Pluralität des Humanismus – Auszug aus Vorwort HP 4 “Konzeptionen des Humanismus”

04 Konzeptionen des Humanismus 01c_frei_72.jpgGemeinsamer Kontext

Die Arbeit am vor­lie­gen­den Buch begann 2008. Es doku­men­tiert die bis Ende Febru­ar 2018 vor­lie­gen­den Befun­de zum Wort­ge­brauch des Begriffs „Huma­nis­mus“ in vor­wie­gend wis­sen­schaft­li­chen Tex­ten in deut­scher Spra­che. Die Samm­lung wird erfreu­li­cher­wei­se wei­ter­ge­hen (müs­sen), denn immer wie­der benut­zen Autorin­nen und Autoren die Kate­go­rie „Huma­nis­mus“. Um das eige­ne Anlie­gen aus­zu­drü­cken, geben sie meist noch ein prä­zi­sie­ren­des Adjek­tiv dazu, sei es „abend­län­disch“ oder „zwei­ter“.

Es gibt auch das Ver­fah­ren, vor ein Haupt­wort das Adjek­tiv „huma­nis­tisch“ zu set­zen. Auch das dient dazu, die spe­zi­el­le Bot­schaft zu ver­deut­li­chen, zu erhär­ten, zu rela­ti­vie­ren, vor allem aber, sie in einen „huma­nis­ti­schen Kon­text“ ein­zu­brin­gen und dort zu ver­or­ten. Die­se bei­den Vari­an­ten sind Gegen­stand des Buches, des vier­ten Ban­des in der Rei­he Huma­nis­mus­per­spek­ti­ven.

Die Ver­wen­dun­gen haben höchst unter­schied­li­che Moti­ve. Vor allem aber zei­gen sie auf einen gro­ßen Bedeu­tungs­reich­tum im Umgang mit „Huma­nis­mus“ und „huma­nis­tisch“. Oft geht es um Posi­tio­nie­run­gen in Spe­zi­al­fra­gen, um Gene­ra­li­sie­run­gen, um Anwen­dun­gen oder Bei­spie­le. In die­sen Ver­fah­ren wird ein Bezug auf das Gro­ße und All­ge­mei­ne des Huma­nis­mus her­ge­stellt. Oft kom­men his­to­ri­sche Vor­gän­ge in den Blick oder es wer­den aktu­el­le Streit­fra­gen erör­tert, die sich auf Huma­nis­mus selbst, sein Umfeld oder theo­re­ti­sche Erör­te­run­gen in ihm oder über ihn beziehen.

Der Gebrauch des Wor­tes „Huma­nis­mus“ for­dert zu Stel­lung­nah­men und Hal­tun­gen her­aus. Stän­dig geht es um etwas Auf­ge­la­de­nes, Bedeut­sa­mes, Beken­nen­des, Grund­sätz­li­ches, Weg­wei­sen­des. Wer sich über „Huma­nis­mus“ äußert, behan­delt – ob gewollt oder nicht, ob aufs Gan­ze zie­lend oder auf ein Detail – Men­schen- und Menschheitsprobleme.

In vie­len der erfass­ten Bei­spie­le geht es gar nicht vor­der­grün­dig um eine eige­ne Posi­ti­on im intel­lek­tu­el­len huma­nis­ti­schen Kon­zert, gar um einen expli­zi­ten Bei­trag zur Fort­ent­wick­lung der Huma­nis­tik oder des Huma­nis­mus als einer kul­tu­rel­len und his­to­ri­schen Bewe­gung. Nicht ein „zukunfts­fä­hi­ger Huma­nis­mus“ wird in der Regel erstrebt. Aber immer kommt ein prak­ti­sches und/oder gedank­li­ches huma­nis­ti­sches Vor­ha­ben zur Dis­kus­si­on, gera­de dort, wo über Huma­nis­mus in einem umfas­sen­den Sin­ne ver­han­delt wird. Sol­che Stu­di­en sind erstaun­lich häu­fig, wie die Biblio­gra­phie zeigt, die bewusst nicht alle Tex­te nennt, die im „Ver­zeich­nis“ vor­ge­stellt werden.

Das hier Doku­men­tier­te erlaubt die Über­schrift Kon­zep­tio­nen des Huma­nis­mus. Die Wor­te „Huma­nis­mus“ und „huma­nis­tisch“ wer­den wohl­über­legt ein­ge­setzt, wenn nicht gar gänz­lich als The­ma gewählt. Bei­de Aus­drü­cke wer­den bedacht­sam gewählt, um die eige­ne Stel­lung­nah­me in einen bestimm­ten Huma­nis­mus-Dis­kurs ein­zu­rei­hen oder um sich davon gänz­lich oder teil­wei­se zu distan­zie­ren. Wer das Wort „Huma­nis­mus“ benutzt, kann des­sen Bekann­heit und ein all­ge­mei­nes Ver­ständ­nis davon vor­aus­set­zen, so vage dies sein mag. Doch dass dies so ist, stellt einen inter­es­san­ten Befund dar.

Meist ist die eige­ne Bezug­nah­me auf „Huma­nis­mus“ posi­tiv. Der Haupt­grund dafür folgt aus der Huma­nis­mus- in der Mensch­heits­ge­schich­te selbst, den statt­ge­hab­ten und statt­fin­den­den Huma­ni­sie­run­gen. Die im All­ge­mei­nen posi­ti­ve Kon­no­ta­ti­on von „Huma­nis­mus“ oder „huma­nis­tisch“, da, wo sich sich der Begriff eta­bliert hat, liegt in der Nähe sei­nes Inhalts bezie­hungs­wei­se sogar sei­ner Iden­ti­fi­ka­ti­on mit „Huma­ni­tät“ bezie­hungs­wei­se „huma­ni­tär“. Wegen der Glo­ba­li­sie­run­gen in der Öko­no­mie, Poli­tik und Kul­tur wur­de „Mensch­lich­keit“, trotz ener­gi­scher und star­ker Gegen­be­we­gun­gen, in der Moder­ne zu einem aner­kann­ten (wenn auch in den Kon­kre­tio­nen umstrit­te­nen) ethi­schen Gebot, dass den Gebrauch des Begriffs „Huma­nis­mus“ nicht unbe­dingt erfor­dert und in den Kul­tu­ren die­ser Welt ande­re Aus­drü­cke fin­det.[1]

Über die „Ent­de­ckung der Mensch­lich­keit“ gibt es inner- und außer­halb des Huma­nis­mus ver­schie­de­ne Theo­rien, die wie­der­um mit ver­schie­de­nen Ansich­ten dar­über zusam­men­hän­gen, was „Moder­ne“ heißt, wann und wo sie beginnt. Bei­de His­to­ri­en, die der Vor­stel­lun­gen von „Moder­ne“ wie die der Defi­ni­tio­nen von „Mensch­lich­keit“, haben diver­se Model­le her­vor­ge­bracht, den oder die „Men­schen“ zu sehen. Eini­ge Autoren füh­ren die „Ent­de­ckung“ bis auf Cice­ro zurück, ande­re auf Pico del­la Miran­do­la oder Johann Gott­fried Her­der, wie­der ande­re auf ent­spre­chen­de „Erklä­run­gen“ anläss­lich der nord­ame­ri­ka­ni­schen Unab­hän­gig­keit, der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on oder der Grün­dung der Ver­ein­ten Nationen.

Die Aus­deh­nung des Ver­ständ­nis­ses von „Huma­nis­mus“ hat auch die Vor­stel­lun­gen von dem gewei­tet, was das latei­ni­sche Wort huma­ni­tas bedeu­tet, aus dem „Huma­nis­mus“ wie „Huma­ni­tät“ her­vor­ge­gan­gen sind. Es wird wesent­lich umfas­sen­der als in der Zeit ver­wen­det, da das Wort „Huma­nis­mus“ Anfang des 19. Jahr­hun­derts in deut­sche Debat­ten von eini­gen Intel­lek­tu­el­len und hohen Ver­wal­tungs­be­am­ten ein­ge­führt wur­de, um Bil­dungs­kon­zep­te zu dis­ku­tie­ren.[2] Von dort aus­ge­hend haben bei­de Begrif­fe einen Sie­ges­lauf ange­tre­ten, auf deren Etap­pen, Fol­gen, Regio­nen und Les­ar­ten die­se Samm­lung ver­weist, wie auch dar­auf, dass über „Huma­nis­mus“ dis­ku­tiert wur­de und wer­den kann, ohne Bezü­ge auf „Huma­ni­tät“ herzustellen.

Huma­ni­tas bedeu­tet, so Hubert Can­cik: „die Mensch­heit (das Men­schen­ge­schlecht: genus huma­n­um), Ent­ro­hung (e‑ruditio, Bil­dung) und Barm­her­zig­keit. Das gute deut­sche Wort ‘Barm­her­zig­keit’ ist eben­falls ein Lehn­wort, näm­lich die genaue Über­set­zung von mise­ri-cor­dia“.[3] In die­sem prak­ti­schen Ver­ständ­nis täti­gen Bei­stands, wie Fried­mar Küh­nert bereits 1972 geschrie­ben hat, nicht als phi­lo­so­phi­sche Kate­go­rie, son­dern „im Sin­ne von ‘ver­zei­hen­der Lie­be’ (cle­men­tia), ‘Barm­her­zig­keit’ (miser­i­cor­dia)“, erscheint huma­ni­tas um 80 v. u. Z. in der Schrift Rhe­to­ri­ca ad Her­en­ni­um eines unbe­kann­ten Autors.[4]

Schon die­se bei­den Zita­te ver­wei­sen indi­rekt dar­auf, wie weit ent­fernt die ers­ten bil­dungs­ori­en­tier­ten Huma­nis­mus­de­bat­ten im begin­nen­den 19. Jahr­hun­dert von den sozia­len und ethi­schen Prin­zi­pi­en waren, die huma­ni­tas ursprüng­lich aus­drück­te. Die­ser Inter­pre­ta­ti­ons­streit zieht sich durch die Geschich­te – und zwar als grund­sätz­li­cher, wenn man allein die Kon­zep­tio­nen ver­gleicht, die dem (in sich wie­der dif­fe­ren­zier­ten) „rea­len“ und dem „drit­ten Huma­nis­mus“ zugrun­de­lie­gen, von den Unter­schie­den zwi­schen dem „sozia­lis­ti­schen“ und dem „kon­ser­va­ti­ven Huma­nis­mus“ ganz zu schweigen.

Neue­re Kon­zep­te ste­hen zwar auf dem Boden des „alten Huma­nis­mus“, aber vie­le in bewuss­ter Distanz dazu. Ande­re erin­nern an den „anti­ken“ oder den „klas­si­schen Huma­nis­mus“, knüp­fen hier an, ande­re haben sich davon eman­zi­piert oder mei­nen, ein ganz „neu­er Huma­nis­mus“ sei nötig.

Zu den Bedin­gun­gen für die ursprüng­li­che Begriffs­bil­dung von „Huma­nis­mus“ und sei­nem „welt­wei­ten Erfolg gehö­ren die ‘Auf­klä­rung’ des 17./18. Jahr­hun­derts, die Stär­ke ihres uni­ver­sa­len Begrif­fes von huma­ni­té/Humanität und die Kon­kre­ti­sie­rung des alten phi­lo­so­phi­schen Natur­rechts zu einer ‘Erklä­rung der natür­li­chen Rech­te des Men­schen und Bür­gers’ (1789/1791). Die­se moder­ne Kon­sti­tu­ti­on des Begriffs Huma­nis­mus beruht ihrer­seits auf den sozia­len und kul­tu­rel­len Umbrü­chen zur Neu­zeit (seit etwa 1300), dem Aus­bau der Uni­ver­si­tä­ten, der Ent­de­ckung zahl­rei­cher anti­ker Tex­te und ihrer grö­ße­ren Ver­brei­tung durch Über­set­zun­gen in die Natio­nal­spra­chen und durch den Buch­druck (seit etwa 1450).“[5]

Die nun vor­lie­gen­de Begriffs­lis­te stärkt die Erkennt­nis, sich die­se Ent­wick­lung als unum­kehr­ba­re Kon­ti­nui­tät vor­zu­stel­len. Im Gegen­teil, es zeigt sich, dass Huma­nis­mus immer dann Kon­junk­tur hat­te, wenn Huma­ni­tät und Men­schen­wür­de bedroht schie­nen oder tat­säch­lich ver­letzt wur­den.[6] Die neue­re Geschich­te lie­fert hier­zu die Bei­spie­le der huma­nis­ti­schen Volks­front­de­bat­ten um 1935 und die Ret­tungs­ver­su­che des Huma­nis­mus in der Nach­kriegs­zeit im Vor­feld des Kal­ten Krie­ges zwi­schen 1945 und 1948.

Eine Andeu­tung von dem, was bis heu­te in den 1930er bis 1950er Kämp­fen um den rich­ti­gen (der Zeit ange­mes­se­nen, erfolg­ver­spre­chen­den) Huma­nis­mus kon­zep­tio­nell steckt, gibt Joa­chim Fischer am Schluss eines Tex­tes über phi­lo­so­phi­sche Anthro­po­lo­gie in den 1930er und 1940er Jah­ren, wenn er die ost­eu­ro­päi­schen Revo­lu­tio­nen 1989 auf die „Wie­der­kehr des ‘Huma­nis­mus’“ seit den 1970er Jah­ren zurück­führt.[7] Eine span­nen­de – und wohl rich­ti­ge The­se, aber eine offe­ne Forschungsfrage.

Fuß­no­ten

  1. Vgl. Jörn Rüsen/Henner Laass (Hrsg.): Inter­kul­tu­rel­ler Huma­nis­mus. Mensch­lich­keit in der Viel­falt der Kul­tu­ren. Schwal­bach 2009.
  2. Fried­rich Imma­nu­el Niet­ham­mer: Der Streit des Phil­an­thro­pi­nis­mus und des Huma­nis­mus in der Theo­rie des Erzie­hungs-Unter­richts uns­rer Zeit. Jena 1808. – Vgl. Mar­tin Vöh­ler: Die „Erfin­dung“ des Huma­nis­mus im 18. Jahr­hun­dert. In: Horst Gro­schopp (Hrsg.): Huma­nis­mus­per­spek­ti­ven. Aschaf­fen­burg 2010, S. 30–41, beson­ders S. 30.
  3. Hubert Can­cik: Huma­nis­ti­sche Begrün­dung huma­ni­tä­rer Pra­xis. Barm­her­zig­keit und Bil­dung. In: Horst Gro­schopp (Hrsg.): Barm­her­zig­keit und Men­schen­wür­de. Selbst­be­stim­mung, Ster­be­kul­tur, Spi­ri­tua­li­tät. Aschaf­fen­burg 2011, S. 17–33, hier S. 17.
  4. Fried­mar Küh­nert: Zum Huma­nis­mus im Rom der repu­bli­ka­ni­schen und augus­te­ischen Zeit. Magna est enim vis huma­ni­ta­tis. In: Wis­sen­schaft­li­che Zeit­schrift der Fried­rich-Schil­ler-Uni­ver­si­tät. Jena 1972. Heft 5/6, S. 871–880, hier S. 872, 876.
  5. Hubert Can­cik: Huma­nis­mus. In: Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf (Hrsg.): Huma­nis­mus: Grund­be­grif­fe. Berlin/Boston 2016, S. 9–15, hier S. 9.
  6. Vgl. Antoon De Baets: Ruft Unmensch­lich­keit Mensch­lich­keit her­vor? Unter­su­chung zu einem Para­do­xon. In: Horst Gro­schopp (Hrsg.): Huma­nis­tik. Bei­trä­ge zum Huma­nis­mus. Aschaf­fen­burg 2012, S. 64–74.
  7. Vgl. Joa­chim Fischer: Phi­lo­so­phi­sche Anthro­po­lo­gie als Statt­hal­te­rin des Huma­nis­mus in Zei­ten sei­ner Radi­kal­kri­tik. Geh­len und Pless­ner in den 1930er und 1940er Jah­ren. In: Mat­thi­as Löwe/Gregor Streim (Hrsg.): „Huma­nis­mus“ in der Kri­se. Debat­ten und Dis­kur­se zwi­schen Wei­ma­rer Repu­blik und geteil­tem Deutsch­land. Berlin/Boston 2017, S. 159–177, hier S. 176.

Quel­le: Horst Gro­schopp: Plu­ra­li­tät des Huma­nis­mus. Ein­füh­rung in Ders.: Kon­zep­tio­nen des Huma­nis­mus. Alpha­be­ti­sche Samm­lung zur Wort­ver­wen­dung in deutsch­spra­chi­gen Tex­ten. Mit einer Biblio­gra­phie. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2018, 314 S., hier S. 7–11 (Huma­nis­mus­per­spek­ti­ven, Band 4)