BERLIN. Das Bundesverfassungsgericht behandelt demnächst die Verfassungsbeschwerden der beiden christlichen Kirchen betreffend das Berliner Ladenschlussgesetz vom 14. November 2006. Es geht ihnen um die Revision der dort formulierten Freiheiten bezüglich der Ladenöffnungszeiten an Sonntagen und an [angeblich, wie die Kirchen meinen] „staatlich anerkannten kirchlichen Feiertagen“.
Am 17. März 2008 erklärte die Gewerkschaft ver.di das niedersächsische Ladenschlussgesetz für verfassungswidrig. Die vielen Ausnahmen machten das Verkaufsverbot am Sonntag zur Farce. Immer mehr Kommunen wüssten die Sonntagsregelung zu umgehen, indem sie sich vom Land Niedersachsen als Ausflugsort einstufen ließen.
Sonntagsrechte
Aus anderen Bundesländern hört man ähnliches. Die Sonntagsfrage, speziell der Sonntagseinkauf trifft vor allem die cirka 1,5 Millionen Verkäuferinnen, also Frauen, aber auch Eisenbahner, Polizisten, Ärzte, Zöllner … Viele Mitmenschen arbeiten sonntags ebenso wie Kneipiers und andere Freizeitmanager. Pfarrer haben da auch nicht frei, sondern es ist ihr wichtigster Arbeitstag.
Um den kulturellen Umbruch zu verdeutlichen, um den es hier geht, ist auf eine (West-)Berliner Verordnung von 1954 zu verweisen. Danach waren am gesamten (!) Sonntag „alle öffentlich bemerkbaren Arbeiten verboten“. Während des „Hauptgottesdienstes“ (9–12 Uhr) hatten alle öffentlichen Versammlungen, Auf- und Umzüge unter freiem Himmel zu unterbleiben – ausgenommen waren so genannte höherwertige Unternehmungen. Das waren Aktivitäten, die der Kunst, Wissenschaft und Volksbildung dienten. Bis heute sind überall in Deutschland an christlichen Hochtagen bestimmte „Lustbarkeiten“ verboten (z.B. am 24. Dezember ab 17.00 Uhr).
Nach GG Art. 139 dient der Sonntag „der seelischen Erhebung“. Doch was ist das? Diese Begrifflichkeiten und bisherige Lesarten könnten es Atheisten und Humanisten verleiden, in den Chor derer einzustimmen, die da laut rufen: „Rettet den Sonntag jetzt!“ Dennoch geht es darum, für den freien Sonntag zu sein, aber gegen die christlichen Vereinnahmungen dieses „Tages zur Verlangsamung der Zeit“ (so ein Text von mir in: humanismus aktuell 1999, H. 5, S. 81–83; hier die pdf).
Beide Verfassungsbeschwerden der Kirchen beabsichtigen eine Stärkung der Position der Großkirchen. Es handelt sich hier letztlich um einen Angriff auf das Grundgesetz durch Festschreibung der kirchlichen Interpretation desjenigen Kirchenteils der Weimarer Reichsverfassung, der in das Grundgesetz inkorporiert ist – Interpretation in einer Weise, welche den Kirchen ein Alleinstellungsmerkmal zuschreiben würde, wie diese Artikel anzuwenden sind. Von Konfessionsfreien abgesehen, ist dies ein politischer Affront auch gegen Muslime und Juden in unserem Land. Somit steht das gesamte Feld der Reichweite der Trennung von Staat und Kirche und die religiös-weltanschauliche Neutralität unseres Staates zur Disposition.
An diesen Dimensionen lag es wohl, dass der Vorsitzende des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Hans-Jürgen Papier, vor Weihnachten 2007 zahlreiche Religionsgesellschaften um Stellungnahmen ersuchte, und – das ist durchaus ein begrüßenswertes Novum – auch einige weltanschauliche, ja atheistische Verbände angeschrieben hat und sie gleichermaßen um eine Position bat, darunter auch den Humanistischen Verband Deutschlands (HVD). Dieser hat auf seiner Bundesvorstandssitzung am 14. März 2008 eine umfängliche Stellungnahme diskutiert und verabschiedet, deren juristischer Teil nach Ablauf der Einreichungsfrist Mitte April veröffentlicht wird.
„Tag der Langsamkeit“
Es handelt sich beim Sonntag und bei den Ladenöffnungszeiten aber um eine allgemeine Kulturfrage. Fest- und Feiertage waren schon immer umstritten, weil an ihnen und mit ihnen kulturelle Macht praktiziert wird. Die Geschichte der Freidenker war immer auch ein „Kalenderkampf“. Sie haben ihn mitunter so grundsätzlich geführt, dass sie bereit waren, Feiertage einfach herzugeben, weil ihnen ihre christliche Interpretation missfiel. Menschen in nahezu allen Kulturen kennen feste wöchentliche Ruhezeiten und schätzen sie. Sie zu behaupten, kann man sogar als kulturelles Kampfziel gegen ökonomisierte Globalisierung nennen. Börsendatenkontinuität und Maschinenlaufzeiten sprechen gegen den Sonntag.
Der neoliberale Banker will in der Bewegung seiner Geldströme und Immobilienfonds rund um den Globus nicht für einen Tag gestoppt werden und kämpft gegen die Sonntagspause. Das Kulturkaufhaus Dussmann will jeden Sonntag öffnen. Tankstellen haben schon jetzt rund um die Uhr offen. Sie sind wie kleine Kaufhäuser und in Österreich schon Paketstationen. Warum sollen Kaufhäuser am Sonntag Vormittag geschlossen bleiben aus christlichen Feiertagsgründen, wenn bei der Tankstellenkonkurrenz nebenan das Angebot rund ums Auto und der Ausbau des Convenience Bereiches voll im Gange ist. „Am siebten Tag sollst Du shoppen“, schrieb der Berliner „Tagesspiegel“ im November 2007.
Allein in den 18 höchstentwickelten europäischen Ländern gibt es 57 verschiedene nationale Feiertage. Wieso – so fragt die Bankergilde – genügen nicht 8 (nennen wir sie mal so) „Aller-Heiligen-und-Staats-Feiertage“. Das ergäbe 8 plus 53 Sonntage, immerhin über sechzig „Freitage“; dazu dann noch mal 25 Urlaubs- und 15 Krank-Feiertage macht hundert Tage. Der europäische Durchschnittsmensch arbeitet nach dieser Rechnung nur an einem Viertel der Jahres-Tage – also „weg mit dem Sonntag“ und her mit der „Rollenden Woche“ – so hieß das entsprechende Arbeitszeitregime in der DDR und galt einigen überraschenderweise als sehr sozialistisch.
Aber: Erlernte Zeitrhythmen konstituieren Kulturen. Freizeitforscher warnen und verweisen auf Wandlungen in den tradierten Freizeitformen, die tägliche (Feierabend, Freistunden, Pausen), die wöchentliche (Wochenende, freie Tage, Feiertage) und jährliche (Blockfreizeit, Urlaub, Ferien). Diese Freizeiten werden ergänzt durch ganz andere: lang andauernde Altersfreizeit, Lebensphasenfreizeiten (Freisemester, Sabbatjahr, Erziehungsurlaub) – aber besonders „vergrößert“ durch Zwangsfreizeiten: Not, Invalidität, Behinderung, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit.
Schon jetzt arbeiten drei Viertel der Beschäftigten in Deutschland unter flexiblen Arbeitszeiten: Gleitzeit, Schichtarbeit, Arbeitszeitkonten … Ein Drittel hat schon jetzt kein traditionelles Arbeitsverhältnis mehr, sondern lebt in Zeitarbeit, Teilzeit, ABM, Hilfe zur Arbeit … Während die einen mehr frei haben als ihnen lieb ist, fallen bei denen, die arbeiten, jährlich mehr als acht volle Arbeitstage durch 57 Überstunden an – oft an Sonn- und Feiertagen erbracht.
Jeder weiß und spürt: Die Verpflichtungszeiten nehmen zu. Sie fressen Stunde um Stunde und Tag um Tag: Kinder- und Krankenbetreuung, Besorgungen, Arzt- und Verwandtenbesuche, Einkaufen, Reparaturen, Behördengänge … Vieles muss erledigt werden. Menschen wollen zwar die freie Wahl von Erholung und Gemeinschaft. Jede und jeder entwickelt eine eigene Freizeitökonomie und ‑ökologie. Aber wie der Tag, die Woche und das Jahr auch geplant werden mögen – immer kommt es anders.
Die Zeitstrukturen werden komplizierter und ein persönliches Zeitmanagement erforderlich. – Und wenn in einer solchen Situation der „Sonntag“ geopfert wird: jeder soziale Druck fiele weg, wenigstens einen Tag gemeinsam zu versuchen.
Wir würden den Sonntag vernutzen, vernaschen, verplempern und im sonstigen Getriebe irgendwie vertun. Es ginge alles seinen Gang ohne Pause in die Beschleunigungsfalle. Vielleicht sollten die Säkularen in Erinnerung an Paul Lafargues freidenkerisches Konzept des „Rechtes auf Faulheit“ gemeinsam den Sonntag zum „Tag der Langsamkeit“ ausrufen – oder einen „Tag der Entschleunigung“ fordern, wie es Bundesinnenminister Schäuble nannte.
„Tag der Entschleunigung“
Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble hielt am 6. Februar 2008 zum Sozialpolitischen Aschermittwoch in Essen bei der Evangelischen Akademie des Rheinlandes eine Grundsatzrede mit dem Tenor „gegen bundesweite Vorgaben der Feiertagsregelung“, hier geht es zur pdf seiner Rede. Er setzte voraus, dass es innerhalb Deutschlands lokale und regionale Unterschiede in der Feiertagskultur gibt und dass der sozialkulturelle Wandel der Lebensverhältnisse zu beachten ist. Dies führe zu einer „Pluralisierung der religiösen Landschaft“. Dass hier Weltanschauungen nicht vorkommen, gehört zum Weltbild des Redners und der meisten Zuhörer – steht zu vermuten.
Von den vier Punkten, die Schäuble länger ausführt, können Säkulare drei durchaus teilen:
Erstens sind Sonn- und Feiertage nach Schäuble Zeiten für Gemeinschaftsbildung und Selbstgestaltung: „Tage der Entschleunigung“. Ob und wie hier „seelische Erbauung“ stattfindet, dies könne der Staat nicht verordnen.
Zweitens gebe der Sonntag Zeit für Rituale. Dabei ist interessant, dass Schäuble durchaus einen modernen, erweiterten Ritualbegriff anwendet.
Drittens (und dies ist der oben genannte kritische Punkt) habe Religion nach wie vor eine bindende Kraft. Schäuble bemüht hier Böckenförde.
Wenn „Kultur“ statt „Religion“ formuliert wäre, könnte auch dieser Punkt akzeptabel sein. Er hat aber in der Rede Schäubles eine wichtige Funktion, nämlich die Kirchlichen zu beruhigen (angesichts seiner Skepsis gegenüber ihrer Klage), und sie zugleich aufzufordern, sich den neuen Bedingungen zu stellen.
Zitat Schäuble: „Nach dem EU-Beitritt Polens gab es große Sorgen unter den Einzelhändlern in Berlin und Brandenburg wegen der unbegrenzten Einkaufszeiten in unserem Nachbarland. Bei einem Gespräch sagte ein deutscher Vertreter des Einzelhandels zu seinem polnischen Kollegen: Ihr seid doch alle katholisch, da könnt ihr nicht die Geschäfte am Sonntag offen haben. Doch, sagte der, denn wir haben eine Frühmesse um 8 Uhr, dahin gehen die, die später arbeiten müssen.“ – Wer so flexibel denkt, der erfindet glatt die „rollende Kirche“ zur „rollenden Woche“.
Viertens erklärt Schäuble, dass das, was „seelische Erbauung“ sei, der Staat generell nicht definieren könne. Die „Bedürfnisse zur Organisation der eigenen Zeit sind vielfältiger geworden, und eine demokratisch gewählte Regierung hat das zu beachten.“ An dieser Stelle folgt der entscheidende Satz in der Rede des Bundesinnenministers. Er sagte in Richtung Kirchen: „Sie dürfen ihr Heil nicht in erster Linie von staatlicher Unterstützung erwarten.“
„Gottes Antistress-Maßnahme“
Vor einem Jahr warnte Kardinal Karl Lehmann in seinem Hirtenwort zur österlichen Bußzeit davor, den Sonntag „der Erlebniskultur“ preiszugeben. „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage“. Der Sonntag sei das „Herz des christlichen Lebens“ und bringe „den rastlosen Menschen zur Ruhe und Besinnung“. Dem Bürgermeister von Wilhelmdorf kam die Idee, deshalb einen „Erlebnissamstag“ einzuführen.
Selbstverständlich setzte unmittelbar nach Schäubles Rede die theologische Umsetzung seiner Kernthesen ein. Pfarrer Christoph Morgner (Kassel) teilte am 11.02.08 laut idea mit: „Der Sonntag ist ’Gottes Antistress-Maßnahme’“. Es war dies eine Rede gegen die „Atheismus-Welle“. Sie wollte zugleich ans schlechte Gewissen derjenigen Kirchengemeinden appellieren, die sich zwar gegen jede Ladenöffnung an Sonntagen wehren, aber selbst keine Bedenken haben, sonntags Basare zu veranstalten.
Wer „Sonntagsruhe“ im Netz sucht, stößt zuallererst auf theologische Debatten,
http://www.theology.de/themen/sonntagsruhe.php
doch bei näherem Hinsehen geht es darin um sehr säkulare Fragen. Und es geht darum, Gemeinschafts- und Freizeitbedürfnisse an Sonntagen kulturell als ausschließlich „christliche“ zu definieren und Kirchen kulturell zu legitimieren. Das ist umgekehrt nun einer der Hauptgründe, warum die Säkularen den Sonntag nicht den Kirchen überlassen, sondern sich selbst für dessen Erhalt und kulturelle Begründung stark machen sollten.
Aus Schweden
https://www.thelocal.se/20070202/6283/
kam 2004 der Vorschlag, feste religiöse Feiertage in bewegliche umzuwandeln, „die sich jeder an die Tage legen kann, die seinem Glauben wichtig sind. Das zeugt von mehr Toleranz gegenüber Andersgläubigen und für die vielen Atheisten würden die 10 schwedischen Feiertage mit christlichem Ursprung einfach zu Urlaubstagen werden.“
Wenn dann noch der Sonntag zum religiösen Feiertag erklärt und ebenfalls beweglich würde, bliebe immer noch der Samstag als ein freier Wochentag erhalten und der Urlaub stiege durch die Addition der Sonntage auf fast 80 Tage – damit käme man glatt um die Welt. Doch dies ist wohl platte Utopie: Retten wir lieber den Sonntag als selbstbestimmten weltlichen Ruhetag.