbeit erfasste alle Bereiche und die Gulags waren in sich geschlossene Regelkreise mit einer wirtschaftlichen Hauptaufgabe. Bei Lotte Rayß ist es die Landwirtschaft. Solange der „Realsozialismus“ existierte, bis 1990, war nicht nur der „Große Terror“ 1937/1938 ein großes Geheimnis, sondern die gesamte ökonomische Ordnung zwischen 1927 und 1959.
Lotte Rayß hätte auch in ein Bergwerk unter Tage geschickt werden können oder an den nördlichen Polarkreis – wohin man kam, das war Zufall.[Fn 89] Überall herrschte im Gulag das Prinzip der Leistungserpressung: „Der Hunger der Gefangenen … hier die Peitsche zur höheren Leistung.“ [293] Das Verfahren war zwar keine „Vernichtung durch Arbeit“, aber ein Menschenleben war nichts wert und der Tod im Lager – auch durch Arbeit – wurde rücksichtslos in Kauf genommen.
„A und O im Karlag, das war das Brot. Wurde die Arbeitsnorm, willkürlich von den Zuständigen festgelegt, erfüllt, so bekam man fünfhundert Gramm Brot, eine Hirse-Wassersuppe am Morgen, eine Sauerkohlsuppe am Mittag plus zwei Esslöffel reichlich flüssiger Getreidegrütze und am Abend nochmals den halben Liter Hirsesuppe. Das Brot war eigentlich die einzige sättigende Nahrungsquelle. Da die Gefangenen aus Hunger ständig bestrebt waren, die Norm überzuerfüllen, was mit einer Brotzulage belohnt wurde, gelang es, mit diesem hungrigen Magen das Letzte an Leistung herauszuholen.“ [292 f.]
Als ab 1954 langsam die Rückkehr nach Deutschland einsetzte, blieb das System verhüllt. Auch Lotte Rayß erfuhr dann, dass man allgemein annimmt, in der Sowjetunion sei alles mit rechten Dingen zugegangen nach dem Motto: Etwas wird schon dran gewesen sein. Die Remigranten schrieben in ihre Fragebögen stereotyp die zunächst beschönigende, aber im Nachhinein betrachtet eine die Wahrheit enthüllende Bezeichnung. Sie gaben an, in dieser Zeit „in der „sowjetischen/sozialistischen“ Wirtschaft (es folgte der ökonomische Bereich; bei Lotte Rayß: Landwirtschaft, dann Gesundheitswesen) „gearbeitet“ zu haben.
Je mehr seit den späten 1970ern Forschungen zum Gulag stattfanden und intensive Detailstudien neue Befunde hervorbrachten, desto größer wurde die Zahl der nachweislich Internierten, Verbannten und Toten zwischen 1929 und Stalins Tod 1953, wobei die große Lagerverwaltung erst im Mai 1956 endete.
Ging man in den 1980er Jahren noch von etwa 15 Millionen Deportierten aus, so beziffert Anne Applebaum (Jg. 1964) in ihrem Buch „Der Gulag“, dass etwa 18 Millionen Menschen dieses gewaltige System durchlaufen haben.[Fn 90] Man schätzt, dass davon ungefähr jeder Fünfte zu Tode kam – und man hat errechnet, dass „mindestens drei bis vier Millionen Frauen und Mädchen“ im Gulag waren.[Fn 91]
Der Öffentlichkeit und auch den Kritikern der Moskauer Prozesse blieb dieser sozialökonomische Vorgang der enormen Umorganisation der Gesellschaft zur Zwangsarbeit weitgehend verborgen, obwohl ihn Karl Kautsky bereits 1921 in seiner Entgegnung auf Trotzki in der dem Prozess innewohnenden Tendenz aufdeckte.[Fn 92] Den Zeitgenossen der Schauprozesse, mit dem Faschismus in Europa konfrontiert, erschienen die Geschehnisse in der Sowjetunion entweder als irgendwie „ehrenvolle“ Handlungen unter Revolutionären oder als Abrechnung Stalins mit seinen politischen Widersachern.[Fn 93] Dabei ging es gar nicht um „Parteirichtungen“.[Fn 94] Das war die Fassade. Und es ging nur sehr vordergründig um die viel beschworene Abrechnung mit den Kampfgefährten Lenins – obwohl sie selbstverständlich radikal statfand.
Sicher, erstens ging es darum, dass der „Terror als Mittel einer neuartigen Herrschaftsformierung fungierte, … einer in den zwanziger Jahren aufkommenden neuartigen, bürokratischen Herrschaftskaste.“
Zweitens diente der Terror gegen „Sündenböcke“ der neuen Verwaltungselite als Erklärung und Ventil der „sozialgeschichtlichen Folgen einer als Schock-Strategie erfahrenen Industrialisierung und Kollektivierung … einer atomisierten, entmündigten und physisch bedrohten Bevölkerung“.[Fn 95]
Drittens hatte die Gewalt in der Person Stalin sicher den Hauptakteur, der es zudem verstand, den Exzessen einen „höheren Zweck“ zu verleihen, bis das nicht mehr nötig ist: „Die dauerhafte Androhung und Ausübung von Gewalt veränderte den moralischen Referenzrahmen und gewöhnte Opfer wie Täter an ein Leben mit der Gewalt. Im Chaos der kulturrevolutionären Kampagnen, der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Industrialisierung ließ sich jede Gewalttat unter Berufung auf höhere Zwecke und Ideale rechtfertigen. Irgendwann brauchte aber selbst Stalin keine Begründung mehr“.[Fn 96]
Doch was waren die tieferen Triebkräfte? Die Befunde der letzten Jahre legen ein grausameres, für die Betroffenen wenig tröstliches Urteil nahe: Es entstand ein sich selbst reproduzierendes, immer weiter vorwärtstreibendes System ohne innere Hemmschwellen, in dem die handelnden Personen heute Täter, morgen Opfer sein konnten.
Wenn man Millionen Menschen des Volkes erschießt, zwangsumsiedelt oder verhungern lässt, um noch mehr Millionen Menschen in die Zwangsarbeit zu pressen und um weitere Millionen „freier“ Arbeiter und „Kolchosbauern“ zu disziplinieren; wenn dies stattfindet in letztlich irrationalen, jedenfalls willkürlichen Auslesen, in denen millionenfach vorab Entscheidungen der regionalen „Troikas“ (wie die Schnellgerichte hießen; oder „Dwoikas“ oder die „Albummethode“) oder anderer Gerichtsbarkeiten oder „Untersuchungsorgane“ feststehen, die über Umsiedlungen, Verbannungen, Arbeitslager oder Todesurteile von Millionen Menschen befinden im Handumdrehen – dann kann man dieses Vorgehen nicht auf die da unten beschränken, sondern man muss – ebenso unlogisch, aber auf dem Hintergrund der Stabilität der Herrschaftspyramide angezeigt – auf jeder Stufe von Gesellschaft, Partei und Verwaltung „säubern“ – und so auch feste Kontingente in den Eliten erschießen oder in den Gulag stecken. Der entsprechende Troika-NKWD-Befehl Nr. 00447 vom Juli 1937 wurde 1992 bekannt. Es gab einige Befehle dieser Art.
Die „Säuberung“ der Eliten, etwa der Künstlerschaft, unterschied sich in den Abläufen nicht grundsätzlich, weder in den Verfahren, den Torturen, noch den Urteilen, von denen, die das einfache Volk trafen, bis auf einen für das weitere Schicksal der Delinquenten letztlich unwichtigen Punkt: Die Vorbereitungen und die Begründungen waren bei Höhergestellten „ideologischer“. Die Betroffenen und die Verschonten suchten mittendrin und dann noch im Nachhinein, wenn sie es überstanden hatten, nach einem „Sinn“, einem höheren Zweck, in der Hoffnung, all das Schreckliche geschehe als Irrtum oder Entgleisung auf dem Weg zum Kommunismus.
Das Klima der Angst und der gegenseitigen Verdächtigungen hatte aber keinerlei rational nachvollziehbare Verfehlungen zur Ursache, es reichte eine „Kontaktschuld“ (Hanna Arendt: „guilty by association“), dass man diesem oder jenem begegnet war, man also Kenntnis von dessen Verfehlungen oder gar Verbrechen erlangt haben könnte. Das von Reinhard Müller 1990 gefundene und ein Jahr später veröffentlichte Protokoll einer geschlossenen Parteiversammlung der schriftstellerischen Elite deutscher Politemigranten vom 4. bis 9. September 1936 in Moskau, darunter auch Friedrich Wolf, zeigt diese Gespensterdebatten. [Fn 97]
Müller zitiert Gustav Regler (1898–1963), einen Teilnehmer der Mammutsitzung: „Sie waren wie Soldaten in einer belagerten Burg; die Trommel konnte jederzeit gerührt werden, und sie hatten aufzuspringen. Der Ruf konnte aber auch nur dem Einzelnen gelten, und das war dann der Ruf zum Kriegsgericht. Sie hatten es aufgegeben, über das Gericht nachzudenken.“[Fn 98]
In seiner erschreckenden „Chronik der Moskauer Schauprozesse“ fügt Wladislaw Hedeler (Jg. 1953) verschiedene neuere Forschungsergebnisse zusammen und errechnet allein für die Zeit zwischen August 1937 bis November 1938 eine Zahl von 556.360 außergerichtlichen Todesurteilen nach NKWD-Massenoperationen: „Anti-Kulaken“-Operation (386.797), „Polnische“ Operation (111.091), „Deutsche“ Operation (41.898), „Lettische“ Operation (16.573).[Fn 99]
Oleg Chlevnjuk (Jg. 1959), so Hedeler, habe richtigerweise drei ungleich große Opfergruppen festgestellt: Erstens die „Führungskräfte der Partei sowie des Staats- und Wirtschaftsapparates (‘Revolution der Kader’)“, zweitens die „‘Fünfte Kolonne’ (Ausländer)“ und drittens „‘einfache Bürger’“, die weitaus größte Gruppe.
„Einfache Bürger“ geraten nach vorher festgelegten Mengen in die „Auswahl“, in ein Fangnetz, und damit in die NKWD-Maschinerie, der Produktionsstätte von Arbeitsarmeen. Die unterste Schicht der Handlanger sind ebenfalls „einfache“ und gehorsame, aufgestiegene Bauernburschen. Deren Bildung besteht in Grundkursen dessen, was man zum „Marxismus-Leninismus“ in der Lesart des „Stalinismus“ erklärt hat.
So „glaubt“ der brutale Vernehmer von Lotte Rayß sicher tatsächlich, ihr italienischer Agentenführer sei Leonardo da Vinci. „Wieder wandte er sich an mich: ‘Leonardo da Vinci. Du kennst ihn?’ ‘Ja.’ – ‘Italiener?’ ‘Ja.’ – ‘Alle Italiener sind Faschisten.’ Leonardo – ein Faschist? Ich war verdutzt, kam aber nicht zum Antworten. ‘Du bist eine Spionin. Sag endlich: Welche Spionageaufträge hat dir dieser Italiener gegeben, dieser da Vinci?’ Ich schwieg.“ [239] Ihn über den Irrtum aufzuklären, bedeutet aber seine Brüskierung und ihren sicheren Tod. Es bleibt die – vergebliche – Hoffnung, dass der Geheimdienst seinen Irrtum erkennt, dass er reale Verfehlungen untersucht. Das ist aber gar nicht sein Auftrag.
Einen regulären Prozess gibt es nicht, nirgends, außer bei einigen Prominenten zur „Schau“. Das Urteil fällt geheim, ein aufklärendes Gericht gibt es nicht. Die Betroffenen erfahren ihr Schicksal, auch dies ist gesetzlich bestimmt, wenn sie nicht erschossen werden, erst nach der Deportation am Bestimmungsort in Massenabfertigungen.
„Wenige Tage nach unserer Ankunft wurden wir in ein Verwaltungsgebäude beordert. Hier standen nur Frauen im Korridor, auch aus anderen Transporten. … Weshalb wir hier warten mussten, wussten wir nicht. Als die Vorderste herauskam, wurde es allen klar: Es war unsere Urteilsverkündung und die lief so: Name, verurteilt laut Paragraph so und so und wie viel Jahre Haft, fast ausschließlich zehn Jahre. Die Nächste: der gleiche Paragraph und dieselbe Haftstrafe. … Ich, mit dem Anfangsbuchstaben R, hatte lange warten müssen … Im Raum saß ein hoher uniformierter Beamter, eine große Liste vor sich, die er mir zuschob; er deutete auf die mich betreffende Zeile. Und in einer einzigen Zeile stand – so wie für alle vor mir: Name, Vorname, Vatersname, Geburtsjahr, Nationalität, der Paragraph, für den ich schuldig befunden wurde: KRD [Paragraphen 58: Konterrevolutionäre Tätigkeit; HG] Frist: fünf Jahre; Unterschrift. ‘Unterschreiben!’, befahl er mir, ‘Raus! Die Nächste!’“ [280]
Priorität besitzt die Schaffung von Arbeitssklaven, wie Lotte Rayß an vielen Beobachtungen belegt, und die Erpressung unbezahlter – in der Verbannung dann gering entlohnter – Arbeitsleistung. Dies bestimmt die sowjetische Produktionsweise. Sie nach Stalins Tod 1953 und Chrustschows Rede 1956 nicht radikal umzustellen, trug wesentlich zum Untergang des „Realsozialismus“ bei.
Bis zum Ende der DDR verschwieg die Parteiführung der SED die Opfer der Repressionen. Eklatant war die Reaktion der DDR-Spitze auf die entsprechenden Veröffentlichungen der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik”, ein Digest der sowjetischen Presse, über die Zeit des Großen Terrors und das Systems von Arbeitslagern. Die Publikation sprach, basierend auf historischen Quellen, von bis zu zwanzig Millionen Opfern. Die DDR-Regierung verbot am 18. November 1988 die Auslieferung der Zeitschrift durch den Postzeitungsvertrieb.
Noch heute laufen selbst Reformsozialisten wie der letzte SED-Ministerpräsident Hans Modrow (Jg. 1928) Sturm gegen die Aufarbeitung dieser Zeit und gegen die Würdigung der Opfer. Sie haben ein Leben lang den Sozialismus, wie sie ihn sahen, gegen Vorwürfe des „Stalinismus“ von innen wie außen geschützt. Lange Zeit wehrten sie sich vehement gegen die Anbringung einer entsprechenden Gedenktafel am Berliner Karl-Liebknecht-Haus am 17. Dezember 2013, dem alten Sitz der KPD und dem heutigen der Partei DIE LINKE. Sie meinen, man müsse auch heute noch den „guten Sinn“ sehen: „Es gab konkrete Umstände, die die Sowjetführung so zu handeln zwang, wie sie schließlich handelte.“[Fn 100] Die Biographie von Lotte Rayß spricht dagegen. Dieser eine Einspruch genügt.
Frauenschicksale im Gulag
Für das Opfer war die Zuordnung in eine der Gruppen durch die Täter oder spätere Historiker letztlich gleichgültig. Die Repression verlief nach einem bestimmten Schema, dessen konkreten Ablauf wir auch in den Erinnerungen von Lotte Rayß akribisch nachvollziehen können: Beobachtung, Verhaftung, Aufnahmeprozedur, Untersuchung, sich in den einzelnen Abfolgen immer mehr verschlechternde Haftbedingungen, Erklärungsversuche, sich nahezu endlos hinziehende Verhöre mit Varianten des Folterns.
Es folgen darauf der „kurze Prozess“, als solcher vom Verurteilten nicht erkennbar, das geheime Urteil, der Transport zu Massen in Waggons zu den Lagerpunkten, meist in den berüchtigten Stolypinski Waggons, seit 1908 in Rußland in Betrieb. Doch davon gab es nicht mehr viele, zudem waren sie mit der Zeit verfallen. So mussten „Normalzüge“ aushelfen, in die werden die Gefangenen hineingepfercht [vgl. 367 ff.].
Im Lager bestimmen das Klima, die Baracken, Schlafstellen, Schwerstarbeit, Spitzelwesen, Hunger, Dreck, Latrinen, mangelhafte Kleidung, Krankheit, Suizide, vergeblich Flüchtende, Erschießungen, Sterben ringsum das alltägliche Dasein. Jeder Mensch leidet anders, immer persönlich, stets einmalig – und immer ganz nah bleiben der Geheimdienst als Polizei, Verwaltung und zuständig für alle Angelegenheiten.
Frauen sind Männern von ihrer Belastbarkeit her im Gulag gleichgestellt. Sie hausen zusammen, wenn auch in getrennten Baracken, arbeiten zusammen. Doch wegen ihres Geschlechts sind Frauen zusätzlichen Demütigungen ausgesetzt: Sie menstruieren, bekommen Kinder und gelten als mögliche Sexualobjekte. Solche Leistungen werden auch von den „Natschalniks“ (russ. начальник heißt Chef, Leiter, Vorgesetzter) erpresst. Bei Verweigerung droht unerbittliche Bestrafung.
Berichte über das Leben von Frauen in den sowjetischen Arbeitslagern drehen sich um Vergewaltigungen und Prostitution, tote Babys und brutale Verhöre. Doch neben all den Tragödien gibt es auch überraschende, beinahe epische Erzählungen und erhellende Episoden über Liebe und Freundschaft, Widerstandsfähigkeit und Erfindungsgabe. Davon zeugt die umfassende Studie von Meinhard Stark.[Fn 101]
Auch die Autobiographie von Lotte Rayß berichtet eindringlich davon: Grausamkeiten, das Sterben ihres Kindes, sexuelle Bedrohungen, körperliche und geistige Erschöpfung, Hunger. Die Memoiren von Lotte Rayß sind reich an Einzelschicksalen, die ein Bild der damaligen sowjetischen Sozial- und Kulturverhältnisse geben, besonders der Widersinnigkeiten, die hochgebildete politische und unpolitische Menschen erst in Haft und dann in die Gulags spülen. Kleine Gesten der Menschlichkeit wechseln sich immer wieder ab mit barbarischen Verletzungen der Menschenrechte bis hin zum würdelosen Umgang mit Toten.
Lotte Rayß geriet am 5. Februar 1938 kurz vor ihrem 26. Geburtstag in die grausige Vernichtungsmühle, die im Namen des Kommunismus nach Artikel 58 „Volksfeinde“ produzierte, ermordete oder zur Sklavenarbeit zwang. Wegen angeblich „konterrevolutionärer Tätigkeit“ verhaftet, wird sie in zahlreichen Verhören schwer gefoltert. Ihre Tochter Larissa stirbt am 21. März 1938 im NKWD-Gefängnis in Engels. Das achtmonatige Baby kommt dort unter mysteriösen Umständen ums Leben. Diese Passagen in den Erinnerungen gehören zu den schwerstverdaulichen des gesamten Buches.
Vom 5. Februar 1938 bis zum 17. August 1946 durchlitt Lotte Rayß als „58er“ verschiedene Lager in der Region Karaganda in Kasachstan (Karlag: „Karagandiner Besserungsarbeitslager des NKWD“). Laut ihrer Rehabilitierungsurkunde vom 4. Mai 1963 [!] ist sie am 5. August 1938 verurteilt worden, vermutlich nach der von ihr geschilderten letzten Vernehmung. Ihr Urteil erfuhr die Deliquentin, wie oben bereits zitiert, erst am Vollzugsort auf eine menschenverachtende Weise.
Sie zog sich in Haft, Lager und Verbannung schwere körperliche Schäden zu, deren Zustandekommen und medizinferne Behandlung sie schildert: Brucellose (hier: Brucella melitensis, die „Schafkrankheit“), Malaria, Bruch des 5. Lendenwirbels, Erfrierungen der Füße und brutale Amputation von zwei Zehen. Die dabei erlittenen seelischen Verletzungen sind nachvollziehbar. Nach achtjähriger Haft folgte auch für Lotte Rayß die „Verbannung auf ewig“ in Karaganda, die für sie vom 17. August 1946 bis Oktober 1954 dauert. Das ist eine nur wenig gelockerte Fortsetzung der Zwangsarbeit.
Sie war voller Hoffung in das „Vaterland aller Werktätigen“ gekommen, in das „gelobte Land“.[Fn 102] Sie war eine kunstbegeisterte Tochter aus gutem Hause, eine junge Frau und Mutter, eine ganz normale, gut gebildete, aus Deutschland exilierte Frau, langjährige Geliebte eines bedeutenden Dichters, dann kurz verheiratet mit einem Journalisten, der ebenfalls aus heiterem Himmel verhaftet wurde. Sie geriet in die oben erwähnte „Deutsche Operation des NKWD“ per Geheimbefehl 00439 vom 25. Juli 1937.
Das war, so steht es im Befehl, eine großangelegte „Operation zur Ergreifung von Repressivmaßnahmen an deutschen Staatsangehörigen, die der Spionage gegen die UdSSR verdächtig sind“. Verdächtig sein hieß, bis auf ganz wenige Ausnahmen, von vornherein schuldig zu sein. Siebzig Prozent der kommunistischen Parteimitglieder, der in die Sowjetunion geflüchteten Politemigration in einer geschätzten Zahl von etwa 4.600, wurde auf diese Weise „repressiert“.
Bekannt geworden sind 261 offizielle Erschießungen, 126 sonstige Todesfälle und 192 Auslieferungen an die deutsche Gestapo (Stand 1997),[Fn 103] nicht mitgerechnet die Schicksale der Angehörigen und Kinder. Für sie wurden teils Sonderlager eingerichtet. Die Kinderschicksale oblagen direkt dem NKWD.
Die besonderen „deutschen“ Maßnahmen wurden nach etwa einem Jahr eingestellt, aber die Verfahren nach Artikel 58 gingen weiter. Außer den schon oben genannten fast 42.000 Erschießungen allein von Deutschen, darunter Volks- und Wolgadeutsche, Gastarbeiter, Emigranten, Künstler… gab es zahllose Haftstrafen zwischen fünf und zehn Jahren.
Nach dem Hitler-Stalin-Pakt und besonders nach dem Vormarsch der Roten Armee nach Westen kamen die sogenannten Reparationsverschleppten hinzu: Baltendeutsche, Pommern, Ostpreußen, Schlesier, Donauschwaben, Siebenbürger Sachsen und vor allem Kriegsgefangene.
Die allgemeinen Maßnahmen bestanden fort bis zur Auflösung des Gulag-Systems. Nach dem Ende des Krieges wurde das beschleunigte „Troika“-Verfahren auf diejenigen Soldaten der Roten Armee angewandt, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren und überlebt hatten oder von den anderen drei Siegermächten ausgeliefert wurden. Sie teilten das Schicksal mit deutschen Politemigranten und gefangenen „Gastarbeitern“, aber auch tasächlichen oder zu solchen erklärten „Werwölfen“, Faschisten oder neuen „Volksfeinden“ in den sowjetisch besetzten Gebieten.[Fn 104]
Aufklärung der Verbrechen
Verurteilungen bedeuteten Zwangsarbeit im Gulag und anschließende Verbannung. Das war, wie gesagt, auch das Schicksal von Lotte Rayß. Ihr Erinnerungsbericht bereichert die Aufklärung von Frauenschicksalen in der Sowjetunion. Ohne die Verdienste Alexander Solschenizyns bei der Aufdeckung des Systems Gulag zu schmälern, es waren vor allem die Erinnerungen weiblicher Häftlinge, die das Tor aufstießen, um das große Geheimnis der Sowjetunion aufzudecken.
Zu den ersten und wichtigsten Publikationen von Frauen über ihr Schicksal als Politemigrantinnen in der Sowjetunion zählten die 1949 auf Deutsch erschienenen Aufzeichnungen von Margarete Buber-Neumann (1901–1989),[Fn 105] auch deshalb, weil sie die Frau eines bis 1932 hohen KPD-Funktionärs war (Heinz Neumann; 1902–1937), der ebenfalls in Moskau ermordet wurde; weil sie der NKWD an die Gestapo auslieferte und die offizielle Geschichtsschreibung im sowjetischen Machtbereich leugnete, dass es solche Auslieferungen gab.
Eine ebenso große Bedeutung in der Aufklärung kam den 1955 erschienenen, schon fünf Jahre vorher fertig geschriebenen Erinnerungen von Susanne Leonhard (1895–1984) zu,[Fn 106] weil sie erstens als nach wie vor überzeugte Sozialistin schrieb; zweitens mit großer Sachlichkeit den Gesamtvorgang Verhaftung im Oktober 1936, Verhöre, Gefängnis, mehrere Gulags, Verbannung, Rückführung 1948 offenlegte; weil sie drittens ihren Denunzianten in den NKWD-Verhören erkannte und nun namentlich nannte, den Theatermann Hans Rodenberg (1895–1978), damals Mitglied des ZK der SED; viertens ihr Sohn Wolfgang Leonhard (1921–2014) im Mai 1945 mit der „Gruppe Ulbricht“ nach Berlin gekommen war und für die SED und die „Sowjetische Militäradministration Deutschland“ (SMAD) arbeitete bis zu seiner Flucht über Jugoslawien in den Westen.
1942 hatte er mit Markus Wolf in Ufa eine einjährige Ausbildung zum Politkommissar absolviert. Leonhard wurde ab 1963 in London zum Begründer einer wissenschaftlichen Kommunismus- und Rußlandforschung. Sein Buch über Verfolgungen unter Stalin erschien 1955 parallel zum Buch seiner Mutter.[Fn 107] Es wurde ein Bestseller.
Jewgenija Ginsburg (1904–1977) musste achtzehn Jahre im sowjetischen Gefangenenlager verbringen. Ihre Memoiren „Marschroute eines Lebens“ (1967) beschreiben die alltäglichen Einzelheiten und versetzen dem Leser einen Schrecken nach dem anderen.[Fn 108]
Lotte Rayß und ihr Sohn Konrad haben weitgehend alle im Westen erschienenen Erinnerungen an den Gulag zeitnah gelesen. Sie hatten durch ihre Schweizer Verwandtschaft Zugang zu dieser Literatur. Lotte Strub brachte diese Lektüre seit Anfang der 1960er Jahre regelmäßig heimlich von ihren Besuchen aus der Schweiz mit in die DDR, unter anderem die Bücher von Buber-Neumann, Leonhard und Ginsburg.
Die Autobiographie „Die Liebe gab mir Hoffnung“ (2001) von Tamara Petkewitsch (geb. 1920) hat Lotte Rayß mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr lesen können.[Fn 109] Auch deren Erinnerungen gehen sehr ins Detail. So beschreibt sie einen ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter, der im Gefängnis Dienst schieben muss und der mit einer Axt immer mal wieder Amok läuft, so dass überall Blut fließt. Tamara Petkewitsch, Tochter eines 1937 ermordeten hohen Parteifunktionärs, wurde 1943 verhaftet und verbrachte sieben Jahre in Arbeitslagern im Hohen Norden (SewscheldorLag).
Leben unter Beobachtung
Nach 16 Jahren Haft und Verbannung kehrte Lotte Rayß am 3. Oktober 1954 nach Deutschland zurück. Die Rückführung erfolgte später als bei einigen wenigen Verwandten wichtiger KPD‑, nun SED-Funktionäre per Sondergenehmigung, etwa Susanne Leonhard, aber zwei bis vier Jahre früher als die verbliebene Mehrheit der Inhaftierten und Verbannten.
Die offizielle Rückführung der verhafteten und deportierten deutschen Emigranten erfolgte erst nach dem Vertrag der Bundesrepublik unter Adenauer vom September 1955 mit der sowjetischen Regierung über die Ausreise der Kriegsgefangenen. Die Politemigranten kamen letztlich in deren Schlepptau. Diese Gleichstellung von Deutschen, ob sie nun Kriegsgefangene waren oder Politemigranten, also ehemalige Kämpfer gegen oder für die Sowjetunion, wirft noch heute auf den ganzen Vorgang ein bezeichnendes Licht. Die meisten der „58er“ kamen in der Regel zwischen 1956 bis 1958 in die DDR, nur wenige reisten weiter in die Bundesrepublik.
Die Rückkehr der Verbannten wurde ab 1956 – Adenauer-Abkommen – durch das ZK der SED stabsmäßig organisiert. Man wollte diese Leute vor allem nicht auf einem Haufen haben. Es stand fest, wo wer zu wohnen hatte, bevor sie den Boden der DDR betraten. Sie wurden über die ganze Republik verteilt.
Warum Lotte Rayß „vorzeitig“ kam oder ob die Entlassung ein Zufall war, bleibt bisher im Dunklen. Konrad Rayß erinnert sich: „Meine Mutter kam mit mir nach langen Querelen mit Hilfe des Roten Kreuzes Oktober 1954 aus Karaganda auf dem Ostbahnhof an,[Fn 110] mit dem Auftrag, uns im ZK zu melden. Dort sah man noch überall die Stalinbilder und die berühmte Tafel mit den vier Köpfen der revolutionären Väter: Marx, Engels, Lenin, Stalin. In Moskau war Stalin bereits entfernt. Sie hing auch in dem kargen Raum an der Wand, in dem sich der Genosse Kaden den einstündigen Bericht über unser Schicksal anhörte und protokollieren ließ. Dann teilte er mit, der Bericht käme auf ewig in den Panzerschrank, es gäbe ihn faktisch nicht. Wir hätten zu schweigen. Wir dürften den demokratischen Sektor Berlins nicht verlassen. Es war wie in der Verbannung.“[Fn 111]
Zum Zeitpunkt der „Rückführung“ von Lotte Rayß nach Berlin (DDR) war Friedrich Wolf bereits tot. In der Sowjetunion setzte nach Stalins Tod im März 1953 und der Erschießung des seit 1938 als Chef („Kurator“) aller sowjetischen Geheimdienste wirkenden Lawrenti Beria (geb. 1899), der auch für die Gulags zuständig war, ein politisches „Tauwetter“ ein. Wenn auch noch in geringer Zahl wurden in der Sowjetunion „straffällig“ gewordene Personen freigelassen und nach Deutschland zurückgeführt – auf eigene Kosten. Lotte Rayß berichtet detailliert über die Absurditäten auch dieses Vorgangs für sie im Jahr 1954. Die sowjetische Botschaft in Berlin schickt sie ins ZK der SED. Dort musste sie den üblichen Fragebogen ausfüllen und mündlich eine „Schweigeverpflichtung“ abgeben.[Fn 112]
An diese Auflage haben sich nahezu alle Rückkehrer gehalten, woraus heute gelegentlich der weltfremde Vorwurf abgeleitet wird, die Betroffenen hätten selbst zur Verschleierung der wahren Historie beigetragen. Dagegen sprechen der unfreundliche Empfang, verbunden mit Drohungen, die in der Sowjetunion eingeübte Schutzreaktionen wachriefen und entsprechendes Verhalten verstetigten. Die Literaturwissenschaftlerin Inge Münz-Koenen (Jg. 1942), selbst Tochter von deutschen Kommunisten und in der Sowjetunion geboren, erklärt diese nahezu stereotypen Reaktionenweisen:
„Der SED-Fragebogen war ein zehnseitiges Konvolut, bestehend aus 37 Spalten mit je zwei bis zehn Einzelfragen, d.h. insgesamt über 100 Angaben, die Arbeits- und Wohnorte nicht mitgerechnet. Es war ein standardisierter Fragebogen, der Parteimitgliedschaft voraussetzte, selbst wenn der/die Befragte … mit ihrer sowjetischen Staatsbürgerschaft der SED gar nicht angehören konnte und kein KPD-Mitglied gewesen war. Wiederum einige Tage später … war der Fragebogen ausgewertet… Geradezu reflexhaft fühlt sie sich [in diesem Fall Dorothea Lesser, HG] zur Rechenschaft selbst dann verpflichtet, wenn die Auskunft ihr selbst schaden könnte.“[Fn 113]
Die in der Sowjetunion erlebte und in der DDR fortgesetzte „inquisitorische Fragepraxis“ und der „Offenbarungszwang“ haben sich tief in die Psyche der Betroffenen eingeprägt, hinzu kam die Schweigeverpflichtung. Die einen redeten nicht darüber aus Überzeugung, andere aus Scham, Angst oder aus Furcht, belangt zu werden, oder einfach deshalb, weil sie nicht riskieren wollten, den VdN-Status („Verfolgter des Naziregimes“) und damit die 1950 eingeführten, für DDR-Verhältnisse hohen Ehrenpensionen zu verlieren.
Auch Lotte Rayß gerät unter diesen Druck. Sie darf niemals über ihre Erlebnisse in der Sowjetunion reden. Bis zur Auflösung der DDR wurde ihr wie anderen ehemaligen Gefangenen und Verbannten zum einen misstraut und die Überwachung durch die Staatssicherheit dauerte an (jedenfalls hatten alle „Ehemaligen“ diesen Eindruck). Zum anderen gab es im regionalen Umfeld und auf Arbeit immer wieder den falschen Eindruck einer besonderen Privilegierung als „Verfolgte des Naziregimes“.
Nach anfänglich vergeblicher Arbeitssuche ließ sich Lotte Rayß zur Russischlehrerin ausbilden und begann 1955 mit ihrer Lehrertätigkeit. Sie traf dann die Söhne der Schweizer Familie Strub wieder und heiratete im Dezember 1959 Richard Strub, der zu ihr in die DDR übersiedelte. Die lange Haftzeit und Verbannung hinterließen außer den gesundheitlichen Folgen auch schwere traumatische Störungen, die sie besonders in den letzten Lebensjahren immer mehr verbitterten.
Die Geschehnisse, die Lotte Strub in der „Freiheit“ widerfuhren, ähneln in Freud und Leid den Schicksalen derer, die Meinhard Stark anhand anderer Gulag-Frauen erzählt, die nach ihrer Rückkehr über die gesamte DDR verteilt wurden.[Fn 114] Allerdings gab es bei ihr eine Besonderheit. Sie bekam in Berlin eine Wohnung zugewiesen, weil sie nicht nach Stuttgart zurücksollte, sondern in der Nähe unter Aufsicht zu bleiben hatte. Der sowjetische Auslandsgeheimdienst unternahm dann den vergeblichen Versuch, sie im Westen für sich arbeiten zu lassen.
Lotte Rayß war, auch das eine Ausnahme unter den Rückkehrern aus der Sowjetunion, nie Mitglied der KPD gewesen. Sie konnte also nach ihrer Freilassung 1954 auch keine Anstalten unternehmen, eine Übernahme/Wiederaufnahme in die SED zu erreichen. Ihr blieben damit zahlreiche weitere ehrabschneidende Zumutungen und Rechtfertigungen erspart.
Als dann Liselotte Strub 1961 doch den Antrag um Aufnahme in die SED stellte, um – wie sie wohl irrtümlich meinte – ihrem Sohn eine bessere Bildungschance zu schaffen, änderte die Partei für sie die Aufnahmeregeln: Statt des vom Statut vorgesehenen einen Jahres Probezeit („Kandidatenjahr“) dauerte es bei ihr drei Jahre. Als sie dann 1964 Mitglied wurde, ging sie – frustriert über den Umgang mit ihr – nie zu einer Versammlung, mit der Begründung, sie sei bettlägerig.
Im gleichen Jahr 1964 erhielt Liselotte Strub, als eine der Letzten, den bereits 1963 erstellten Bescheid über ihre Rehabilitierung durch die sowjetischen Behörden. Das bedeutete für sie – nach zehn Jahren in der DDR – das Ende möglicher Verdächtigungen. Die amtliche Freisprechung hob aber das Redeverbot nicht auf.
Parallel zu diesen Ereignissen muss Liselotte Strub 1964 krankheitsbedingt ihren Lehrerberuf aufgeben. Sie absolviert dann eine Zusatzausbildung für künstlerisches Volksschaffen und übernimmt ehrenamtlich die Leitung eines Klubs im Wohngebiet, in dem sie Malkurse durchführt, Ausstellungen und Konzerte organisiert.
Liselotte Strub teilt in Berlin ihr Schicksal mit ihrer Freundin Anna („Anni“) Franken (1900–1980). Sie war die Frau von Fritz Franken (1897–1942), die sie beide, wie im Buch beschrieben, in Engels kennenlernte. In Deutschland war er Redakteur in mehreren KPD-Zeitungen gewesen und emigrierte 1934 mit seiner Frau in die Sowjetunion. Diese war zuvor in der Gestapo-Haft schwer gefoltert worden.
Lotte Rayß beschreibt in den Memoiren ihre enge Bindung an die Familie Franken in Engels. Fritz Franken wurde im Februar 1938 verhaftet, fünf Tage nach Lotte Rayß. Drei Jahre später kam er im Gulag ums Leben. Kurz nach der Verhaftung ihres Mannes deportierte der NKWD Anna Franken mit ihrer Tochter Maria in den Gulag auf der Taimyrhalbinsel, den nördlichsten Teil der Erde. Sie kam erst 1958 zurück, zwanzig Jahre später.
Wie Liselotte Strub am Anfang ihrer Erinnerungen schreibt, gab es vor diesen nun hier gedruckten Memoiren einige in Erzählform geschriebene Berichte, die sie in Gedanken an Anna Franken richtete. Aus Angst vor deren Entdeckung wurden die „Briefe“ aber von ihr vernichtet.
Die von Liselotte Strub ebenfalls vorliegenden, in diesem Band nicht veröffentlichten Erinnerungen ihres vierten Buches zeigen, wie auch die Biographien der von Meinhard Stark interviewten Frauen mit ähnlichem Schicksal: Es blieb bei allen Rückkehrerinnen eine Grundangst vor dem KGB, dem sowjetischen Nachfolgegeheimdienst des NKWD, vor der Staatssicherheit der DDR und vor anderen Geheimdiensten. Diese nie enden wollende Furcht wurde bei Lotte Strub noch verstärkt durch die Ahnung, dass der einst von ihr gerettete Markus Wolf inzwischen im Auslandsgeheimdienst der DDR irgendeine größere Rolle spielte.[Fn 115]
Es gibt von unserer Autorin nicht nur die vier Bücher Erinnerungen. Sie hat in diversen Randnotizen zu Texten anderer Personen und persönlichen Niederschriften Schlüsse über Friedrich Wolf und ihr eigenes Leben gezogen, die sie nicht in ihre Memoiren einbringen wollte. Sie erklären aber Vieles. Deshalb abschließend zwei Zitate aus diesen Aufzeichnungen, eines über den Menschen Friedrich Wolf, den sie liebte, ja anhimmelte, der sie beschützte, aber sie auch ihrem Schicksal in der Sowjetunion überließ; und eine weitere Äußerung über ihr Schicksal; beide Anmerkungen sind undatiert, stammen aber vom Anfang der 2000er Jahre:
- „Wolfs zu viel erdachte Selbstdarstellung liegt zum Teil auch daran, daß er von klein auf vom despotischen Vater gequält, beschimpft [Fn ‚] verachtet worden war als Mann, Feigling, Duckmäuser, Versager. Und Wolf dachte sich als Held, als tapfer, mutig, siegreich, was ihn später zu Verfälschungen seiner Biographie veranlasste. Seine erdachten Erfolge, als Tatsachen der Mutter geschrieben, wußte er, daß sie diese Briefe dem Vater unter die Nase hielt. [Schuld daran waren] wohl seine Gene (vermutlich von der eiskalten Mutter geerbt) [.] Er liebte nur sich, sonst Niemanden. Stolz auf seine Schönheit, war auch sein geliebtes Geld nur dazu da, ihm allein zu nutzen. Else trug ausschließlich voreheliche Kleidung. Seine [erste] Frau Käthe, … [eine] Frau mit 2 Kindern [,] erhielt nie einen Pfennig Unterhalt. … 1936 will er Else und Kinder verlassen, um für immer zu mir und Lena nach Engels zu ziehen. Ich habe ein eigenes Haus, verdiene als Korrektor und Lektor gut. Freiberuflich bestens bezahlt als Buchillustrator. Er kann problemlos bei mir leben. Else und Kinder bekommen nichts, wie einst Käthe u[nd] 2 Kinder. Ich durchschau [das], breche die Beziehung ganz ab. 1937 reist er aus der SU aus. Genehmigung [,] weil er an der Span[ischen] Front will kämpfen. […] Spanien, nein! Er flieht vor [dem] NKWD, egal daß Else, seine Kinder zurückbleiben. Er rettet sein heißgeliebtes Ego an die Côte d‘Azur. Geld? Sein Schweizer Konto dank des Dramas ‘Mamlock’ ist achtstellig…“.
- „Zu oft haben sie mir meine Menschenwürde genommen. Das kann ich nicht vergessen. Die Schläge nicht, die Folterungen nicht, … [nicht die] Menschen, bei denen ein Lächeln ihre Augen nicht erreicht – vor denen habe ich Angst. Und solchen Menschen bin ich allzu oft begegnet: Menschen, die über Leichen gehen.“
Fußnoten
[1] Vgl. Horst Groschopp: Max Hoelz. Ein charismatischer Revolutionär. In: Max Hoelz: Vom „Weißen Kreuz“ zur „Roten Fahne“ (1929). Mailand 2017, S. 9–35.
[2] Vgl. Horst Groschopp: Nachwort. In: Fritz Kummer. Eines Arbeiters Weltreise. Leipzig 1986, S. 398–415, erweitert in Ders.: Der „proletarische Weltbürger“ Fritz Kummer. Zur deutschen Arbeiterreiseliteratur bis 1933. In: Weimarer Beiträge. Berlin 1985. 31. Jahrgang. Heft 12, S. 2025–2043.
[3] Vgl. F[ritz] Pose/E[rich] Matté/E[rich] Wittenberg: [Was] Berliner Proleten vom Moskauer Elektrosawod erzählen. Moskau [Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter] 1932; englische Ausgabe unter dem Titel: German workers in a Moscow factory. German workers at elektrozavod tell the story of their life and work. Moscow/Leningrad. Co-operative Publication Society of Foreign Workers in the USSR 1933. – Siehe dazu die umfassende Studie von Sergej Shurawljow: „Ich bitte um Arbeit in der Sowjetunion.“ Das Schicksal deutscher Facharbeiter im Moskau der 30er Jahre. Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova/Ingolf Hoppmann. Berlin 2003.
[4] Vgl. Lotte Strub-Rayß: Verdammt und entrechtet. Stuttgart – Basel – Moskau… 16 Jahre Gulag und Verbannung. Aus dem Nachlass herausgegeben von Konrad Rayß. Mit einem kulturwissenschaftlichen Nachwort von Horst Groschopp. Berlin: Trafo Verlag 2018, 666 S. (ISBN 978–3–86465–049–9).
[5] Vgl. Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf (Hrsg.): Humanismus: Grundbegriffe. Berlin/Boston 2016, S. 12, 19, 23, 225 f.
[6] Bei Zitaten, die den Memoiren entnommen sind, erfolgt der Beleg unmittelbar anschließend in eckiger Klammer.
[7] Vgl. Wolfgang Ruge: Lenin. Vorgänger Stalins. Eine politische Biografie. Bearbeitet und mit einem Vorwort von Eugen Ruge. Wladislaw Hedeler (Hrsg.): Berlin 2010.
[8] Vgl. Simon Sebag Montefiore: Der junge Stalin. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Frankfurt a.M. 2007. – Ders.: Stalin. Am Hof des roten Zaren. Aus dem englischen von Hans Günter Holl. Frankfurt a.M. 2005.
[9] Vgl. Kapitel 7 in: Horst Groschopp: Der ganze Mensch. Die DDR und der Humanismus. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. Marburg 2013, S. 493–514.
[10] Vgl. Der historische Materialismus. Für Arbeiter erklärt von Hermann Gorter. Aus dem Holländischen übersetzt von Anna Pannekoek. Mit einem Vorwort von Karl Kautsky. Stuttgart 1910.
[11] Vgl. J[oseph] Stalin: Zu den Fragen des Leninismus (25. Januar 1926; deutsch 1927). Moskau 1936 [1934] (Kleine Bücherei des Marxismus-Leninismus, Band 22). – Der Titel schränkte die erlaubten Fragen auf das in dieser Broschüre vorgegebene Spektrum ein. Der Stil der Antworten erlaubte keinen Widerspruch. Es herrscht ein inflationärer Gebrauch des Adjektivs „richtig“ bei den Positionen Stalins.
[12] Stalin: Zu den Fragen des Leninismus, S. 17, 23, 36, 54, 55. – Vgl. J. Stalin: Über Lenin. Moskau 1946.
[13] Über Zeus (lat. Juppiter) steht nur das Schicksal, personifiziert in den Moiren bzw. der Moira.
[14] Friedrich Wolf hatte noch weitere außereheliche Kinder, was hier nicht erörtert werden soll.
[15] Главное управление лагерей (abgekürzt ГУЛаг).
[16] Vgl. Warlam Schalamow: „Artikel 58“. Die Aufzeichnungen des Häftlings Schalamow. Aus dem Russischen von Giesela Drohla. Köln 1967; Neuausgabe unter dem Titel: Kolyma. Insel im Archipel. München/Wien 1975; unter dem Titel: Geschichten aus Kolyma. Frankfurt a.M. 1983; aktuelle Ausgaben unter dem Titel: Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma. – Ders.: Wischera. Antiroman. Berlin 2016. – Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULAG. Aus dem Russischen übersetzt von Anna Peturnig. Bern/München 1974.
[17] In der Deutschen Bücherei Frankfurt am Main, ab 1947 im Zuge der deutschen Teilung in der späteren Bundesrepublik durch Buchhandel und Staat gefördert, begann der Aufbau einer „Emigrantenbibliothek“ 1950, als Verfolgte Literaten ihre Bücher dorthin sandten, weil diese nicht angeschafft worden waren.
[18] David Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933–1945. Aus dem Amerikanischen von Lore Brüggemann. Frankfurt a.M. 1981, S. 439 f., hier S. 440.
[19] Lotte Rayß kommt nicht vor bei Walther Pollatschek: Friedrich Wolf. Eine Biographie. Berlin 1963.
[20] Vgl. Friedrich Wolf: Bilder einer deutschen Biographie. Eine Dokumentation von Lew Hohmann. Berlin 1988.
[21] Sergej Lochthofen: Schwarzes Eis. Der Lebensroman meines Vaters (2012). Reinbek bei Hamburg 2014, S. 16.
[22] Vgl. Ditte Clemens: Schweigen über Lilo. Die Geschichte der Liselotte Herrmann. Ravensburg 1993, hier zitiert nach der Ausgabe Rostock 2002.
[23] Vgl. So kannten wir dich, Lilo. Lilo Herrmann, eine deutsche Frau und Mutter. Mit Beiträgen von Max Burghardt, Friedrich Wolf u.a. Berlin 1954.
[24] Vgl. Karl Heinz Jahnke: Jugend im Widerstand 1933–1945 (1970). Frankfurt a.M. 1985, S. 32–43. – Die Forschungen von Jahnke waren in der DDR Teil der Arbeit am offiziellen Geschichtsbild der Freien Deutschen Jugend, was der Wertschätzung seiner Veröffentlichungen im Westen schadete und sicher dazu beitrug, ihn 1991 wegen „Bedarfsmangel“ zu kündigen. Er erhielt allerdings daraufhin eine Gastprofessur in Düsseldorf. – Vgl. Karl Heinz Jahnke: Liselotte Herrmann. In: Ders.: Ermordet und ausgelöscht. Zwölf deutsche Antifaschisten. Mit einem Geleitwort von Karl Kielhorm. Freiburg im Breisgau 1995, S. 33–43.
[25] So in einem Brief von Ditte Clemens an mich vom 24. April 2017.
[26] Vgl. Siegfried Grundmann: Der Geheimapparat der KPD im Visier der Gestapo. Berlin 2008. – Der Autor erwähnt Lilo Herrmann nicht.
[27] Vgl. Willi Bohn: Stuttgart geheim. Ein dokumentarischer Bericht. Frankfurt a.M. 1969. – Heidrun Holzbach-Linsenmaier: Engstirnige Magnifizenz. In: Die Zeit von 15. Juli 1988. – Lothar Letsche: Friedrich Wolf. Die Jahre in Stuttgart 1927–1933. In: Einspruch. Mitteilungen der Mitglieder und Freunde der Friedrich Wolf Gesellschaft. Berlin 2000, 8. Jahrgang, S. 21–31.
[28] Vgl. Friedrich Wolf: Lilo Herrmann. Die Studentin von Stuttgart. Ein biographisches Poem. Berlin 1951. – Das Werk wurde anschließend von Paul Dessau vertont zu einem Melodram, das in der DDR in der 9. Klasse Schulstoff war.
[29] Zur Entstehung des Werkes vgl. Simone Barck: Antifa-Geschichte(n). Eine literarische Spurensuche in der DDR der 1950er und 1960er Jahre. Köln/Weimar 2003, S. 28–32.
[30] Vgl. Wolf: Lilo Herrmann (zitiert nach Clemens: Schweigen über Lilo, S. 123).
[31] Brief von Ditte Clemens vom 24. April 2017.
[32] Vgl. Clemens: Schweigen über Lilo, S. 85.
[33] Brief von Ditte Clemens vom 24. April 2017.
[34] Vgl. Clemens: Schweigen über Lilo, S. 84 f.
[35] Vgl. Peter Bachmann/Manfred Kliem/Kurt Zeisler (Hrsg. im Auftrag der Abteilung Propaganda des ZK der SED): Sieger der Geschichte. 120 Jahre Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in Bildern und Dokumenten. Berlin 1963. – Auf dem roten Cover sind rechts die Helden der Geschichte porträtiert: Karl Marx, Friedrich Engels, August Bebel, Karl Liebknecht, Ernst Thälmann und Walter Ulbricht.
[36] Vgl. Clemens: Schweigen über Lilo, S. 82 ff., 103 ff.
[37] Lothar Letsche in einem Mail an mich vom 3. Mai 2017.
[38] Lothar Letsche in einem Mail an mich vom 23. März 2017. – Zwischenzeitlich widmete sich eine Magisterarbeit der Biographie. Vgl. Karin Algasinger: L. Herrmann. Untersuchungen zur Lebensgeschichte einer Widerstandskämpferin und zur Rezeption ihrer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus von ihrer Verhaftung bis heute in der Publizistik und der wissenschaftlichen Forschung. Magisterarbeit (Fach Politikwissenschaft), Universität Passau 1991.
[39] Letsche, Mail, 23. März 2017.
[40] Vgl. Barck: Antifa-Geschichte(n), S. 30 f.
[41] Vgl. Clemens: Schweigen über Lilo, S. 108 f.
[42] Vgl. Reinhard Müller (Hrsg.): Georg Lukács/Johannes R. Becher/Friedrich Wolf u.a.: Die Säuberung. Moskau 1936. Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 75.
[43] Vgl. Meinhard Stark: Gulag-Kinder. Die vergessenen Opfer. Berlin 2013.
[44] Vgl. Fred Wilhelm: Verdammt und verbannt durch Stalins Hand. In: Freitag vom 20. Dezember 2013, S. 3. – Vgl. die „Editorische Notiz“.
[45] Stark: Gulag-Kinder, S. 404.
[46] Vgl. Henning Müller: Antifaschismus und Stalinismus. Zum Beispiel Friedrich Wolf. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Berlin 1991. 33. Jg., S. 165–181, hier S. 169. – Noch ohne jegliche Hinweise auf Lotte Rayß und teilweise fehlerhafte Angaben im Lebenslauf Wolfs vgl. Henning Müller: Der jüdische Kommunist Dr. Friedrich Wolf. Dokumente des Terrors und der Verfolgung 1931–1944. Ein Memorial anläßlich des Jahres der 50. Wiederkehr der „Reichspogromnacht“ vom 9. November 1938. Zum 100. Geburtstag Friedrich Wolfs aus Neuwied im Jahre 1988. Neuwied 1988.
[47] Vgl. Henning Müller: Friedrich Wolf. 1888–1953. Deutscher Jude, Schriftsteller, Sozialist. Berlin 2009 (Jüdische Miniaturen, Band 78). ––
[48] Vgl. die beiden angekündigten Bücher in den „Jüdischen Miniaturen“, Fußnote 52 (Henning Müller: Der Mann mit der kristallenen Seele. Liebe im Schatten des Abgrunds. Friedrich Wolf und Lotte Rayß. Aus ihren Lebenserinnerungen erzählt von Lotte Rayß) und Fußnote 89 (Henning Müller/Konrad Rayß: Lotte Rayß. Geliebt, verbannt und unerwünscht. 17 Jahre in Stalins GULAG).
[49] Ein entsprechendes Manuskript befindet sich beim Herausgeber.
[50] Vgl. Müller: Friedrich Wolf, Foto auf S. 47 unten, Original beim Herausgeber.
[51] Vgl. Hans-Joachim Seidel, unter Mitarbeit von Lothar Letsche: Lotte Rayss (1912–2008). Eine Stuttgarterin im Gefolge von Friedrich Wolf. Opfer von Verfolgung und Unrecht in zwei Regimen und kurze Zeit die Freundin meines Vaters. Gransee 2015.
[52] Zur Erinnerung: Der Bruder wird später SS-Offizier [139].
[53] In seinen letzten Lebensjahren brach Wolf mit diesen Grundsätzen, rauchte Pfeife und trank Alkohol. Vgl. Ursula Schmidt-Goertz: Gefährtin eines Feuerkopfs. Else Wolf. Ein bergisches Frauenschicksal als Symbol einer ganzen Epoche. Eine zeit- und kulturgeschichtliche Dokumentation. In: Rheinisch-Bergischer Kalender 1988. Heimatjahrbuch für das Bergische Land. Bergisch-Gladbach 1988, S. 182.
[54] Am 26. Mai 1913 trat Wolf in Dresden aus der isrealitischen Religionsgemeinschaft aus und wurde mit der Nummer 160 ins dortige Dissidentenregister eingetragen. Vgl. Schmidt-Goertz: Gefährtin eines Feuerkopfs, S. 145. – Zur Geschichte der „Konfessionsfreien“ vgl. Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenker und Kultur in Deutschland (1997). Marburg 2011.
[55] Vgl. Friedrich Wolf: Herunter mit dem Blutdruck. Stuttgart 1929. – Ders.: Schütze Dich vor dem Krebs. Seine wirkliche Verhütung und operationslose Behandlung. Stuttgart 1929.
[56] Vgl. Ulrich Herrmann (Hrsg.): „Mit uns zieht die neue Zeit…“. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung. Weinheim/München 2006.
[57] Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. Göttingen 1974.
[58] Vgl. Alfred Kurella: Mein Beruf. In: Ders.: Wofür haben wir gekämpft? Beiträge zur Kultur und Zeitgeschichte. Berlin/Weimar 1976, S. 9. – Kurella überstand den „Großen Terror“ im Kaukasus. Er durfte im Februar 1954 in die DDR ausreisen. – In ihren Memoiren trifft Lotte Rayß auf eine Freundin von ihm, die blonde „Walküre“.
[59] Alfred Weber in der Erinnerung an Max Weber. Vgl. Gangolf Hübinger: „Journalist“ und „Literat“. Vom Bildungsbürger zum Intellektuellen. In: Gangolf Hübinger/Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich. Frankfurt a.M. 1993, S. 103. – Vgl. Alfred Kurella: Von der Feder zum Hammer. In: Hammer und Feder: Deutsche Schriftsteller aus ihrem Leben und Schaffen. Berlin 1955, S. 300–304. – Justus H. Ulbricht: Jugend mit George. Alfred Kurellas Ideen von 1918. Versuch einer Kontextualisierung. In: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann (Hrsg.): George-Jahrbuch, Band 9, Berlin 2012, S. 219–241.
[60] Vgl. Michael Kienzle/Dirk Mende: Zerschnittetes Netz. In: Karlheinz Fuchs (Redaktion): Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt. Eine Ausstellung … Stuttgart 1983, S. 60–83.
[61] Vgl. Michael Kienzle/Dirk Mende (Hrsg.): Friedrich Wolf. Die Jahre in Stuttgart 1927–1933. Ein Beispiel. In: Kulturamt Stuttgart (Hrsg.): Katalog der Begleitausstellung zu Die Machtergreifung … Austellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Stuttgart 1983. – Vgl. S. 26–29 den maschinenschriftlichen Lebenslauf von Friedrich Wolf vom 6. Juli 1951. – Den Hinweis auf diese Dokumentation verdanke ich Heiner Jestrabek.
[62] Else Wolf an Friedrich Wolf. 16. Juli 1932. Zitiert aus dem Nachlass von Friedrich Wolf in Seidel: Lotte Rayß, S. 24.
[63] Vgl. Schmidt-Goertz: Gefährtin eines Feuerkopfs, S. 148 ff.
[64] Schmidt-Goertz: Gefährtin eines Feuerkopfs, S. 157.
[65] Vgl. Friedrich Wolf: Kunst ist Waffe! Eine Feststellung. 1928. In: Ders.: Kunst ist Waffe. Aufsätze. Leipzig 1969, S. 5–25.
[66] Vgl. Friedrich Wolf: Die Natur als Arzt und Helfer. Das neue naturärztliche Hausbuch. Stuttgart 1928.
[67] Else Kienle: Frauen. Aus dem Tagebuch einer Ärztin. Berlin 1932. – Diesen Hinweis verdanke ich Heiner Jestrabek.
[68] Am 26. Mai 1931 schreibt Wolf nach Hause an seine Frau Else: „Arbeiten ist hier direkt wie Sport, Ehrensache! Die steigenden Ziffern des Donbass (Kohlengebiet) sind eine Familienangelegenheit des ganzen Volkes.“ Zitiert nach Kienzle/Mende (Hrsg.): Friedrich Wolf, S. 251. – In diesem ukrainisch-russischen Kohlebecken arbeiteten zu diesem Zeitpunkt hunderte deutsche Bergleute aus dem Ruhrgebiet neben einheimischen und repressierten Arbeitern. Wer bis Mitte der 1930er Jahre nicht nach Deutschland zurückgekehrt war, wurde in der Regel Opfer des Terrors. Vgl. Wilhelm Mensing: Von der Ruhr in den GULag. Opfer des Stalinschen Massenterrors aus dem Ruhrgebiet. Essen 2001.
[69] Vgl. Fragebogen [des ZK der SED für Rückkehrer aus der Sowjetunion betreffend Raysz Liselotte] vom 12. Oktober 1954. SAPMO-Bundesarchiv. Kopie Dank Meinhard Stark im Besitz des Herausgebers.
[70] Keine Erwähnung in der Autobiographie findet, dass Lotte Rayß (wahrscheinlich 1932) in Stuttgart die „Marxistische Arbeiterschule“ (Masch) besuchte.
[71] Die Kommunistische Internationale. Auswahl von Dokumenten der Kommunistischen Internationale von der Gründung bis zum VI. Weltkongress 1919–1927. Band 1. Berlin 1955, S. 269.
[72] Zitiert nach Kienzle/Mende (Hrsg.): Friedrich Wolf, S. 268.
[73] Vgl. [Friedrich Wolf]: Der Reichstag brennt! Ein Wort an das deutsche Volk von Ulrich v. Hutten. Zürich 1933 [8 Seiten].
[74] Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz, vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D28320.php (abgerufen am 20.2.2017).
[75] Vgl. Tilman Kluttig: Der Basler Gewerbeinspektor Walter Strub (1882–1938). Leser und Autor der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse. In: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 2012, 25. Jg., H. 50, S. 133–150.
[76] Vgl. Peter Diezel: Theater im sowjetischen Exil. In: Werner Mittenzwei/Henning Rischbieter/Hansjörg Schneider/Frithjof Trapp (Hrsg.): Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters. Band 1: Verfolgung und Exil deutschsprachiger Theaterkünstler. München 1999, S. 289–318.
[77] Pike: Deutsche Schriftsteller, S. 203.
[78] Die Beschreibung der „Hochzeit“ in den Memoiren ist ein Höhepunkt der Schilderungen sowjetischer Lebensverhältnisse.
[79] Vgl. Bund der Kämpfenden Gottlosen der USSR [Hrsg.]: Der Bund der Kämpfenden Gottlosen und seine Arbeit. Moskau 1931.
[80] Bernhard H. Bayerlein (Hrsg.): Georgi Dimitroff: Tagebücher 1933–1943. Berlin 2000, S. 162, zitiert nach Hedeler/Münz-Koenen (Hrsg.): „Ich kam als Gast…“, S. 195.
[81] Inge Münz-Koenen: Zur Einführung. Zerrisssene Lebenslinien. Familienschicksale in den Jahren des Exils. In: Wladimir Hedeler/Inge Münz-Koenen (Hrsg.): „Ich kam als Gast in euer Land gereist …“. Deutsche Hitlergegner als Opfer des Stalinterrors. Familienschicksale 1933–1956. Berlin 2013, S. 7–13, hier S. 7, 9. – Das gesamte Gedicht, eingebunden in den Brief des entlassenen Sträflings, ist dokumentiert in Hedeler/Münz-Koenen (Hrsg.): „Ich kam als Gast…“, S. 21.
[82] Vgl. dazu ihr späteres Urteil am Ende dieses Nachwortes.
[83] Lochthofen: Schwarzes Eis, S. 446.
[84] Vgl. August Bebel: Die Frau und der Sozialismus (1883). Berlin 1964, S. 414: „Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.” – Bebel bezieht sich dabei auf den Zweiten Brief des Paulus an die Thessalonicher: „wenn jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen.“ (3, 10) – Er kann die Relativierung „nicht will arbeiten“ ignorieren, weil er zuvor in seinem Werk ein Programm befreiter Arbeit entfaltet.
[85] Vgl. Anne Applebaum: Der Gulag. Aus dem Englischen von Frank Wolf. Berlin 2003, S. 47.
[86] Vgl. Hans-Jürgen Mende (Hrsg.): Leo Trotzki. Terrorismus und Kommunismus (1920)/Karl Kautsky. Von der Demokratie zur Staatssklaverei (1921). Berlin 1990.
[87] Trotzki: Terrorismus und Kommunismus, S. 137 f.
[88] Vgl. Ralf Stettner: „Archipel GULag“. Stalins Zwangslager. Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Entstehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems 1928–1956. Paderborn 1996.
[89] Das bedeutet nicht, dass entsprechende Einsatzüberlegungen an der Spitze von Partei und NKWD fehlten. Dieses Feld liegt noch weitgehend im Dunkeln.
[90] Vgl. Applebaum: Der Gulag.
[91] Meinhard Stark: Frauen im Gulag. Alltag und Überleben. 1936 bis 1956. München/Wien 2003, S. 37.
[92] Vgl. Kautsky: Von der Demokratie zur Staatssklaverei, S. 245–283.
[93] Einen großen Einfluss auf diese Interpretation hatte der zuerst in London 1946 erschienene Erinnerungsroman von Arthur Koestler: Sonnenfinsternis (Darkness at noon).
[94] Vgl. Herrmann Weber/Ulrich Mählert: Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953. Paderborn 1998.
[95] Christoph Jünke: Die „Große Säuberung“ als Schädelstätte des Sozialismus. In: Lernen aus der Geschichte. Magazin [Bundesstiftung Aufarbeitung] vom 29. März 2017, S. 4–7, hier S. 6.
[96] Jörg Barberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. München 2012, S. 131.
[97] Vgl. Müller (Hrsg.): Die Säuberung.
[98] Gustav Regler: Das Ohr des Malchus. Köln 1960, S. 347, zitiert nach Müller (Hrsg.): Die Säuberung, S. 8.
[99] Wladislaw Hedeler: Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, szenierung und Wirkung. Mit einem Essay von Steffen Dietzsch. Berlin 2003, S. 277.
[100] Hans Modrow: Nachwort. In: Andrej Reder: Dienstreise. Leben und Leiden meiner Eltern in der Sowjetunion 1935 bis 1955. Berlin 2015, zitiert nach Ders.: Umkämpfte Erinnerungorte. In: Junge Welt vom 13. Dezember 2014, S. 12, https://www.jungewelt.de/artikel/253079.umkämpfte-erinnerungsorte.html (abgerufen am 4.4.2017).
[101] Vgl. Stark: Frauen im Gulag.
[102] Vgl. Eugen Ruge (Hrsg.): Wolfgang Ruge. Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion. Berlin 2011.
[103] Vgl. Wilfriede Otto: Visionen zwischen Hoffnung und Täuschung. In: Thomas Klein/Wilfriede Otto/Peter Grieder: Visionen. Repression und Opposition in der SED (1949–1989). Teil I. Frankfurt/Oder 1996, S. 137–336. – Zum Ende der DDR waren 160 Remigranten namentlich bekannt.
[104] Vgl. Eva Donga-Sylvester/Günter Czernetzky/Hildegard Toma (Hrsg.): „Ihr verreckt hier bei ehrlicher Arbeit!“ Deutsche im GULAG 1936–1956. Anthologie des Erinnerns. Graz/Stuttgart 2000.
[105] Vgl. Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler. Zürich 1949. – Zum Auslieferungsvorgang vgl. Pike: Deutsche Schriftsteller, S. 457–459. – Hans Schafranek: Zwischen NKWD und Gestapo. Die Auslieferung deutscher und österreichischer Antifaschisten aus der Sowjetunion an Nazideutschland 1937–1941. Frankfurt a.M. 1990.
[106] Vgl. Susanne Leonhard: Gestohlenes Leben. Schicksal einer politischen Emigrantin in der Sowjetunion. Frankfurt a.M. 1956. – Die Publikation hatte sich wegen ihrer sozialistischen Gesinnung verzögert, aber auch wegen ihrer Ablehnung, nach ihrer Übersiedlung aus der DDR nach Westberlin mit dem US-Geheimdienst zusammenzuarbeiten, von dem sie einige Monate interniert wurde.
[107] Vgl. Wolfgang Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder. Köln 1955.
[108] Jewgenija Semjonowna Ginsburg: Marschroute eines Lebens. Ins Deutsche übertragen von Swetlana Geier. Reinbek bei Hamburg 1967.
[109] Tamara Petkewitsch: Die Liebe gab mir Hoffnung. Erinnerungen. Aus dem Russischen von Renate Reschke (zuerst russisch 1993). Berlin 2001.
[110] Das „Rote Kreuz“ hatte die „Internationale Rote Hilfe“ (IRH), auch bekannt unter dem russischen Akronym MOPR, im März 1948 abgelöst, die per Definition für die „Kämpfer der Revolution“ zuständig und als Ersatz für das Rote Kreuz 1922 eingeführt worden war. Mit dem Ende der MOPR verloren Inhaftierte und Verbannte, die auf eine Rückführung hofften, bis Juni 1948 eine ansprechbare Instanz. Vgl. Susanne Leonhard: Fahrt ins Verhängnis. Als Sozialistin in Stalins Gulag. Freiburg im Breisgau 1983, S. 247.
[111] Zitiert nach Groschopp: Der ganze Mensch, S. 167.
[112] Die Unterschrift „Werner“ im Fragebogen ist ein Kürzel für den Leiter der Abteilung Kader des ZK Kaden. Er war der formelle Gesprächsführer. Die meisten Protokolle mit den Rückkehrern waren von „Werner“ unterschrieben.
[113] Inge Münz-Koenen: „Er wollte leben, wie die Russen leben“. Ein Bilderbuch und seine Geschichte. In: Hedeler/Münz-Koenen (Hrsg.): „Ich kam als Gast…“, S. 119–129, hier S. 127.
[114] Vgl. Meinhard Stark: „Ich muss sagen, wie es war“. Deutsche Frauen des GULag. Berlin 1999, S. 178–250.
[115] Peter Jochen Winters/Nicole Glocke: Im geheimen Krieg der Spionage. Hans-Georg Wieck (BND) und Markus Wolf (MfS). Zwei biografische Porträts. Halle (Saale) 2014, S. 242, 252–255, 264, 456, 461.