Vorwort “Humanistik”

Humanistik – Wegbegleitung aus der Krise?

Einführung in den Sammelband

Der vor­lie­gen­de Sam­mel­band gewährt einen Zukunfts­blick auf das, wor­über eine wis­sen­schaft­li­che Huma­nis­tik zu ver­han­deln hät­te und was eini­ge ihrer mög­li­chen Gegen­stän­de wären. Sie wür­de sich eine Enzy­klo­pä­die des Huma­nis­mus vor­neh­men, die von einer mehr als zwei­tau­send­jäh­ri­gen Kul­tur­be­we­gung und Begriffs­bil­dung berich­tet. Sie hät­te gegen wirk­mäch­ti­ge Anti­hu­ma­nis­men auf­zu­tre­ten und an einer Kon­zep­ti­on des poli­ti­schen Huma­nis­mus zu arbei­ten. Die­ser wie­der­um ver­stün­de sich als Anwalt der Selbst­be­stim­mung aller Men­schen und zugleich als Inter­es­sen­ver­tre­ter einer kon­fes­si­ons­frei­en und agnos­ti­schen Bevöl­ke­rung. Die­se Huma­nis­tik wür­de einen Huma­nis­mus erfor­schen, der moder­ne huma­ni­tä­re Dienst­leis­tun­gen für den All­tag von Men­schen anbie­tet und ethi­sche Maxi­men unter­brei­tet, die mit sei­ner Theo­rie und Geschich­te korrelieren.

Dass die­se gro­ße Span­ne in den vor­lie­gen­den Tex­ten von 16 fach­lich aus­ge­wie­se­nen Autorin­nen und Autoren sicht­bar wird und nun kla­rer scheint als bis­her, was eine Theo­rie und Geschich­te des Huma­nis­mus wis­sen­schaft­lich leis­ten müss­te und was sie an schwie­ri­gen Stof­fen zu bewäl­ti­gen hät­te, was ihre Stu­die­ren­den ler­nen und was sie beruf­lich tun könn­ten – das war zu Beginn der Pro­jekt­pla­nung für die­sen Sam­mel­band nicht abseh­bar und in die­ser nun vor­lie­gen­den Brei­te auch gar nicht beab­sich­tigt. Doch das Ergeb­nis ist dann doch die logi­sche Fol­ge eines lang­jäh­ri­gen und kon­ti­nu­ier­li­chen Diskurses.

Dass der vor­lie­gen­de Sam­mel­band andeu­tet, wel­che The­men bereit lie­gen, in einer „Huma­nis­tik“ dis­ku­tiert zu wer­den, ist nicht zuletzt vier Tagun­gen der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie geschul­det, von denen eini­ge Tex­te bereits ander­wei­tig von der publi­ziert wur­den.[1] Es waren dies die 11. Kon­fe­renz der Fried­rich-Ebert-Stif­tung mit der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Deutsch­land zum The­ma Huma­nis­tik in Zei­ten der Kri­se (13. Novem­ber 2010, hier im Band die Tex­te von Hubert Can­cik, Gily Goe­ne und Ulri­ke Dau­s­el, Jörn Rüsen sowie Frie­der Otto Wolf), Was ist „Welt­an­schau­ungs­pfle­ge“? (14. Novem­ber 2010; Huma­nis­ti­sche Aka­de­mie Ber­lin; die Tex­te von Micha­el Bau­er und Chris­ti­ne Mer­tes­dorf), die 2. Kon­fe­renz des Insti­tuts für Gesell­schafts­ana­ly­se der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung in Koope­ra­ti­on mit der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Deutsch­land zum The­ma Barm­her­zig­keit und Soli­da­ri­tät – nur säku­la­ri­sier­te Nächs­ten­lie­be? (3./4. Dezem­ber 2010, die Tex­te von Tho­mas Hein­richs und Frie­de­ri­ke Haber­mann) und Anti-Huma­nis­mus und Huma­nis­mus-Kri­tikAuf­ga­ben der Huma­nis­mus­for­schung und Huma­nis­tik (31. März / 1. April 2011; Huma­nis­ti­sche Aka­de­mie Ber­lin; die Tex­te von Antoon De Baets, Hubert Can­cik, Horst Jung­in­ger, Joa­chim Kahl, Per­di­ta Lad­wig, Enno Rudolph und Jus­tus H. Ulb­richt). Der Text des Her­aus­ge­bers war für die Online-Zeit­schrift huma­nis­mus aktu­ell vor­ge­se­hen, die seit Ende 2010 der Druck­aus­ga­be von huma­nis­mus aktu­ell (begrün­det 1997) gefolgt ist.

Die Kon­fe­renz im Novem­ber 2010 frag­te: Kann eine wis­sen­schaft­li­che Theo­rie und Geschich­te des Huma­nis­mus Ori­en­tie­run­gen geben? Das bezog sich auf den im Haupt­ti­tel der Kon­fe­renz (Huma­nis­tik in Zei­ten der Kri­se) ver­wen­de­ten Kri­se-Begriff, von dem im Vor­feld gele­gent­lich bezwei­felt wur­de, dass er tref­fend sei. Doch wenn in unse­rer Gesell­schaft im Zusam­men­hang mit Inte­gra­ti­ons­fra­gen und Islam­lehr­stüh­len über jüdisch-christ­li­che deut­sche Leit­kul­tur gespro­chen wird und nur sehr sel­ten und dann eher zag­haft ange­mahnt wird, dass es auch noch den Huma­nis­mus gibt, dann ist das durch­aus ein Zei­chen für eine Kri­se – zumin­dest des Anse­hens von Huma­nis­mus in der Gesellschaft.

Das sagt noch gar nichts dar­über aus, was unter Huma­nis­mus ver­stan­den wird. Aber schon dass er fehlt in den offi­zi­el­len Auf­zäh­lun­gen der deut­schen Kul­tur­quel­len, das ist dann wohl doch ein wirk­li­cher Beleg für die Kri­sen­the­se. Kri­sen wie­der­um sind frucht­brin­gend, weil sie Über­kom­me­nes und Selbst­ver­ständ­li­ches in Fra­ge stel­len. Das Wort selbst kommt aus der grie­chi­schen Anti­ke (kri­sis) und mein­te ziem­lich das, wor­um es auf den genann­ten Tagun­gen stets ging und in die­sem Sam­mel­band geht, um Mei­nun­gen, Beur­tei­lun­gen und Ent­schei­dun­gen, z. B. bestimm­ten Hal­tun­gen zum Huma­nis­mus gegenüber.

Der Begriff der Kri­se änder­te sich im Lau­fe sei­ner His­to­rie, mein­te zunächst stär­ker Zuspit­zun­gen und Ver­schär­fun­gen und drückt heu­te pro­ble­ma­ti­sche Wen­dun­gen, Tren­nun­gen und Unter­schei­dun­gen aus. Wel­che Ein­schät­zung man auch immer hin­sicht­lich einer mög­li­chen öko­no­mi­schen oder sozia­len Kri­se der deut­schen Gesell­schaft haben mag – Huma­nis­mus gehört aktu­ell nicht zu den mög­li­chen kul­tu­rel­len Bin­de­kräf­ten. Aber ohne ihn nimmt die His­to­rie viel­leicht einen tra­gi­schen Ver­lauf, etwa so, wie es bei Wiki­pe­dia unter dem Stich­wort „Kri­se“ zu fin­den ist: „Nimmt die Ent­wick­lung einen dau­er­haft nega­ti­ven Ver­lauf, so spricht man von einer Kata­stro­phe (wört­lich in etwa ‘Nie­der­gang’).“[2]

Der Her­aus­ge­ber hat die ihm für die­sen Sam­mel­band vor­lie­gen­den Tex­te nach Kri­sen­sym­pto­men und Ant­wor­ten dar­auf zu ord­nen ver­sucht. Am Anfang steht Hubert Can­ciks grund­sätz­li­cher Text über die hohen Anfor­de­run­gen an eine Enzy­klo­pä­die des Huma­nis­mus und das Ver­ständ­nis von Huma­nis­mus,[3] das einem sol­chen Lexi­kon zu unter­le­gen wäre. Man kann die­sen Text durch­aus auch unter dem Gesichts­punkt der Kri­se lesen, näm­lich der eines unge­nü­gen­den Wis­sens über die Her­kunft und die Grund­la­gen eines moder­nen Huma­nis­mus und über das Unwis­sen über Huma­nis­mus in der Gesellschaft.

Doch zeigt die­ser Auf­satz zugleich, wie hoff­nungs­voll an ein Wör­ter­buch des Huma­nis­mus her­an­ge­gan­gen wer­den kann, weil das Ergeb­nis einen der Real­ge­schich­te ange­mes­se­nen Blick auf die Kul­tur­ge­schich­te der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on frei gäbe, auf Errun­gen­schaf­ten der Frei­heit, der Men­schen­wür­de wie der Men­schen­rech­te, die es ohne Huma­nis­mus nicht gäbe. Can­cik fragt zugleich, wie „öst­li­che“ und „fern­öst­li­che“ huma­nis­ti­sche Sicht­wei­sen ein­zu­brin­gen und zu deu­ten wären, dass aber auch Distan­zen zu anti­hu­ma­nis­ti­schen Strö­mun­gen deut­lich zu mar­kie­ren sind – eine The­ma­tik, die im vor­lie­gen­den Sam­mel­band im Mit­tel­teil wie­der auf­ge­grif­fen wird.

Dazu gibt – es hat sich so erge­ben – Enno Rudolph einen dich­ten grund­sätz­li­chen Ein­stieg, in dem er Huma­nis­mus kul­tur­his­to­risch auf der Ver­lie­rer­sei­te ver­or­tet. Er stellt des­sen zwei gro­ße Nie­der­la­gen vor: Luthers Reak­ti­on auf den Huma­nis­mus der Renais­sance und Nietz­sches und dann Heid­eg­gers „Über­win­dung“ des Huma­nis­mus der Auf­klä­rung. Rudolphs abschlie­ßen­de Fra­ge nach dem „Erfolgs­ge­heim­nis des Anti­hu­ma­nis­mus in Geschich­te und Gegen­wart“ ist wohl Bestand­teil jeder Humanismusforschung.

Ein Blick auf die Geschich­te des Huma­nis­mus zeigt ihn stets in Kri­sen­vor­gän­ge ver­wi­ckelt, in denen er neu belebt wur­de. In sol­chen Zei­ten griff man auf ihn zurück, wie beson­ders der epo­chal argu­men­tie­ren­de Text von Antoon de Baets pro­ble­ma­ti­siert und zu der Pro­vo­ka­ti­on hin­wen­det, ob nicht die his­to­ri­schen Nega­tio­nen des Mensch­li­chen erst immer wie­der das Mensch­li­che – Huma­ni­tät und Huma­nis­mus – einfordern.

Von die­ser Per­spek­ti­ve aus und mit inter­na­tio­na­lem Blick muss Huma­nis­mus neu betrach­tet wer­den, ist er kon­zep­tio­nell zu den­ken. Doch wie kommt er zu einer neu­en Blü­te? Wird er zu einer mög­li­chen Bin­de­kraft in Kri­sen­zei­ten, wenn die tra­di­tio­nel­len Reli­gio­nen dies nicht mehr sein kön­nen und auch kei­ne „Zivil­re­li­gi­on“, die durch „Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus“ geprägt ist, dies zu leis­ten ver­mag?[4] Die­ser Anspruch – Kohä­si­on zu ermög­li­chen – setzt inner­halb des Huma­nis­mus selbst ein Über­den­ken der eige­nen Geschich­te vor­aus, erfor­dert Kon­zep­ti­ons­bil­dung, Schär­fung des Begriffs, Rea­li­täts­sinn, Sinn für Uto­pien und Welt­blick. Dies ist das Anlie­gen des Bei­tra­ges von Jörn Rüsen Selbst­kri­tik des Huma­nis­mus. Er ist das Pro­dukt von Welt­rei­sen und ver­mit­telt die­sem Sam­mel­band eini­ge Ein­bli­cke in die Sicht derer, die von außen auf Euro­pa schau­en und wie hier dar­auf zu reagie­ren wäre.

Der Huma­nis­mus, der sich sei­ner Quel­len besinnt und in den aka­de­mi­schen Dis­kurs geht, ist ein ande­rer als der „Kul­tur­kampf­hu­ma­nis­mus“ athe­is­tisch-agnos­ti­scher Hoch-Zei­ten, auch wenn er noch immer gro­ße Tei­le der Ver­bän­de prägt. In die­sem heroi­schen Huma­nis­mus sind athe­is­ti­sche und agnos­ti­sche Prin­zi­pi­en und sind die Wis­sen­schaf­ten zum obers­ten Urteils­kri­te­ri­um erklärt. Die­ser heroi­sche Huma­nis­mus reli­gi­ons­abs­ti­nen­ter Akti­vis­ten möch­te „Leit­kul­tur“ wer­den[5] – ohne kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Befun­de zu ach­ten, wie Kul­tu­ren funk­tio­nie­ren und die sogar – bei eini­gen ganz kon­se­quen­ten Natu­ra­lis­ten – die Bio­lo­gie und die Evo­lu­ti­ons­theo­rie zu letz­ten Instan­zen erklären.

Vie­le Posi­tio­nen die­ses sich selbst so nen­nen­den „neu­en Huma­nis­mus“ ver­ste­hen sich als Reak­tio­nen (und sind aus die­ser Per­spek­ti­ve erklär­bar) auf krea­tio­nis­ti­sche Angrif­fe auf das moder­ne Welt­bild,[6] wie es in den Natur­wis­sen­schaf­ten seit der Renais­sance gewach­sen ist. Die­ser „neue Huma­nis­mus“ bezieht sich zugleich auf die oben erwähn­ten kul­tu­rel­len Dis­kri­mi­nie­run­gen von Kon­fes­si­ons­frei­en in der deut­schen Öffent­lich­keit, will hier wis­sen­schaft­li­che Weg­zei­gung geben. Im Bei­trag von Frie­der Otto Wolf in die­sem Band fin­det sich eine Erwi­de­rung auf die­sen welt­an­schau­li­chen Anspruch.

Die­ser „neue Huma­nis­mus“ setzt sich in Kon­trast zum Huma­nis­mus-Ver­ständ­nis, das die­sen als eine kul­tur­his­to­ri­sche Bewe­gung sieht, die in der Renais­sance auf­kommt und nicht mit dem Neu­hu­ma­nis­mus und deren Anti­ke­an­eig­nung endet. Er nimmt Huma­nis­mus, wie er ihn aka­de­misch vor­fin­det und des­halb wesent­lich als Pfle­ge die­ses Erbes, als gym­na­si­al und muse­al fort­le­ben­des Arte­fakt.[7]

Bei­de Huma­nis­men, der kämp­fe­ri­sche evo­lu­tio­nä­re wie der anti­ki­sie­ren­de alte, errei­chen nicht die Mit­te der Gesell­schaft. Sie sind weit davon ent­fernt, in einen „Volks­hu­ma­nis­mus“ ein­ge­hen zu kön­nen.[8] Doch ohne die­sen Vor­gang wird Huma­nis­mus kei­nen Bestand haben – schon gar nicht gegen immer wie­der vari­an­ten­reich vor­ge­tra­ge­nen Antihumanismus.

Die­sem Gegen­ge­wicht wid­men sich in die­sem Sam­mel­band eini­ge Spe­zi­al­be­trach­tun­gen, denn Anti­hu­ma­nis­mus hat die Huma­nis­mus­ge­schich­te stets beglei­tet. Sie wur­de in der neue­ren Geschich­te – aber auch in deren Vor­ge­schich­te, wie der Bei­trag von Enno Rudolph poin­tiert zeigt – in ihrer „Kul­tur­be­deu­tung“ von ihren Gegen­ent­wür­fen stets über­trumpft, was dazu bei­trug, dass gar kein „Volks­hu­ma­nis­mus“ ent­ste­hen konn­te. Es wäre aber zu unter­su­chen, wel­che Ele­men­te von Huma­nis­mus durch wel­che Sub­jek­te mit wel­chem Erfolg den­noch tra­diert wur­den, etwa in der Dis­kus­si­on der Men­schen­rech­te, wie der Bei­trag von Anton De Baets zeigt.

Begin­nend mit Per­di­ta Lad­wigs Ana­ly­se des Wer­kes und der Wir­kung des Kunst­his­to­ri­kers Hen­ry Tho­de – es waren über­haupt vie­le Kunst­in­ter­pre­ten am anti­hu­ma­nis­ti­schen Tag­werk – lie­fert der Sam­mel­band fünf Bei­trä­ge über Anti­hu­ma­nis­mus, nicht ein­fach Huma­nis­mus­kri­tik (die auch, wie im Bei­trag von Jörn Rüsen, wohl­tu­end von innen her­aus kom­men kann), von denen die ers­ten drei (Per­di­ta Lad­wig, Hubert Can­cik und Jus­tus Ulb­richt) zugleich in die Ent­ste­hungs­ge­schich­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus ein­füh­ren, wie die­ser aus kon­ser­va­ti­ven Kul­tur­strö­mun­gen her­aus ent­steht und mehr wur­de als eine zufäl­li­ge Ver­dunk­lung des Geis­tes der Humanität.

Tie­fer Ver­druss an der Moder­ne, an der auf­schei­nen­den „Volks­herr­schaft“ und gegen­über den begin­nen­den Begeh­ren der Unter­schich­ten nach Teil­ha­be an der Moder­ne moti­vier­te die Autoren des Anti­hu­ma­nis­mus. Dass es durch­aus um Klas­sen­kampf ging, das wuss­te beson­ders Nietz­sche sehr genau. Des­sen anti­hu­ma­nis­ti­scher „Über­mensch“ war ein zur Herr­schaft beru­fe­ner neu­er Adel (vgl. Hubert Can­cik in die­sem Band). Das ent­sprach dem Zeit­geist eben­so wie die Haupt­ten­den­zen in den dama­li­gen aka­de­mi­schen Geis­tes­wis­sen­schaf­ten – beson­ders den ger­ma­ni­sie­ren­den Über­set­zun­gen die­ser Leh­ren in die Volks­spra­che des Natio­nal­so­zia­lis­mus, Aus­druck einer ras­sis­ti­schen Ideo­lo­gie, bestehend aus Ver­ein­fa­chun­gen des­sen, was Nietz­sche und ande­re den Ober­schich­ten sagten.

Her­ren­ethik“ – Ulb­richt beschreibt die popu­lä­ren „Über­set­zun­gen“ Nietz­sches ins „Volks­deut­sche“ – war den meis­ten Ange­hö­ri­gen der Ober­schich­ten selbst­ver­ständ­lich, näm­lich so zu den­ken wie Hein­rich von Treit­sch­ke: „Kei­ne Kul­tur ohne Dienst­bo­ten“ und: neue Skla­ve­rei als Geburts­hel­fe­rin und Ret­te­rin von Kul­tur.[9]

Aus die­ser Abwer­tung alles Libe­ra­len und Mensch­li­chen in der Betrach­tung nicht nur der Unter­schich­ten, durch­aus im Namen einer eli­tär ver­stan­de­nen huma­nis­ti­schen Kul­tur (auch wenn Nietz­sche hier wie anders­wo eine Umwer­tung aller Wer­te voll­zog, die auch Frei­den­ker wegen deren Wen­dung gegen das eta­blier­te Chris­ten­tum anzog), ver­steht sich auf der ande­ren Sei­te des „Klas­sen­kamp­fes“ die Erfin­dung des Begriffs der „Huma­ni­täts­du­se­lei“, die wohl auf August Bebel zurück­geht,[10] vor der er die Sozi­al­de­mo­kra­tie warnte.

Als der zwei­te Welt­krieg sich gegen sei­ne Ver­ur­sa­cher zu wen­den begann, so berich­tet Horst Jung­in­ger, gab es eine klei­ne offi­zi­el­le Huma­nis­mus­de­bat­te, die das römi­sche anti­ke Erbe ein­pas­sen woll­te in die Ver­nich­tungs­be­grün­dun­gen der deut­schen Nazis. Das sahen die deut­schen Faschis­ten aber als wenig hilf­reich an. Mit dem Ende der Herr­schaft Mus­so­li­nis ver­schwand auch nur der Anschein, Ras­se mit huma­nis­ti­schem Voka­bu­lar unter­mau­ern zu wollen.

Die Vor­herr­schaft die­ses ari­schen und krie­ge­ri­schen Anti­hu­ma­nis­mus beför­der­te auf Sei­ten sei­ner Geg­ner die Aneig­nung des Huma­nis­mus, zumin­dest huma­nis­ti­scher Ver­satz­stü­cke, auch in der KPD der Volks­front und im Mos­kau­er Exil. Das deu­tet der Bei­trag des Her­aus­ge­bers in die­sem Sam­mel­band an. Der Anti­fa­schis­mus, auch der krie­ge­ri­sche der Roten Armee in den Gefan­gen­la­gern für deut­sche Sol­da­ten und Offi­zie­re, griff von Kriegs­be­ginn 1941 an in sei­nen Argu­men­ten auf Huma­nis­mus zurück. Auch der dau­er­haf­te Anti-Nietz­schea­nis­mus, der die euro­päi­sche Lin­ke bis Ende der 1970er Jah­re ein­te, bei allem sons­ti­gen Streit, wird nach der Lek­tü­re der Tex­te in die­sem Sam­mel­band verständlicher.

Umso unver­ständ­li­cher ist – sie­he den Bei­trag von Joa­chim Kahl – wie Men­schen­ver­nich­tungs­ideen nach die­ser His­to­rie über­haupt noch posi­tiv und ohne jeden Anschein, als Sati­re gele­sen wer­den zu kön­nen, den Buch­markt beleb­ten – wenn auch unter dem Ein­druck einer immer mög­li­chen tota­len Ver­nich­tung der Welt durch Atomwaffen.

Ein Kenn­zei­chen des in die­sem Sam­mel­band kri­ti­sier­ten Anti­hu­ma­nis­mus war die Nicht­an­er­ken­nung der Gleich­heit aller Men­schen als Geschöp­fe die­ser Erde. Men­schen sind tat­säch­lich nicht gleich, weder psy­cho­phy­sisch, noch sozi­al. Sie den­noch als glei­che Men­schen zu sehen, eben weil sie Men­schen sind, ist eine kul­tu­rel­le Idee, die des Huma­nis­mus. Wie viel sozia­le Gleich­heit vom huma­nis­ti­schen Stand­punkt nötig wäre, um ihr gerecht zu wer­den, ist inner­halb des Huma­nis­mus strit­tig. Das bedeu­tet aber vor allem, die Debat­te in Gang zu hal­ten, auch inner­halb der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie, deren Ber­li­ner Ein­rich­tung sei­ne Schrif­ten­rei­he mit einer Art Pro­le­go­mi­na zu einem Huma­nis­ti­schen Sozi­al­wort star­te­te.[11]

Der vor­lie­gen­de Band Huma­nis­tik bringt zwei höchst unter­schied­li­che Tex­te zum The­ma Gleich­heit. Tho­mas Hein­richs möch­te Vor­fra­gen klä­ren, und lie­fert dazu umfäng­lich Mate­ri­al und Argu­men­te, was denn die Prin­zi­pi­en sozia­ler Güter­ver­tei­lung sind und was die­se mit huma­nis­ti­schen Grund­be­grif­fen wie Gleich­heit, Gerech­tig­keit, Soli­da­ri­tät und Huma­ni­tät zu tun haben. Frie­de­ri­ke Haber­mann wie­der­um greift die alte huma­nis­ti­sche Debat­te über den „neu­en Men­schen“ wie­der auf,[12] der – nach ihrer Les­art – durch ande­res Wirt­schaf­ten hier und heu­te an die Stel­le des homo oeco­no­mic­us tritt.

Bereits im Herbst 2004 hat­te die Huma­nis­ti­sche Aka­de­mie Ber­lin den Begriff „Huma­nis­tik“ auf­ge­grif­fen und in zwei Kol­lo­qui­en dar­über dis­ku­tiert. Eini­ge Ergeb­nis­se wur­den im Heft 15 von huma­nis­mus aktu­ell publi­ziert, mit dem Unter­ti­tel Huma­nis­mus als Stu­di­en­fach.[13] Die Aus­ga­be ist erfreu­li­cher­wei­se längst ver­grif­fen, steht aber als Down­load zur unent­gelt­li­chen frei­en Ver­fü­gung.[14]

Der Her­aus­ge­ber die­ses Sam­mel­ban­des hat­te in den dama­li­gen Band den Text Huma­nis­tik – von der Uto­pie zur Wis­sen­schaft als Vor­wort ein­ge­rückt und ein­lei­tend aus­ge­führt: „Man kann es durch­aus einen Skan­dal nen­nen, dass es zwar an meh­re­ren staat­li­chen deut­schen Hoch­schu­len eine christ­li­che ‘Mis­si­ons­wis­sen­schaft’ gibt, aber kei­ne sys­te­ma­ti­sche Beschäf­ti­gung mit dem Huma­nis­mus, weder als Gan­zes, noch spe­zi­ell dem säku­la­ren, weder his­to­risch, noch theo­re­tisch, auch nicht päd­ago­gisch, schon gar nicht sozi­al­wis­sen­schaft­lich. Wenn sich nun der Huma­nis­ti­sche Ver­band (HVD) für eine sol­che Dis­zi­plin stark macht, so ist dies eben ‘nur’ ein (durch­aus noch schwa­cher) Druck von außen, dem erst dann Erfolg beschie­den sein kann, wenn sich in den Uni­ver­si­tä­ten Ver­bün­de­te fin­den, was bis­her nur ver­ein­zelt geschieht. Das ist selbst­re­dend ein Zei­chen für die natio­na­le wie inter­na­tio­na­le Lage des Huma­nis­mus und der ihm ver­pflich­te­ten Prot­ago­nis­ten. Das Wort ‘Kri­se’ schmei­chelt.“[15] – Dem ist heu­te nichts Wesent­li­ches hinzuzufügen.

Huma­nis­tik“ wird, ernst­lich betrie­ben, meh­re­re Vari­an­ten des Huma­nis­mus, auch inter­na­tio­nal, unter­schei­den müs­sen. Unter Huma­nis­mus wird heu­te im All­ge­mei­nen (in einem Satz aus­ge­drückt) eine his­to­risch gewor­de­ne Kul­tur­auf­fas­sung von „Barm­her­zig­keit“ und „Mensch­lich­keit“ ver­stan­den,6] die welt­an­schau­li­che Rich­tun­gen bün­delt, die mit einem ratio­na­len und his­to­ri­schen Her­an­ge­hen Wür­de defi­nie­ren, damit ver­bun­de­ne Fra­gen anthro­po­zen­trisch beant­wor­ten (nicht anthro­po­zen­tris­tisch) und die ohne Tran­szen­denz­be­zug auskommen.

Eine Theo­rie und Geschich­te des Huma­nis­mus wird – und dies ent­spricht den Gege­ben­hei­ten hier­zu­lan­de – zwi­schen einem all­ge­mei­nen und gesell­schaft­lich gege­be­nen Huma­nis­mus und einem spe­zi­el­len und gemein­schaft­lich orga­ni­sier­ten Huma­nis­mus (z. B. des HVD) zu unter­schei­den haben. Das stellt – in den Bei­trä­gen von Frie­der Otto Wolf sowie Gily Coe­ne und Ulri­ke Dau­s­el ange­spro­chen – Fra­gen an die Prä­zi­sie­rung des Huma­nis­mus­ver­ständ­nis­ses als Bekennt­nis (sind doch der deut­sche HVD wie die bel­gi­sche UVV for­mal „Bekennt­nis­ge­mein­schaf­ten). Sie sehen sich nicht als Gegen­po­le zu den Reli­gio­nen, son­dern als „Welt­an­schau­un­gen“ in Par­al­le­len dazu.

Wer­den ein­mal alle phi­lo­so­phi­schen Spitz­fin­dig­kei­ten und his­to­ri­schen Belas­tun­gen weg­ge­las­sen, was eine „Welt­an­schau­ung“ ist, wie sich der Begriff his­to­risch gebil­det hat und wie er in das Grund­ge­setz gekom­men ist,[17] und wird der Blick auf die juris­ti­sche Sach­la­ge gerich­tet, so ist die gewich­tigs­te Stel­lung­nah­me die der Staats­kir­chen­recht­le­rin Chris­ti­ne Mer­tes­dorf in ihrer Stu­die Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaf­ten von 2008.[18] Ihr Kern­aus­druck – auch in dem hier gedruck­ten Text – lau­tet „imma­nen­te Welt­erklä­rung“. In ihrem Auf­satz im 3. Band die­ser Schrif­ten­rei­he stell­te die Autorin bereits dar, was dies in ein­zel­nen Pra­xis­be­rei­chen und in den Lan­des­ver­fas­sun­gen bedeu­tet, von der Anstalts­seel­sor­ge bis zum Schul­we­sen.[19] Dar­aus folgt, dass jede „Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaft“ – die als sol­che „qua­si-kon­fes­sio­nell“ behan­delt wer­den will – die ver­fas­sungs­recht­lich gefor­der­te Bedin­gung „gemein­schaft­li­che Pfle­ge einer Welt­an­schau­ung“ erfül­len muss.

Ohne die­se ist alles ande­re nichts. Die Aner­ken­nung als Gemein­schaft der Welt­an­schau­ungs­pfle­ge – inso­fern die­ser Sta­tus bean­sprucht wird – setzt das Vor­han­den­sein einer Welt­an­schau­ung nicht allein in dem Sin­ne vor­aus, dass sie prag­ma­tisch nötig wäre, um die „Pfle­ge­richt­li­ni­en“ der ver­fas­sungs­recht­li­chen Gleich­stel­lung mit Reli­gi­ons­ge­sell­schaf­ten nach Arti­kel 140 Grund­ge­setz in Ver­bin­dung mit Arti­kel 137 Absatz 7 der Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung for­mal zu erfül­len. Sie ist viel­mehr die unhin­ter­frag­te Grund­vor­aus­set­zung über­haupt, näm­lich die tat­säch­li­che „Gewähr der Ernst­haf­tig­keit“.[20]

Im Bei­trag von Frie­der Otto Wolf in die­sem Sam­mel­band wird (in FN 28) dar­auf ori­en­tiert, wie durch den Autor schon an ande­ren Stel­len aus­ge­führt, bei der Auf­fas­sung von Welt­an­schau­ung „soll­ten wir uns auch recht­lich von der­art ver­eng­ten Auf­fas­sun­gen lösen, die dem 19. Jahr­hun­dert als ‘Zeit des Welt­bil­des’ ange­hö­ren“. Doch passt die­se Sicht ins deut­sche Religionsrecht?

Es lag also nahe, Chris­ti­ne Mer­tes­dorf zu fra­gen, was denn „Welt­an­schau­ungs­pfle­ge“ juris­tisch bedeu­tet,[21] und den Geschäfts­füh­rer des Nürn­ber­ger HVD, Micha­el Bau­er, was huma­nis­ti­sche Welt­an­schau­ungs­pfle­ge in sei­ner Arbeit prak­tisch heißt. Dass Bau­er in sei­nem Text „Huma­nis­tik“ for­dert, zeigt, dass die Pra­xis auf Theo­re­ti­sie­rung drängt. Das von Frie­der Otto Wolf auf­ge­wor­fe­ne Pro­blem eines neu­en Ver­ständ­nis­ses von Welt­an­schau­ung ist auch inso­fern wei­ter offen, als der bel­gi­sche Lehr­stuhl „Huma­nis­tik“ auf der Annah­me einer dem Chris­ten­tum for­mal ähn­li­chen Welt­an­schau­ung basiert, nicht einer Welt­an­schau­ung, die sich in Kul­tur und Phi­lo­so­phie auflöst.

In besag­tem Heft 15 war von Petra Caysa ein eige­ner Bache­lor- und Mas­ter­stu­di­en­gang an einer deut­schen Uni­ver­si­tät vor­ge­stellt wor­den. Die Reak­tio­nen auf die­sen Vor­schlag wie auf die The­sen über „Huma­nis­tik“ – etwa die Fra­ge, ob eine Wis­sen­schaft vom Huma­nis­mus über­haupt mög­lich ist – waren damals sehr gering. Der Bei­trag von Gily Coe­ne und Ulri­ke Dau­s­el berich­tet nun aktu­ell und ganz prag­ma­tisch, aus wel­chen Mög­lich­kei­ten und Zwän­gen her­aus in Bel­gi­en ein ent­spre­chen­der Lehr­stuhl „Huma­nis­tik“ geschaf­fen wur­de. Der 15. Band huma­nis­mus aktu­ell von 2004 hat­te noch von der Not­wen­dig­keit eines sol­chen Lehr­stuhls gesprochen.

Die von Coe­ne und Dau­s­el beschrie­be­ne Insti­tu­tio­na­li­sie­rung fehlt in Deutsch­land. Die im Bei­trag von Wolf ange­deu­te­te mög­li­che Keim­form in der „Abtei­lung Huma­nis­tik am Aus­bil­dungs­in­sti­tut des Ber­li­ner HVD“ ist eher beschei­den. Doch könn­te sich dies per­spek­ti­visch ändern und sich glück­lich gegen die aktu­el­le eher pes­si­mis­ti­sche Ein­schät­zung des Her­aus­ge­bers wen­den. Er beur­teilt die Chan­cen nicht mehr so hoff­nungs­voll wie 2004 bis 2007,[22] dass in Deutsch­land ähn­li­che Ent­wick­lun­gen ein­tre­ten, wie sie im vor­lie­gen­den Buch von Coe­ne und Dau­s­el am Bei­spiel des flä­mi­schen Dach­ver­ban­des Unie Vri­j­zin­ni­ge Ver­eni­gin­gen (Uni­on frei­sin­ni­ger Ver­ei­ni­gun­gen) beschrie­ben werden.

Der Text aus Bel­gi­en spricht offen aus, dass hin­ter die­sen aka­de­mi­schen Anstren­gun­gen aus Ver­bän­den her­aus ein voll­stän­di­ger Bruch mit alten lai­zis­ti­schen Posi­tio­nen einer Staat-Kir­che-Tren­nung steht. Die flan­dri­schen Huma­nis­ten haben die­sen Abschied, wohl wegen des beson­de­ren Lai­zis­mus in Bel­gi­en, bis hin zur radi­ka­len Namens­än­de­rung betrie­ben, Lebe­wohl zu aller tra­di­tio­nel­len Reli­gi­ons- und Kir­chen­kri­tik und damit einem nega­ti­ven Huma­nis­mus sag­ten, dage­gen aber einen posi­ti­ven Huma­nis­mus will­kom­men hie­ßen: Wir sind für die da, die uns wol­len. Welt­be­glü­ckungs­an­spruch war früher.

Steht dem deut­schen orga­ni­sier­ten Huma­nis­mus ähn­li­ches bevor? Wohl ja, denn er ist außer­halb der sich selbst so nen­nen­den huma­nis­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen stär­ker aus­ge­bil­det als durch den HVD, der fak­tisch nur in eini­gen Regio­nen prä­sent ist. Nach der alten, in Flan­dern wohl über­wun­de­nen Les­art der bür­ger­recht­li­chen und frei­den­ke­ri­schen Ver­bän­de, hät­te ein prak­ti­scher Huma­nis­mus in Deutsch­land ohne staat­li­che För­der­mit­tel aus­zu­kom­men und vor allem den Zweck, kirch­li­ches Tun zu ent­lar­ven. Die stra­te­gi­sche Wen­de, Anfang der 1990er Jah­re ein­ge­lei­tet, ändert auch die Auf­ga­ben­fel­der, wie der Bei­trag von Micha­el Bau­er zeigt.

Die Haupt­funk­ti­on sol­cher Reform­ver­ei­ne besteht nicht mehr dar­in, Reli­gi­on oder Kir­chen zu bekämp­fen, ja abschaf­fen zu wol­len. Ein selbst­be­wuss­ter „Kul­tur­hu­ma­nis­mus“ möch­te viel­mehr mit den Ange­bo­ten von „Kul­tur­pro­tes­tan­ten“, „Kul­tur­ka­tho­li­ken“, „Kul­tur­ju­den“ und „Kul­tur­mus­li­men“ kon­kur­rie­ren. Sei­ne Orga­ni­sa­tio­nen wol­len vom Staat wie die Kir­chen behan­delt wer­den – und zwar auf glei­che Wei­se (was das heißt, dazu der Bei­trag von Chris­ti­ne Mer­tes­dorf), aber nicht ent­spre­chend der sta­tis­ti­schen Mit­glie­der­zahl, son­dern ent­spre­chend der „Kul­tur­be­deu­tung“ – um einen Begriff von Max Weber hier ein­mal ein­zu­set­zen, mit dem er an der Wen­de zum 20. Jahr­hun­dert in der Reli­gi­ons­ana­ly­se zu neu­en Sicht­wei­sen gelang­te,[23] die von Frei­den­kern unge­nü­gend reflek­tiert wurden.

Gegen­wär­tig schei­nen alle Träu­me von eta­blier­ten aka­de­mi­schen „Huma­nis­ti­schen Stu­di­en“ zer­sto­ben. Eine uni­ver­si­tä­re Ver­an­ke­rung ist auch des­halb nicht in Sicht, weil die im Bei­trag von Gila Coe­ne und Ulri­ke Dau­s­el erör­ter­te Betei­li­gung eines Ver­ban­des an einem uni­ver­si­tä­ren Lehr­stuhl (und des­sen Finan­zie­rung) zwar auch in Deutsch­land nicht gänz­lich aus­ge­schlos­sen ist, aber dazu müss­te sich ers­tens der HVD selbst aka­de­misch bes­ser ver­an­kern und mit sei­nen prak­ti­schen Ange­bo­ten mehr über­re­gio­nal (der­zeit vor­wie­gend Ber­lin-Bran­den­burg und Nürn­berg) auf­ge­stellt sein, um den nöti­gen wis­sen­schafts­po­li­ti­schen Druck zu ent­fal­ten;[24] zwei­tens ist der Weg, den Mus­li­me im Moment gehen und womit „Islam­stu­di­en“ begrün­det wer­den, den Kon­fes­si­ons­frei­en und Huma­nis­ten ver­wehrt, denn sie sind in der Regel kei­ne Migran­ten, son­dern in die Gesell­schaft inte­griert; und drit­tens wäre dies kei­ne mit den christ­li­chen Theo­lo­gien an staat­li­chen Uni­ver­si­tä­ten ver­gleich­ba­re Rege­lung.[25]

Nun kann man die „theo­lo­gi­sche Vari­an­te“ einer Huma­nis­tik, wie sie in Bel­gi­en wohl vor­find­lich ist, aus ganz grund­sätz­li­chen Erwä­gun­gen hier­zu­lan­de gar nicht wol­len – Frie­der Otto Wolf führt aus war­um, Hubert Can­cik zeigt, dass dies Huma­nis­mus gar nicht mög­lich ist –, aber dann blie­be nur der inner­aka­de­mi­sche Not­wen­dig­keits­nach­weis aus den „betrof­fe­nen“ Wis­sen­schaf­ten selbst, aus den Fakul­tä­ten her­aus. Es wären jun­ge Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler für „Huma­nis­tik“ zu begeis­tern und sie müss­ten sich eine Hoch­schul­kar­rie­re selbst erobern. Viel­leicht kann der vor­lie­gen­de Band das Pro­blem kommunizieren.

  1. Beson­ders zu nen­nen: Barm­her­zig­keit und Men­schen­wür­de. Selbst­be­stim­mung, Ster­be­kul­tur, Spi­ri­tua­li­tät. Hrsg. von Horst Gro­schopp. Aschaf­fen­burg 2011 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Ber­lin, Bd. 4).
  2. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Krise [Zugriff: 4.10.2011].
  3. Vgl. zu Letz­te­rem Hubert Can­cik: Euro­pa – Anti­ke – Huma­nis­mus. Huma­nis­ti­sche Ver­su­che und Vor­ar­bei­ten. Hrsg. von Hil­de­gard Can­cik-Lin­de­mai­er. Bie­le­feld 2011.
  4. Unter die­sem Blick­win­kel erge­ben sich neue Sicht­wei­sen auch auf das von der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Deutsch­land 2007 dis­ku­tier­te „Böcken­för­de-Dik­tum“. So sehr die dama­li­ge Ein­gren­zung der The­ma­tik auf die Rech­te der Kon­fes­si­ons­frei­en aus deren benach­tei­lig­ter Lage in Deutsch­land und den Inter­es­sen des HVD begrün­det ist – Huma­nis­mus als kul­tu­rel­le Bin­de­kraft („Kitt“ wie oft bur­schi­kos gesagt wird) ist umfang­rei­cher zu dis­ku­tie­ren. – Vgl. Huma­nis­mus und „Böcken­för­de-Dik­tum“. Hrsg. von Horst Gro­schopp. Ber­lin 2008 (= huma­nis­mus aktu­ell, Hef­te für Kul­tur und Welt­an­schau­ung, H. 22). – Kon­fes­si­ons­freie und Grund­ge­setz. Hrsg. von Horst Gro­schopp. Aschaf­fen­burg 2010 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Deutsch­land, Bd. 3).
  5. Vgl. Micha­el Schmidt-Salo­mon: Mani­fest des evo­lu­tio­nä­ren Huma­nis­mus. Plä­doy­er für eine zeit­ge­mä­ße Leit­kul­tur. Aschaf­fen­burg 2005.
  6. Vgl. Horst Gro­schopp: Rezen­si­on. Der neue Huma­nis­mus. Wis­sen­schaft­li­ches Men­schen­bild und säku­la­re Ethik. Hrsg. von Hel­mut Fink. Aschaf­fen­burg 2010 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Bay­ern, Bd. 4). In: huma­nis­mus aktu­ell, Online-Aus­ga­be Ber­lin 2010, 1. [13.] Jg., H. 1, http://www.humanismus-aktuell.de/sites/humanismus-aktuell.de/files/pdfs/rezension6finkneuerhumanismus.pdf [Zugriff: 19.10.2011].
  7. Auch Jörn Rüsen setzt sein Kon­zept in Kon­trast zu die­sem Tra­di­ti­ons­hu­ma­nis­mus. Er sucht aber nach Ansät­zen in Real­kul­tu­ren, ihn in ein moder­nes Ver­ständ­nis ein­zu­bau­en und in die­ser Hin­sicht neu zu sehen.
  8. Der Begriff des „Volks­hu­ma­nis­mus“ ist an den des „ost­deut­schen Volks­athe­is­mus“ ange­lehnt. In die­sem geht es um die dau­er­haf­te Ver­an­ke­rung einer athe­is­ti­schen Welt­an­schau­ung in den „Glau­bens­über­zeu­gun­gen“ einer regio­nal defi­nier­ten Bevöl­ke­rungs­grup­pe mit „DDR-Sozia­li­sa­ti­on“. – Vgl. Horst Gro­schopp Wor­um geht es in der Debat­te über den “ost­deut­schen Volks­athe­is­mus”? In: Kul­tu­ra­ti­on, Online Jour­nal für Kul­tur, Wis­sen­schaft und Poli­tik, Ber­lin 2010, 33. Jg., Nr. 1, sie­he http://www.kulturation.de/ki_1_thema.php?id=127 [Zugriff: 21.10.2011].
  9. Vgl. Hein­rich von Treit­sch­ke: Der Socia­lis­mus und sei­ne Gön­ner. In: Preu­ßi­sche Jahr­bü­cher, Ber­lin 1874, 34. Jg., S. 67 ff.
  10. Vgl. Horst Gro­schopp. Dis­si­den­ten. Frei­den­ker und Kul­tur in Deutsch­land. 2., ver­bes­ser­te Aufl., Mar­burg 2011, S. 5, 187 f.
  11. Huma­nis­ti­sches Sozi­al­wort. Hrsg. von Horst Gro­schopp. Aschaf­fen­burg 2009 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Ber­lin, Bd. 1).
  12. Huma­nis­ti­sche, huma­nis­mus­kri­ti­sche und anti­hu­ma­nis­ti­sche Vor­stel­lun­gen vom „neu­en Men­schen“ von theo­lo­gi­schen Posi­tio­nen aus­ge­hend nicht unter­schei­dend, aber infor­ma­tiv zum The­ma vgl. Gott­fried Küenz­len: Der Neue Mensch. Eine Unter­su­chung zur säku­la­ren Reli­gi­ons­ge­schich­te der Moder­ne. Mün­chen 1994.
  13. Huma­nis­tik. Huma­nis­mus als Stu­di­en­fach. Hrsg. im Auf­trag Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie von Horst Gro­schopp. Ber­lin 2004. (= huma­nis­mus aktu­ell, Zeit­schrift für Kul­tur und Welt­an­schau­ung, 8. Jg., H. 15).
  14. Vgl. http://www.humanistische-akademie-berlin.de/sites/all/files/medien/pdfs/ha_heft_15_2004_final.pdf [Zugriff: 4.10.2011]
  15. Horst Gro­schopp: Huma­nis­tik – von der Uto­pie zur Wis­sen­schaft? In: Huma­nis­tik, S. 4. – Die Zwi­schen­über­schrif­ten ver­deut­li­chen den dama­li­gen Gedan­ken­gang: Grün­de eines Desi­de­rats, Huma­nis­tik-Debat­ten in der Aka­de­mie, Huma­nis­tik, Bedarf an „Huma­nis­tik“ (neun Grün­de), Ergeb­nis­se und Aus­blick. – Bei­trä­ge zum The­ma stamm­ten von Frie­der Otto Wolf (Für eine Huma­nis­tik als Hoch­schul­dis­zi­plin), Diet­rich Mühl­berg (Ist eine wis­sen­schaft­li­che Beschäf­ti­gung mit Huma­nis­mus mög­lich?) Petra Caysa (Stu­di­um der Huma­nis­ti­schen Lebens­kun­de und die Fra­ge nach der Huma­nis­tik), Gerd Eggers (Christ­li­che Hoch­schul­theo­lo­gie), Tho­mas Hein­richs (Kants Bei­trag zu einer wis­sen­schaft­li­chen Grund­le­gung von Huma­nis­tik), Ulri­ke Dau­s­el (Huma­nis­ti­sche Bera­tung in Flan­dern), Rob Tiel­man (Gleich­be­rech­ti­gung der nie­der­län­di­schen Uni­ver­si­tät für Huma­nis­tik), Jens Schnei­der (Pro­duk­ti­ves Ler­nen).
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  17. Ver­fas­ser geht davon aus, dass sich durch neue­re For­schun­gen in den fol­gen­den Jah­ren nicht nur ein viel­schich­ti­ge­res inter­na­tio­na­les Bild vom Huma­nis­mus erge­ben wird (ara­bi­scher, kon­fu­zia­ni­scher usw.), son­dern auch eine neue Sicht auf das Erbe der Anti­ke und damit eine Neu­be­stim­mung, wie sich in West­eu­ro­pa Huma­nis­mus aus den hel­le­ni­schen und römi­schen Kul­tur­be­stän­den wider die mono­the­is­ti­schen Reli­gio­nen aus­bil­de­te. – Vgl. Hubert Can­cik: Sys­tem und Ent­wick­lung der römi­schen Reichs­re­li­gi­on. Augus­tus bis Theo­dosi­us I. In: Die Anfän­ge des Chris­ten­tums, hrsg. von Fried­rich Wil­helm Graf und Klaus Wie­gan­dt, Frank­furt a.M. 2009, S. 396: „So bleibt in West­eu­ro­pa außer den drei prak­ti­zier­ten moder­nen Reli­gio­nen (Chris­ten­tum, Juden­tum, Islam) eine vier­te, die alte, ver­bo­te­ne, kalt­ge­stell­te, musea­li­sier­te Reli­gi­on mit ihrem kul­tu­rel­len Feld als kohä­ren­te Tra­di­ti­on erhal­ten. Die nach­an­ti­ke euro­päi­sche Kul­tur wird dadurch mehr­schich­tig, wider­sprüch­lich, frucht­bar.“
  18. Vgl. Hel­mut Gün­ter Mei­er: „Welt­an­schau­ung“. Stu­di­en zu einer Geschich­te und Theo­rie des Begriffs. Inaug.-Diss., Müns­ter 1967.
  19. Vgl. Chris­ti­ne Mer­tes­dorf: Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaf­ten. Eine ver­fas­sungs­recht­li­che Betrach­tung mit Dar­stel­lung ein­zel­ner Gemein­schaf­ten. Frank­furt a.M. 2008, S.129, 243 u. a.
  20. Vgl. Chris­ti­ne Mer­tes­dorf: Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaf­ten im deut­schen Ver­fas­sungs­recht. In: Kon­fes­si­ons­freie und Grund­ge­setz, S. 81–127.
  21. Vgl. Horst Gro­schopp: Kon­fes­si­ons­freie und Welt­an­schau­ungs­pfle­ge. In: Kon­fes­si­ons­freie und Grund­ge­setz, S. 166 ff.
  22. Die Exper­tin wur­de nicht gefragt, was denn in die­sem Sin­ne „Huma­nis­mus­pfle­ge“ bedeu­ten wür­de.
  23. Die gera­de­zu wag­hal­si­ge Ankün­di­gung des Ber­li­ner HVD-Vor­sit­zen­den Bru­no Osuch im Jah­re 2007, man wer­de gege­be­nen­falls selbst eine Hoch­schu­le grün­den, belegt die dama­li­ge eupho­ris­ti­sche Stim­mung. – Vgl. HVD will Huma­nis­ti­sche Hoch­schu­le, Huma­nis­ti­scher Pres­se­dienst vom 30. Sep­tem­ber 2007: „…sprach sich die Mit­glie­der­ver­samm­lung für den Auf­bau einer eige­nen Hoch­schu­le aus.“ Sie­he http://hpd.de/node/2876 (Zugriff: 15.10.2011).
  24. Vgl. Frie­de­mann Voigt: Vor­bild und Gegen­bil­der. Zur Kon­zep­tua­li­sie­rung der Kul­tur­be­deu­tung der Reli­gi­on bei Gothein, Som­bart, Sim­mel, Jel­li­nek, Weber und Troeltsch. In: Aske­ti­scher Pro­tes­tan­tis­mus und der „Geist“ des moder­nen Kapi­ta­lis­mus, hrsg. von Wolf­gang Schluch­ter und Fried­rich Wil­helm Graf, Tübin­gen 2005, S. 155–183.
  25. Wahr­schein­lich ist, dass sich ein Weg zeigt, wenn „Huma­nis­ti­sche Lebens­kun­de“ als staat­li­ches Fach, wie der Reli­gi­ons­un­ter­richt, behan­delt wer­den soll­te. Das ist durch­aus inten­diert bei eini­gen Antrag­stel­lern im HVD, so etwa in Nord­rhein-West­fa­len. Wenn der Staat ein Fach unter­rich­ten lässt, muss er auch für die uni­ver­si­tä­re Aus­bil­dung der Leh­rer sor­gen. Doch an wel­cher Fakul­tät wür­de ein sol­ches welt­an­schau­lich par­tei­isches Fach ein­ge­rich­tet?
  26. Hier ist immer­hin anzu­mer­ken: Der­zeit in Deutsch­land 25 Pro­fes­so­ren für christ­li­che „Lit­ur­gie­wis­sen­schaft“. – Vgl. http://www.liturgie.uni-bonn.de/links/lehrstuhle [Zugriff: 4.10.2011]; Link inzwi­schen nicht mehr ver­füg­bar.