Gemeinsamer Kontext
Die Arbeit am vorliegenden Buch begann 2008. Es dokumentiert die bis Ende Februar 2018 vorliegenden Befunde zum Wortgebrauch des Begriffs „Humanismus“ in vorwiegend wissenschaftlichen Texten in deutscher Sprache. Die Sammlung wird erfreulicherweise weitergehen (müssen), denn immer wieder benutzen Autorinnen und Autoren die Kategorie „Humanismus“. Um das eigene Anliegen auszudrücken, geben sie meist noch ein präzisierendes Adjektiv dazu, sei es „abendländisch“ oder „zweiter“.
Es gibt auch das Verfahren, vor ein Hauptwort das Adjektiv „humanistisch“ zu setzen. Auch das dient dazu, die spezielle Botschaft zu verdeutlichen, zu erhärten, zu relativieren, vor allem aber, sie in einen „humanistischen Kontext“ einzubringen und dort zu verorten. Diese beiden Varianten sind Gegenstand des Buches, des vierten Bandes in der Reihe Humanismusperspektiven.
Die Verwendungen haben höchst unterschiedliche Motive. Vor allem aber zeigen sie auf einen großen Bedeutungsreichtum im Umgang mit „Humanismus“ und „humanistisch“. Oft geht es um Positionierungen in Spezialfragen, um Generalisierungen, um Anwendungen oder Beispiele. In diesen Verfahren wird ein Bezug auf das Große und Allgemeine des Humanismus hergestellt. Oft kommen historische Vorgänge in den Blick oder es werden aktuelle Streitfragen erörtert, die sich auf Humanismus selbst, sein Umfeld oder theoretische Erörterungen in ihm oder über ihn beziehen.
Der Gebrauch des Wortes „Humanismus“ fordert zu Stellungnahmen und Haltungen heraus. Ständig geht es um etwas Aufgeladenes, Bedeutsames, Bekennendes, Grundsätzliches, Wegweisendes. Wer sich über „Humanismus“ äußert, behandelt – ob gewollt oder nicht, ob aufs Ganze zielend oder auf ein Detail – Menschen- und Menschheitsprobleme.
In vielen der erfassten Beispiele geht es gar nicht vordergründig um eine eigene Position im intellektuellen humanistischen Konzert, gar um einen expliziten Beitrag zur Fortentwicklung der Humanistik oder des Humanismus als einer kulturellen und historischen Bewegung. Nicht ein „zukunftsfähiger Humanismus“ wird in der Regel erstrebt. Aber immer kommt ein praktisches und/oder gedankliches humanistisches Vorhaben zur Diskussion, gerade dort, wo über Humanismus in einem umfassenden Sinne verhandelt wird. Solche Studien sind erstaunlich häufig, wie die Bibliographie zeigt, die bewusst nicht alle Texte nennt, die im „Verzeichnis“ vorgestellt werden.
Das hier Dokumentierte erlaubt die Überschrift Konzeptionen des Humanismus. Die Worte „Humanismus“ und „humanistisch“ werden wohlüberlegt eingesetzt, wenn nicht gar gänzlich als Thema gewählt. Beide Ausdrücke werden bedachtsam gewählt, um die eigene Stellungnahme in einen bestimmten Humanismus-Diskurs einzureihen oder um sich davon gänzlich oder teilweise zu distanzieren. Wer das Wort „Humanismus“ benutzt, kann dessen Bekannheit und ein allgemeines Verständnis davon voraussetzen, so vage dies sein mag. Doch dass dies so ist, stellt einen interessanten Befund dar.
Meist ist die eigene Bezugnahme auf „Humanismus“ positiv. Der Hauptgrund dafür folgt aus der Humanismus- in der Menschheitsgeschichte selbst, den stattgehabten und stattfindenden Humanisierungen. Die im Allgemeinen positive Konnotation von „Humanismus“ oder „humanistisch“, da, wo sich sich der Begriff etabliert hat, liegt in der Nähe seines Inhalts beziehungsweise sogar seiner Identifikation mit „Humanität“ beziehungsweise „humanitär“. Wegen der Globalisierungen in der Ökonomie, Politik und Kultur wurde „Menschlichkeit“, trotz energischer und starker Gegenbewegungen, in der Moderne zu einem anerkannten (wenn auch in den Konkretionen umstrittenen) ethischen Gebot, dass den Gebrauch des Begriffs „Humanismus“ nicht unbedingt erfordert und in den Kulturen dieser Welt andere Ausdrücke findet.[1]
Über die „Entdeckung der Menschlichkeit“ gibt es inner- und außerhalb des Humanismus verschiedene Theorien, die wiederum mit verschiedenen Ansichten darüber zusammenhängen, was „Moderne“ heißt, wann und wo sie beginnt. Beide Historien, die der Vorstellungen von „Moderne“ wie die der Definitionen von „Menschlichkeit“, haben diverse Modelle hervorgebracht, den oder die „Menschen“ zu sehen. Einige Autoren führen die „Entdeckung“ bis auf Cicero zurück, andere auf Pico della Mirandola oder Johann Gottfried Herder, wieder andere auf entsprechende „Erklärungen“ anlässlich der nordamerikanischen Unabhängigkeit, der französischen Revolution oder der Gründung der Vereinten Nationen.
Die Ausdehnung des Verständnisses von „Humanismus“ hat auch die Vorstellungen von dem geweitet, was das lateinische Wort humanitas bedeutet, aus dem „Humanismus“ wie „Humanität“ hervorgegangen sind. Es wird wesentlich umfassender als in der Zeit verwendet, da das Wort „Humanismus“ Anfang des 19. Jahrhunderts in deutsche Debatten von einigen Intellektuellen und hohen Verwaltungsbeamten eingeführt wurde, um Bildungskonzepte zu diskutieren.[2] Von dort ausgehend haben beide Begriffe einen Siegeslauf angetreten, auf deren Etappen, Folgen, Regionen und Lesarten diese Sammlung verweist, wie auch darauf, dass über „Humanismus“ diskutiert wurde und werden kann, ohne Bezüge auf „Humanität“ herzustellen.
Humanitas bedeutet, so Hubert Cancik: „die Menschheit (das Menschengeschlecht: genus humanum), Entrohung (e‑ruditio, Bildung) und Barmherzigkeit. Das gute deutsche Wort ‘Barmherzigkeit’ ist ebenfalls ein Lehnwort, nämlich die genaue Übersetzung von miseri-cordia“.[3] In diesem praktischen Verständnis tätigen Beistands, wie Friedmar Kühnert bereits 1972 geschrieben hat, nicht als philosophische Kategorie, sondern „im Sinne von ‘verzeihender Liebe’ (clementia), ‘Barmherzigkeit’ (misericordia)“, erscheint humanitas um 80 v. u. Z. in der Schrift Rhetorica ad Herennium eines unbekannten Autors.[4]
Schon diese beiden Zitate verweisen indirekt darauf, wie weit entfernt die ersten bildungsorientierten Humanismusdebatten im beginnenden 19. Jahrhundert von den sozialen und ethischen Prinzipien waren, die humanitas ursprünglich ausdrückte. Dieser Interpretationsstreit zieht sich durch die Geschichte – und zwar als grundsätzlicher, wenn man allein die Konzeptionen vergleicht, die dem (in sich wieder differenzierten) „realen“ und dem „dritten Humanismus“ zugrundeliegen, von den Unterschieden zwischen dem „sozialistischen“ und dem „konservativen Humanismus“ ganz zu schweigen.
Neuere Konzepte stehen zwar auf dem Boden des „alten Humanismus“, aber viele in bewusster Distanz dazu. Andere erinnern an den „antiken“ oder den „klassischen Humanismus“, knüpfen hier an, andere haben sich davon emanzipiert oder meinen, ein ganz „neuer Humanismus“ sei nötig.
Zu den Bedingungen für die ursprüngliche Begriffsbildung von „Humanismus“ und seinem „weltweiten Erfolg gehören die ‘Aufklärung’ des 17./18. Jahrhunderts, die Stärke ihres universalen Begriffes von humanité/Humanität und die Konkretisierung des alten philosophischen Naturrechts zu einer ‘Erklärung der natürlichen Rechte des Menschen und Bürgers’ (1789/1791). Diese moderne Konstitution des Begriffs Humanismus beruht ihrerseits auf den sozialen und kulturellen Umbrüchen zur Neuzeit (seit etwa 1300), dem Ausbau der Universitäten, der Entdeckung zahlreicher antiker Texte und ihrer größeren Verbreitung durch Übersetzungen in die Nationalsprachen und durch den Buchdruck (seit etwa 1450).“[5]
Die nun vorliegende Begriffsliste stärkt die Erkenntnis, sich diese Entwicklung als unumkehrbare Kontinuität vorzustellen. Im Gegenteil, es zeigt sich, dass Humanismus immer dann Konjunktur hatte, wenn Humanität und Menschenwürde bedroht schienen oder tatsächlich verletzt wurden.[6] Die neuere Geschichte liefert hierzu die Beispiele der humanistischen Volksfrontdebatten um 1935 und die Rettungsversuche des Humanismus in der Nachkriegszeit im Vorfeld des Kalten Krieges zwischen 1945 und 1948.
Eine Andeutung von dem, was bis heute in den 1930er bis 1950er Kämpfen um den richtigen (der Zeit angemessenen, erfolgversprechenden) Humanismus konzeptionell steckt, gibt Joachim Fischer am Schluss eines Textes über philosophische Anthropologie in den 1930er und 1940er Jahren, wenn er die osteuropäischen Revolutionen 1989 auf die „Wiederkehr des ‘Humanismus’“ seit den 1970er Jahren zurückführt.[7] Eine spannende – und wohl richtige These, aber eine offene Forschungsfrage.
Fußnoten
- Vgl. Jörn Rüsen/Henner Laass (Hrsg.): Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen. Schwalbach 2009. ↑
- Friedrich Immanuel Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena 1808. – Vgl. Martin Vöhler: Die „Erfindung“ des Humanismus im 18. Jahrhundert. In: Horst Groschopp (Hrsg.): Humanismusperspektiven. Aschaffenburg 2010, S. 30–41, besonders S. 30. ↑
- Hubert Cancik: Humanistische Begründung humanitärer Praxis. Barmherzigkeit und Bildung. In: Horst Groschopp (Hrsg.): Barmherzigkeit und Menschenwürde. Selbstbestimmung, Sterbekultur, Spiritualität. Aschaffenburg 2011, S. 17–33, hier S. 17. ↑
- Friedmar Kühnert: Zum Humanismus im Rom der republikanischen und augusteischen Zeit. Magna est enim vis humanitatis. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität. Jena 1972. Heft 5/6, S. 871–880, hier S. 872, 876. ↑
- Hubert Cancik: Humanismus. In: Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf (Hrsg.): Humanismus: Grundbegriffe. Berlin/Boston 2016, S. 9–15, hier S. 9. ↑
- Vgl. Antoon De Baets: Ruft Unmenschlichkeit Menschlichkeit hervor? Untersuchung zu einem Paradoxon. In: Horst Groschopp (Hrsg.): Humanistik. Beiträge zum Humanismus. Aschaffenburg 2012, S. 64–74. ↑
- Vgl. Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie als Statthalterin des Humanismus in Zeiten seiner Radikalkritik. Gehlen und Plessner in den 1930er und 1940er Jahren. In: Matthias Löwe/Gregor Streim (Hrsg.): „Humanismus“ in der Krise. Debatten und Diskurse zwischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland. Berlin/Boston 2017, S. 159–177, hier S. 176. ↑
Quelle: Horst Groschopp: Pluralität des Humanismus. Einführung in Ders.: Konzeptionen des Humanismus. Alphabetische Sammlung zur Wortverwendung in deutschsprachigen Texten. Mit einer Bibliographie. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2018, 314 S., hier S. 7–11 (Humanismusperspektiven, Band 4)