Humanismus in Berlin um 1900
Die Foersters
In dieser Vortragsreihe werden wichtige humanistische Ideen vorgestellt und maßgebliche Denker präsentiert.[1] Zugleich thematisieren die Vorträge, ob und inwieweit deren Ideen heute noch von Bedeutung sind und wie sie produktiv für das 21. Jahrhundert genutzt werden können. Gerade dazu bieten die Foersters Anlass genug. Sie wurden sehr alt und hatten, zumal sie bis ins hohe Alter geistig rege blieben, mehr Zeit als andere, ihre Merkzeichen zu hinterlassen – was sie auch zur Genüge getan haben.
1896 fand in Zürich ein Kongress des Schweizerischen Ethischen Bundes statt. Hier kam es zu einer wichtigen Weichenstellungen für die gesamte ethische Bewegung. Man hatte zum einen August Bebel eingeladen, den Führer der deutschen Sozialdemokratie. Darauf wird am Schluss des Vortrages zurückkommen, wegen der Unversöhnlichkeit der Standpunkte der Foersters mit denen von August Bebel.
Zum anderen aber trug Wilhelm Foerster dort die Idee einer „ethischen Akademie“ vor, aus der in den folgenden Jahren zunächst der Plan einer Freidenker-Hochschule wuchs, aus dem sich dann die Idee der URANIA herausschälte[2] – eine Traditionslinie, an die angesichts von 120 Jahren URANIA zu erinnern ist.
Wilhelm Foerster, der Vater, starb in Potsdam 1921 im Alter von 89 Jahren. Hinter ihm lag als „aktive Zeit“ also fast die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sein Sohn Karl Foerster starb 1970 in Potsdam im Alter von 96 Jahren. Friedrich Wilhelm Foerster, der zweite berühmte Sohn, 1966 bei Zürich im Alter von 97 Jahren. Beide Söhne Foersters prägten die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert maßgeblich mit.
Wilhelm Foerster wird für gewöhnlich als Begründer der Sternwarte und der URANIA gewürdigt. Weniger bekannt ist der Verein zur Abwehr des Antisemitismus (1890) und sein Engagement für die „Humanistengemeinden“ in Deutschland sowie sein Pazifismus. [3]
Als die von Bertha von Suttner gegründete Deutsche Friedensgesellschaft, die erste pazifistische Organisation in Deutschland, ihren Aufruf im November 1892 veröffentlichte, im gleichen Jahr, in dem die noch vorzustellende ethische Kulturgesellschaft entstand, trug der Text 16 Unterschriften. Zu diesen wenigen bedingungslosen Kriegsgegnern zählten Wilhelm Foerster und Lina Morgenstern, die wohl erste deutsche weltliche Sozialhelferin, ebenfalls der Berliner „Humanistengemeinde“ angehörig. Kein Wunder, dass in diesem geistigen Umfeld die Idee und das Programm einer „weltlichen Seelsorge“ entstanden.
Wilhelm Foersters Sohn Karl Foerster, den Botaniker, kennt jeder Gartenfreund noch heute als „Stauden-Foerster“, „Blumenkönig“ oder auch „Pflanzenzauberer“. Er wird im Vortrag weniger eine Rolle spielen, obwohl gerade sein Engagement für eine Gartenkunst (er nannte das „Gartenschönheit“) für „kleine Leute“ durchaus ein Humanismus der Tat war. Im Volke war er durch den modernen industriellen Versandbetrieb seiner Zuchterfolge der Bekannteste von den Dreien, vor allem durch seinen Rittersporn und Phlox. Vielen Kleingärtnern in der DDR war er dem Namen nach bekannt durch seine winterharten Gewächse und den Potsdamern durch die öffentliche Gartenschau (seit 1939) auf der Freundschaftsinsel. Der Name der Blumeninsel war philosophisch gemeint als eine Art Zauber- und Wunderland der Natur in einer Großstadtlandschaft.
Karl Foerster war vor allem ein begnadeter Gartenfreund, erfolgreicher Unternehmer und vielseitiger Fachbuchautor. Er nannte sich selbst einen Mystiker, der seine Naturphilosophie in seinen Pflanzen ausdrücke. Er arbeitete an einer Lebensphilosophie, die andere glücklich machen sollte und ihnen über Lebensbrüche hinweghelfen könnte. Der zweite Grund aber, warum aber Karl Foerster im Folgenden weniger eine Rolle spielt, ist seine ambivalente Haltung zum Nationalsozialismus, sein gelegentlicher Antisemitismus und seine Euphorie gegenüber der frühen DDR.[4] Die Gartenkunst ging ihm letztlich über alles und ließ ihn politischen Systemen gegenüber unkritisch sein.
Friedrich Wilhelm Foerster, der zweite berühmte Sohn des Sterneforschers, erfand 1905 das Wort „Lebenskunde“. Das Wort wurde in den 1920ern ein reformpädagogisches Konzept und ein Fach an weltlichen Schulen. „Humanistische Lebenskunde“ ist heute in Berlin freiwilliges Schulfach und wird als Alternative zum Religionsunterricht von über 50.000 Kindern besucht.
Friedrich Wilhelm Foerster wurde von seinem Vater zum Geschäftsführer der Berliner Humanistengemeinde berufen, musste aber bereits 1895 Deutschland aus politischen Gründen verlassen. Wegen des Aufsatzes Der Kaiser und die Sozialdemokratie[5] waren gegen ihn drei Monate Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung verhängt worden. So arbeitete Foerster bis 1903 als Generalsekretär des Internationalen Ethischen Bundes in Zürich. Hier hielt er Vorlesungen, zuerst ein Jahr an der Universität, dann an der Technischen Hochschule. Er widmete sich der Arbeiterfrage, der Pädagogik, dem Darwinismus und dem Monismus.
An der Züricher Universität wurde Foerster 1898 habilitiert. Wegen seines politischen Purismus und wegen seiner Rezeption amerikanischer Moraltheorien blieb Foerster bis kurz vor dem ersten Weltkrieg eine deutsche Hochschulprofessur verwehrt. Über den Umweg einer Verbeamtung in Wien kam er schließlich von 1914 bis 1920 als Ordinarius für Pädagogik nach München.
Foerster wollte die moralische Unverbindlichkeit und den sozialen Individualismus Amerikas aus Deutschland fernhalten. Dennoch galt Foerster als Prototyp eines „Modernisten“. Das war schon deshalb so, weil jede Aufweichung der offiziellen christlichen Lehrmeinung als „modern“ bezeichnet wurde – und zwar in einem streng pejorativen Sinn. Nach 1900 neigte F. W. Foerster immer stärker zu den Bekennern der Lehre Jesu und damit zum Katholizismus, ohne sich jedoch kirchlich neu zu binden. Von einem Dissidenten der evangelischen Kirche hatte sich Foersters Bekenntnis zu dem eines freien Katholiken gewandelt.
Der bekennende Pazifist F. W. Foerster, einer von ganz wenigen vor dem ersten Weltkrieg, hielt an der Münchener Universität 1918, kurz vor der Revolution, pazifistische Vorlesungen. Die Oberste Heeresleitung bat daraufhin Max Weber, den berühmten Begründer der modernen Sozialwissenschaften, dort ebenfalls Vorlesungen zu halten, um Foersters Idealismus zu korrigieren, der auf die neue schwärmerische junge Intelligenz ausstrahle und deren Kriegsmüdigkeit artikuliere.[6] Daraus entstanden Webers berühmte Schriften Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf.
Es wird nun versucht, in das Denken und Handeln dieser Humanisten einzuführen und zu erläutern, worin deren Bedeutung für den heutigen Humanismus gesehen werden kann. Dabei werden weniger die Personen im Mittelpunkt stehen als vielmehr die kulturgeschichtlichen Vorgänge, in denen sie ihre Spuren hinterließen und dies noch konzentriert auf die Zeit um 1900. Hinsichtlich Wilhelm Foerster werden sechs Themen gestreift: das Programm der ethischen Kulturgesellschaft, ihr Verhältnis zu Religion und Kirche, die weltliche Versammlungskultur der Humanistengemeinde, deren Bildungsarbeit, die Frage der „weltlichen Seelsorge“ und die „Rassenfrage“. Bei F. W. Foerster sollen dies vier Themen sein: Lebenskunde und Religionsunterricht, Sexualmoral, Verhältnis zu Demokratie und zum Frieden.
Gründung der ersten „Humanistengemeinden“
1887 war von Freireligiösen in Berlin eine Humanistische Gemeinde ins Leben gerufen worden. Sie verfolgte drei Ziele: Sie wollte eine Kulturgemeinde statt einer Kultusgemeinde sein, eine ethische statt einer Bekenntnisgemeinde und eine humanistische statt einer religiösen Gemeinde“.[7]
Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung und das Ende von Kulturkampf und Sozialistengesetzen nach 1890 neue Vereine. Die sozialistische Arbeiterbewegung kehrte in die Legalität zurück und gründete Kulturverbände. 1891 kam es zur Errichtung der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, die auf soziale Reformen und Sozialarbeit gerichtete Staats‑, Vereins- und Privatinitiativen bündeln wollte. In dieser Geburtsstunde des „Kathedersozialismus“ wurden bürgerliche Schichten kurzzeitig von einer starken sozialreformerischen Bewegung erfasst.
Die freireligiöse Gemeinde Berlin, im Vormärz vor 1848 gegründet und auf geistigem Weg in die Freidenkerbewegung, entfaltete nach 1890 eine rege kirchenkritische Propaganda. Ein Verbund von Staats- und Schulreformern trat parallel dazu gegen den 1892 vorstellten, stark konservativen Volksschulgesetzentwurf an, der eine stärkere Konfessionalisierung der Schulaufsicht vorsah.
In Berlin begann in dieser Gemengelage 1892 ein sich über Jahre hinziehender Rechtsstreit zwischen der Stadt und den ortsansässigen protestantischen Kirchen. Der Magistrat weigerte sich, die Kosten für Kirchenneubauten zu übernehmen. Zunächst hatte es den Anschein, als käme es darüber zu einem neuen Kulturkampf, doch ging die Berliner Stadtregierung erfolgreich den Gerichtsweg und hatte 1903/04 Erfolg.
Die Idee zu einem ethischen Verein, der über solchem Streit erhaben sein wollte, lag in der Luft und hatte Vorbilder in England und den USA. Felix Adler, ein in die USA emigrierter säkularer Jude, hatte von New York aus gute Kontakte nach Berlin, vor allem zu Philosophieprofessor Georg von Gizycki. Sein Wirken führte schließlich zu einem Verein, der sich einer erneuerten Ethik widmen wollte, gegen das egoistische Streben nach Behagen und Genuss nur für sich und nur die eigene Familie.
Zugleich sollte sich die neue Ethik mit einer vorbildlichen persönlichen Lebensführung und Bereitschaft zur sozialen Lebenshilfe verbinden, denn der Alltag proletarischer Unterschichten zeige, so Gizycki, „daß das Haus, die Schule, die Kirche ihnen in sittlicher Hinsicht wenig oder nichts“ mehr geben könne.[8] Die Kultur tragenden Oberschichten müssten an ihre Pflichten zu erinnert und den sozialdemokratisch bestimmten Einrichtungen dürfe nicht die Ethik der Zukunft überlassen werden.
Am 7. Mai 1892 sprach Felix Adler auf einer öffentlichen Versammlung im Victoria-Lyceum zu Berlin. Er forderte, in einer „Zeit innerer und äußerer Zerfahrenheit, in einer Zeit der Zwietracht, des Glaubens‑, Klassen- und Racenhasses, in einer Zeit voll materieller Gesinnung und auflösender Tendenzen“[9], an die Gründung „ethischer Gesellschaften“ zu gehen. Solche Vereine sollten ihre Legitimation ausdrücklich aus den Leitgedanken Immanuel Kants über „ethische Gesellschaften“ schöpfen, in Anwendung von dessen Schrift von 1793 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Das seien solche Organisationen, die außerhalb von Glaubenssätzen und Kultbräuchen „die Gesinnung eines guten Lebenswandels“ als den wahren Gottesdienst ansehen und sich zu diesem Zwecke organisieren.
Am 18. Oktober 1892 saßen dann schließlich an die vierzig Personen zusammen, die Mehrzahl aus Berlin, ein Übergewicht an Doktoren, mindestens zehn Professoren und immerhin auch sechs Frauen. Am zweiten Tag, insgesamt dauerte die Konferenz vier Tage, kam die Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur tatsächlich zustande und Wilhelm Foerster hielt eine die Öffentlichkeit erregende Einleitungsrede.[10]
Die neu gegründete Gesellschaft verfolgte das Ziel, „die Menschheit in ihrem sittlichen Streben zu einigen, ohne nach ihrem religiösen Bekenntnis zu fragen.“[11] Sie war die erste moderne überregionale Verbindung zwischen sozial eingestellten Akademikern und ebenso reformerisch überzeugten Fabrikanten, die ihrerseits – z.B. Ernst Abbe in Jena – als Sponsoren auftraten. Die Kulturgesellschaft erstrebte öffentliche Diskussionen über moralische Fragen und wollte sich der Jugenderziehung und der Erwachsenenbildung widmen.
Wilhelm Foerster hielt bei der Gründung zwei Referate, eines über „die litterarische und publizistische Bethätigung“ und eines über die „Bethätigung gegenüber den Übelständen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“. Mit der Zeit wuchs aus diesen Ideen Foersters ein praktisches Programm mit ethischen Stellungnahmen zur Freimaurerei, zur Frauenbewegung, zu Friedensbestrebungen, zur Alkoholabstinenz und gegen den Antisemitismus.
Es bedeutete in Deutschland zu dieser Zeit, wohl bis heute, einen existentiellen Unterschied, in akademischen Moralvereinen sozusagen lediglich privat gegen Übertreibungen der Kirchen zu polemisieren oder einen solchen Standpunkt öffentlich bekannt zu geben. Diese Grenze überschritt in den Augen seiner Umgebung besonders der Vorsitzende des Vereins Wilhelm Foerster. Deshalb wurde er von ehemaligen guten Freunden geschnitten (etwa vom Maler Adolph Menzel). Ihn ereilte sogar eine Disziplinaruntersuchung wegen Atheismus und Anarchismus.
Tätigkeit der Gemeinden
Religion nahmen die Kulturethiker als Sittenkodex. „Wir wollen es einmal versuchen“, schrieb der Soziologe Ferdinand Tönnies, später selbst Leiter der Abteilung Kiel der ethischen Gesellschaft, „aus der Ethik selber eine Religion zu machen, aus ihr ganz allein.“[12] Das ließ ihnen zugleich ganz andere Glaubensgebäude als das christliche interessant erscheinen, so z. B. den Buddhismus.
Daraus formten die Kulturethiker, wie sie meinten, wissenschaftliche moralische „Gesetze“ und „Prinzipien“, um „ethische Kultur“ respektive „ethischen Humanismus“ zu befördern. Es ging dabei sowohl um Fürsten- wie auch um Volkserziehung. Die ethische Gesellschaft wolle, so Tönnies, „die Wahrheiten der Ethik“ feststellen und so lehren, „wie die Wahrheiten der Astronomie und anderer Naturwissenschaften“.[13] Es versteht sich, dass hier Wilhelm Foerster, der Astronom, ein wichtiger Vermittler solchen Denkens war.
Die Formen, in denen sich die Moderne in den großstädtischen Metropolen äußerte, erschienen den Anhängern der Kulturgesellschaft als Krise religiöser Bindungen und daraus folgender moralischer Verirrungen. Dagegen beabsichtigten sie massiv anzugehen und nahmen sich vor, alle kulturellen Aktivitäten außerhalb der Betriebe, des Staates, der Kirchen und der Sozialdemokratie zu bündeln und ihnen ein gemeinsames Konzept auf ethischer Basis zu geben, um das Loch zunehmender Religionslosigkeit zu stopfen.
Das war ein ehrgeiziges Vorhaben und Wilhelm Foerster stand an dessen Spitze. Auf den Versammlungen der Ethiker verkündeten einige Redner sogar das Ende der kirchlichen Macht. Diesem Kehraus müsse man mit einer allgemein verbindlichen neuen sozialen Sittlichkeit begegnen und auf einen Zustand hinarbeiten, in dem die Menschen zwar das Recht auf eine individuelle Moral haben sollten – aber nur auf Basis „wissenschaftlich“ gesetzter Vorgaben.
Durch den beabsichtigten Ersatz des Christentums als Staatsreligion durch Ethik hatten sich vor den Augen der Anhänger der Kulturgesellschaft, die oft als junge Doktoren zugleich auf Arbeitssuche waren, neue Berufs- und Beschäftigungsfelder aufgetan. Wohl deshalb wuchs die Mitgliederzahl. An der Spitze lag dabei Berlin mit zeitweise über 2.000 Anhängern.
Zum anfänglichen Erfolg der ethischen Bewegung trug auch eine sofort stark geförderte Publikationstätigkeit bei, so nach 1893 die Herausgabe der Halbmonatsschrift Ethische Kultur, die zunächst den programmatischen Untertitel trug: Wochenschrift zur Verbreitung ethischer Bestrebungen. Die Zeitschrift wurde von Georg von Gizycki begründet und, bis zu seinem Tode 1895, von ihm (und seiner Frau Lily, der späteren Sozialistin Lily Braun) redigiert. 1895 bis 1897 war Friedrich Wilhelm Foerster Redakteur.
Berühmt wurden in Berlin die weltlichen Sonntagsfeiern. Die Versammlungen der Berliner ethischen Gemeinde fanden in aller Regel einmal monatlich an Sonntagnachmittagen statt. Damit sie keine Konkurrenz zu den Gottesdiensten darstellten, aber mit einem Nachmittagsspaziergang der Familie verbunden werden konnten, traf man sich mit den Frauen und Kindern vor dem Kaffee. Das besaß eine Zeitlang tatsächlich eine gewisse Attraktivität, zumal man nach kurzen Einleitungen eher den Disput pflegte und sich so von der Predigt abhob.
Mit der Zeit wirkte sich aber genau dies negativ aus. Viele suchten Kirchenersatz, fanden ihn aber nicht. Auch waren der wissenschaftliche Vortrag und das akademische Streitgespräch immer weniger dazu angetan, alle anwesenden Doktoren und Professoren und vor allem deren Ehefrauen zu unterhalten.
Jedenfalls entbrannte darüber ein Streit. Die eine Richtung meinte, viele Gläubige hielten lediglich deshalb an der Kirchenmitgliedschaft fest, weil viele Kulte noch in den Alltag integriert seien. Für diese Beobachtung sprach, dass zwar nur eine Minderheit der Kirchenzugehörigen praktizierte, die Kirche jedoch weiterhin bei den durch allgemeine Sitte und bürgerliches Ansehen begründeten Haupthandlungen (Taufe, Heirat, Begräbnis) fast allgemein in Anspruch genommen wurde.
Dies vor Augen, sprach sich eine Gruppe der Humanisten für eigene „weltliche“ Kulte aus und der Nachfolger von F. W. Foerster im Amt des Geschäftsführers der DGEK, Rudolf Penzig, veröffentlichte das mit einem Geleitwort von Wilhelm Bölsche versehene programmatische Buch Ohne Kirche. Eine Lebensführung auf eigenem Wege,[14] das auch als Anleitung zum Handeln für den Humanistischen Verband gelesen werden kann.
Die andere Richtung nahm an, die Bejahung kultischer Elemente sei generell religionsimmanent und sie auszuüben helfe letztlich nur den Kirchen. Man wollte vermeiden, den Kirchen gegenüber als Religionsersatz zu gelten.
Der Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern eigener Kulte produzierte über die Zeit einen praktischen Kompromiss, der zugleich eine bedeutende Innovation darstellte – die Beförderung professioneller weltlicher Sozialhilfe, unabhängig von den weltanschaulichen respektive religiösen Hintergründen.
Mit diesen praktischen Aktivitäten wuchs die Konzeption der „weltlichen Seelsorge“. Sie ist nach der Jahrhundertwende begrifflich und konzeptionell wesentlich von Wilhelm Börner (1882–1951) geprägt worden. Börner war schon als 20-jähriger Student im Jahre 1902 der ethischen Gesellschaft beigetreten und wurde von Wilhelm Foerster gefördert. Er war der Auffassung, die modernen Menschen seien von den Kirchen entfremdet. Es fehle ihnen dadurch „jede Instanz zur Seelsorge“.[15] Dagegen wollte er mit „weltlicher Seelsorge“ Abhilfe schaffen.
Deshalb setzten die Kulturethiker eine Zentrale für private Fürsorge ein. In Breslau bot der Verein in Volksschulen ein warmes „Schüler-Frühstück“ an und unterhielt eine Einrichtung für den „Arbeitslosenschutz“.
Diese und andere Aktivitäten des ethischen Vereins wurden im Berliner Büro der Gesellschaft erfasst und unter tatkräftiger Leitung von Wilhelm Foerster koordiniert. 1908 zog die Gesellschaft mit all ihrer Ausstattung in den Spreepalast (SO 27, Rungestraße 27; Nähe Jannowitzbrücke; heute Ecke Brückenstraße), wo sie auch ihre Lesehalle eröffnete – mit einer weiteren Sensation, der ersten deutschen weiblichen Bibliotheksangestellten: Bona Peiser.
Die ethische Gesellschaft richtete nach Berlin auch in Breslau eine Auskunftsstelle für Wohlfahrtspflege und Rechtsprobleme ein und gründete zuerst in Freiburg eine Allgemeine Volksbibliothek, dann in Frankfurt a. M. (1894) und Berlin (1895). Es folgten in Breslau, Jena, Wiesbaden, Mühlhausen und Magdeburg freie Volkslesehallen bzw. Volksbibliotheken. Es ist unbedingt festzuhalten (was wenig bekannt ist), dass die Berliner Stadtbibliothek auf Ideen und praktische Versuche des Vereins von Wilhelm Foerster zurückgeht.
Jugendarbeit und Lebenskunde
Die Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur hatte mit ihrer Gründung eine bis heute andauernde Kontroverse über einen Moralunterricht als Alternative zum Religionsunterricht ausgelöst, bei der es auch um ein gesondertes Fach „Lebenskunde“ ging. Die Diskussion begann mit dem Erscheinen der deutschen Übersetzung des Buches von Felix Adler über den Moral-Unterricht der Kinder.[16] Adler befürwortete das Prinzip eines konfessionsfreien, ethisch begründeten, wenn auch auf der christlichen Glaubenslehre aufbauenden Moralunterrichts.
Zum besseren Verständnis des Vorhabens muss man wissen, dass die Freireligiösen einen nichtkonfessionellen Jugendunterricht – für Dissidentenkinder – forderten, sozusagen einen eigenen Weltanschauungs- und keinen Moralunterricht.
Über diesen Jugendunterricht kam es vor allem in Berlin Ende 1893 zu einer offenen politischen Auseinandersetzung mit strafrechtlichen Konsequenzen, die aber die Freireligiösen stärker traf als die ethische Kulturgesellschaft, weil diese ihr Angebot nicht als Ersatz für den Religionsunterricht verstand. Die Ethiker begannen im Januar 1893 in der Kleiststraße 29 einen Jugendunterricht für 24 Kinder zunächst unbehelligt durchzuführen.
Parallel dazu gingen die Behörden gegen den Jugendlehrer der freireligiösen Gemeinde Bruno Wille vor, sperrten den Begründer der Volksbühne ins Gefängnis, dann gegen die dortige Lehrerin Ida Altmann (geb. 1862; Schriftstellerin) und schließlich sogar gegen den Sprecher der Humanistengemeinde, den Theologen Georg Siegfried Schäfer, der den Dissidentenkindern Stunden gab.
Was immer auch die verschiedenen Jugendlehrer unternahmen, stets verhängten die Behörden ein Unterrichtsverbot. Das Gesetz sah einen ausreichenden Ersatzunterricht eben nur dann als gegeben an, wenn der Lehrer dem jeweiligen Regierungspräsidenten eine ausreichende Bildung im Religionsfach [sic!] nachweisen konnte. Damit ergab sich für die freien Gemeinden, die Berliner Humanisten und die Behörden ein unlösbarer Widerspruch.
Wilhelm Foerster schrieb deshalb Ende Oktober 1893 (als Aufruf veröffentlicht Ende März 1894) einen Wettbewerb für ein „volkstümliches Handbuch der Ethik“ (dann präzisiert in „der humanen Ethik“) aus und bestimmte einen Preis von 4.000 Mark. Die Arbeiten sollten bis Oktober 1896 eingereicht und ein Jahr später beurteilt sein.[17] Das Ergebnis war bescheiden und die vom Vorstand berufenen Gutachter vergaben nur einen Trostpreis.
Die Führung der ethischen Gesellschaft konnte sich in dieser Situation nicht entschließen, als Gesamtverein die Forderung nach Weltlichkeit des Schulwesens zu vertreten. Die Verfechter der weltlichen Schule in ihren Reihen gründeten daraufhin eine Arbeitsgruppe, die Liga für Moralunterricht, mit F. W. Foerster an der Spitze. In der Liga für Moralunterricht eskalierte dann aber die Debatte mit dem Ergebnis, dass wegen der Dominanz einer ablehnenden Haltung zu jedem Religionsunterricht an den Schulen, Wilhelm und Friedrich Wilhelm Foerster 1903 von ihren Ämtern in der ethischen Kulturgesellschaft zurücktraten.
Den Auslöser lieferte der Gesellschaftstag im Oktober 1903 in Eisenach mit den dort verabschiedeten Leitsätzen Die Stellung der Gesellschaft zu den Religions-Gesellschaften. In Welterklärungsfragen stehe man „auf dem Boden der strengsten Neutralität“. Doch habe man die Pflicht zur „Verteidigung unserer Grundüberzeugung“. Das gebiete, hinsichtlich der „Religionsgesellschaften sogar angreifend und polemisch vorzugehen“. Man erstrebe schließlich die Verweltlichung des gesamten Staatslebens und vor allem der öffentlichen Schule.[18]
Der Atheist, Freidemokrat und spätere Sozialdemokrat Rudolf Penzig, damals Generalsekretär der DGEK, trat gegen den Vorstand auf und konterkarierte besonders die von Friedrich Wilhelm Foerster beförderten Ideen eines ethischen Religionsunterrichts auf Basis des Christentums. Parallel dazu führte Friedrich Wilhelm Foerster den Begriff „Lebenskunde“ als Bezeichnung für den ethischen Moralunterricht ein. Er gab 1904 einer 1905 erschienenen Schrift den Titel: Lebenskunde. Ein Buch für Knaben und Mädchen.[19] 1909 erreichte die Auflage eine Höhe von 25.000 Exemplaren.
Der Erfolg dieses Buches führte 1909 zu einem weiteren, in dem er Eltern, Lehrer und Geistliche ansprechen wollte: Lebensführung. Ein Buch für junge Menschen.[20] Es war dies eine sehr moralisch gehaltene Beispielsammlung aus seiner knapp ein Jahr zuvor veröffentlichten „Jugendlehre“. Foerster entwickelte darin eine Stufenfolge, Kinder in sittliche Prinzipien einzuführen. Damit verwob er eine Liste nötiger Wissensbereiche und Ideale. In jedem Lebensalter des Kindes sollte dieses eine besondere Pflicht erlernen – man beobachte schließlich die „wachsende Verwilderung der Jugend aller Klassen“.[21] Die Schuldisziplin sollte stärker selbstregiert gesichert werden.[22] Auch auf die größere Offenheit der Moderne in sexuellen Fragen sei die Jugend pädagogisch vorzubereiten.[23]
Foerster schloss seine Abhandlung mit der Forderung, „daß in allen Staaten und Gemeinwesen mit verschiedenen Konfessionen die staatlichen Schulen immer konsequenter zur vollen Neutralität in konfessionellen Fragen schreiten müssen … Aus dieser Neutralität ergibt sich notwendig die Einführung rein ethischer Besprechungen, welche die religiösen Sanktionen des Sittlichen dem kirchlichen Unterrichte überlassen und sich darauf beschränken, angewandte Ethik und Lebenskunde zu geben.“
Während dies auch Rudolf Penzig und die Freidenker so sahen, folgte aus dem Nachsatz die trennende Differenz, „daß ein rein ethischer Unterricht durchaus der Ergänzung durch eine tiefere religiöse Bildung“ bedarf.[24]
Foersters Idee, den Staat geistig formen zu wollen, ließ ihn sogar eine deutsche „Staatsbürgerkunde“ vorschlagen – doch fasste er diese in erster Linie als gesellschaftliche Prinzipienkunde.[25] Ein entsprechendes Schulfach schlug Foerster ebenfalls vor. Es sollte vor allem der Charakterbildung dienen, die den einzelnen in den Stand setzt, auch ohne staatlichen oder kirchlichen Zwang die vorfindlichen Autoritäten zu achten.[26]
Foersters Auffassungen inspirierten die weitere Debatte. Doch war, um die ethische Gesellschaft nicht zu gefährden, die organisatorische Ausgliederung der Liga für Moralunterricht nötig. 1906 entstand der Deutsche Bund für weltliche Schule und Moralunterricht. Von nun an hatten beide Foersters nur noch wenig Einfluss auf die Debatte, weshalb sie hier vernachlässigt werden soll.
Die sexuelle Frage
Auch auf eine zweite Ausgründung aus der DGEK sei kurz verwiesen, weil die Debatten zwar unter Wilhelm und Friedrich Wilhelm Foerster begannen, aber dann ferner von ihnen weiter gingen. Es handelt sich hier um den zu Jahresbeginn 1905 in Berlin gegründeten Bund für Mutterschutz, seit 1908 unter dem Namen Deutscher Bund für Mutterschutz.
Diese Ausgründung wurde unbeabsichtigt von Wilhelm Foerster provoziert: Als 1909 eine öffentliche Debatte über Präservative stattfand, warnte er vor den „traurigsten Rassen-Entartungen seelischer und leiblicher Art“, die deren allgemeiner Gebrauch herbeiführen würde. Stattdessen empfahl er „Selbstbeherrschung“.[27] Wie das der meisten Ethiker, so war auch sein Konzept weder hedonistisch noch bedürfnisorientiert, sondern wollte erziehen. Es orientierte sich durchaus noch an bestimmten Seiten der sehr prüden Kultur des damaligen Bildungsbürgertums.
Eine Leserzuschrift 1909 in der Zeitschrift Ethische Kultur verdeutlicht die Diskrepanz zwischen DGEK und den Gründern des Mutterschutzbundes. Der Brief sah die „Lösung der Sittlichkeitsfrage“ vor allem in der „Selbstbeherrschung [und] Vermeidung all jener ebenso verhängnisvollen wie beliebten Genußgifte, wie z. B. Alkohol, Nikotin, Kaffee, Tee, Fleisch und alle Speisen und Gewürze, die den Geschlechtstrieb reizen.“[28]
Gegenüber solchen Vorbehalten begriff sich der Mutterschutzbund als Protestverein.[29] Helene Stöcker wurde in den wenigen Jahren bis zum Kriegsausbruch bekannt dafür, dass sie für Erleichterung der Ehescheidungen, Unterstützung lediger Mütter, Mutterschutzversicherungen und für frei entschiedene Liebe auch unter Homosexuellen Männern und [!] Frauen eintrat, Ersteres wurde damals als Entartung gesehen, Letzteres war unvorstellbar. Doch sie sagte schon 1905 in Berlin auf einer öffentlichen Frauenversammlung: „Denn was heute überall herrscht: das sind die traurigen Kehrseiten eines glücklichen Sexuallebens: Prostitution und Geschlechtskrankheiten, Geldheirat und Askese der Frau.“[30] Letzteres erschien den Zeitgenossen, die einen Orgasmus der Frau für unvorstellbar hielten, als direkte Aufforderung zur Unmoral.
Im Mutterschutzbund machte man sich über F. W. Foerster öffentlich lustig. In seiner „über Körper und Fleisch triumphierenden scheinbaren Selbsterhebung der Seele“ klinge „das heilpädagogische System Försters aus“. Man bezichtigte Foerster, „das Kulturbild der Erbsünde“ weiter zu verbreiten und das „Weib als Vermittlerin der Ursünde“ anzusehen.[31]
Foersters moderat vorgetragenes und sehr pädagogisches Konzept einer erneuerten Sexualethik galt aber zugleich in akademischen und kirchlichen Kreisen als Angriff auf die öffentliche Moral. Schon das Thema war verpönt. Aufgeschlossenen Reformern wollte er seine Vorschläge nahelegen, weshalb er sie beruhigte und sich von den Extremen (erfolglos) distanzierte.
Die Moralvorstellungen der Kulturethiker interessierten vor allem Arbeiter wenig. Sie blieben, wenn sie sich in solchen Fragen organisierten, den Humanistengemeinden fern und gingen eher den Weg in die Freidenkerei. Friedrich Wilhelm Foerster wiederum verzichtete ab 1904 auf freigeistige und fand zurück in religiöse Welterklärungen. Er kündigte wegen unüberbrückbarer weltanschaulicher Differenzen seine Mitarbeit an der Zeitschrift Ethische Kultur.
Zur Rassen- und zur Friedensfrage
Mit dem Weltkrieg brachen mehrere Streitthemen offen aus, die bis dahin weitgehend unter der Oberfläche schwelten, die Haltung zur Friedens- und die zur Rassenfrage sowie zur Demokratie. Pazifisten in der ethischen Bewegung blieben in der Minderheit. Sie richteten den Tenor ihrer kritischen Argumentation auf die „kulturfeindliche Übertreibung der Sicherheitsmaßregeln gegen fremde Gewalttat“, hielten aber an der kolonialistischen Absicht fest, dass die „Zivilisierung der wilden Stämme und die richtige Leitung der Völker mit rückständiger Kultur“ eine selbstverständliche ethische Aufgabe sei.[32]
Der 1893 in Eisenach gegründete Internationale Bund Ethischer Gemeinschaften organisierte 1911 den ersten weltweiten Rassenkongress, der vom 26. bis 29. Juli in London unter der mehrdeutigen Losung von der „Anerkennung der Rassen“ stattfand. Das lief im Verständnis der Mehrheit und der Zeit auf eine rechtliche Gleichheit bei kulturell ungleicher Bewertung hinaus – also auf die Existenz höherer und niederer Menschenrassen. Toleranz bezog sich auf Weltanschauungen, meinte nicht soziale Anerkennung der Gleichheit als Menschen.
In den Reihen der ethischen Kulturgesellschaft wurde die Frage der Möglichkeit der Demokratie für Deutschland rege diskutiert. F. W. Foerster wollte die Einführung von mehr Demokratie an bestimmte kulturelle Voraussetzungen binden. Es müsse Einigkeit erzielt werden, auf welche Werte sich die künftige moralische Autorität gründen solle. Nach Lage der Dinge käme sowieso nur eine aus dem Christentum abgeleitete Ethik in Betracht. Deshalb sprach er vehement gegen alle Illusionen über den „freien Menschen“. Eben weil die radikalen Dissidenten nach seiner Meinung auf eine „geistige Anarchie“ hinsteuern, würden sie eine große Krise heraufbeschwören, in der „alle soziale und persönliche Kultur zusammenbricht“.[33]
„Der beste Beweis dafür sind eine ganze Reihe neuerer Schriftsteller, deren ‘autonome’ Ethik dem Töten wieder einen weiten Spielraum gewährt: Ostwald zum Beispiel protestiert gegen die übertriebene Heiligung des individuellen Lebens in unserer Zeit, Haeckel empfiehlt spartanische Selektion, d. h. Tötung abnormer, schwacher oder mißgebildeter Kinder, Forel macht ähnliche Vorschläge, andere befürworten die Tötung schwer Leidender und unheilbar Geisteskranker. Wer will nun diesen Autoren wissenschaftlich nachweisen, welche furchtbaren Folgen alle solche Praktiken in der menschlichen Seele zeitigen müssen?“[34]
Foerster meinte deshalb, es müsse eine letzte moralische Instanz für menschliches Tun geben. Sie finde sich in dem Glauben an den Wert des einzelnen Menschen an die „Heiligkeit des Lebens“. In unserem Kulturkreis komme diese Sicherheit aber nun einmal aus dem Christentum. – Das sahen die monistischen Freidenker anders, die sich dann im Kriege in eine linke und eine rechte Linie schieden.
Foerster hielt, trotz massiver Anfeindungen während des Ersten Weltkrieges, seinen Pazifismus durch. Er wurde als Person noch immer identifiziert mit der ethischen Kulturgesellschaft. Seine kosmopolitische Offenheit, sein Eintreten für einen Verständigungsfrieden und seine Tätigkeit als Bayerischer Gesandter in der Schweiz 1918/19 brachten ihn 1922 auf die Mörderliste, der Walter Rathenau (1867–1922) zum Opfer fiel.[35] Rechtzeitig gewarnt, floh Foerster zunächst in die Schweiz. Dort verfolgten ihn noch im schon hohen Alter die Nationalsozialisten, so dass er 1940 in den USA Exil suchen musste und erst 1963 nach Europa zurückkehrte.[36]
Was können die Biographien der Foersters lehren? Unsere Gesellschaft beginnt erneut, Gesinnungen zu verhandeln. Es geht um Evolutionstheorie versus Kreationismus, Ethik bzw. Lebenskunde versus Religionsunterricht, um Autonomie kontra Seelsorge. Zu allen aktuellen Themen hatten die Foersters etwas zu sagen. So neu können also die Themen gar nicht sein.
Abschließend zurück ins Jahr 1896 und zum eingangs erwähnten Kongress des Schweizerischen Ethischen Bundes in Zürich. Bebel erhielt über eine Stunde Redezeit, in der er seinen Standpunkt vortrug und sich und seine Partei von der „Humanitätsduselei“ der Ethiker abgrenzte. Ob er dies wörtlich tat, ist bisher nicht belegt, aber das entspräche seiner Kritik am humanitären Konzept der französischen Fourieristen.[37]
Bebels Haltung war für die ethische Gesellschaft ernüchternd. Für die Befreiung der Arbeiterklasse sei die Tätigkeit des Vereins „belanglos“. Wer sich als Akademiker der Arbeitersache anschließen wolle, müsse sich zur Verstaatlichung der Produktionsmittel bekennen. Als die Arbeiter während des Sozialistengesetzes verfolgt worden seien, hätten die Gelehrten geschwiegen.
Tönnies opponierte, forderte Antworten auf ethische Fragen ein. Bebel antwortete, man könne sich vielleicht in der Abwehr reaktionärer Gelüste einig werden – aber er hatte das Tischtuch zwischen organisierten Humanisten und Sozialisten zerschnitten.[38]
Fußnoten
- Der Text verwendet Material aus Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenker und Kultur in Deutschland (1997). 2. Aufl. Marburg 2012. – Die Haltung der ethischen Kulturgesellschaft zur „sozialen Frage“ ist in einem anderen Band bereits publiziert, so dass diese Teile hier gestrichen wurden. Vgl. Horst Groschopp: Moderner Humanismus und die soziale Frage. In: Armut. Aspekte sozialer und ökonomischer Unterprivilegierung. Hrsg. von Michael Bauer / Alexander Endreß. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2008, S. 94–108 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Bayern, Band 3). ↑
- Vgl. W.C.: Kongreß des ethischen Bundes in Zürich. In: Akademische Rundschau, Leipzig 1896, 1. Jg., H. 14, S .231. ↑
- Vgl. Wilhelm Foerster: Zur Ethik des Nationalismus und der Judenfrage. Berlin 1893. – Ders.: Die Anfänge eines neuen Geistes. Berlin 1894. ↑
- Vgl. Sonja Dümpelmann: Suchet und ihr werdet noch anderes finden. Die Forschung entdeckt Neues im Leben des Gärtners und Schriftstellers Karl Foerster. In: Tagesspiegel, Berlin, 16. August 2001, S.23. ↑
- Im Heft 37 der Ethischen Kultur vom 14. September 1895. ↑
- Vgl. Wissenschaft als Beruf, 1917/19; Politik als Beruf, 1919. Hrsg. von Wolfgang J. Mommsen / Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgit Morgenbrod. Tübingen 1992, S.28 f., 60 f., 115 (Max Weber Gesamtausgabe, I/17). ↑
- Wilhelm Börner: Weltliche Seelsorge. Grundlegende und kritische Betrachtungen. Leipzig 1912, S. 56. ↑
- Georg von Gizycki: Vorlesungen über soziale Ethik. Aus seinem Nachlaß. Hrsg. von Lily von Gizycki, 2.Aufl., Berlin 1895, S. 31 f. ↑
- Felix Adler: Rede, gehalten in einer Versammlung im Victoria-Lyceum zu Berlin am 7. Mai 1892. In: Die ethische Bewegung in Deutschland. Vorbereitende Mitteilungen eines Kreises gleichgesinnter Männer und Frauen zu Berlin. 2., verm. Aufl. (Sommer 1892). Berlin 1892, S.20, 18, 15. ↑
- Vgl. Wilhelm Foerster: Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen. Berlin 1911, S.225–228. – Ein Garten der Erinnerung. Sieben Kapitel von und über Karl Foerster. Hrsg. von Eva Foerster / Gerhard Rostin, 3. Aufl., Berlin 1992, S.50 f. ↑
- Handbuch der freigeistigen Bewegung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Jahrbuch des Weimarer Kartells 1914. Hrsg. im Auftrag des Weimarer Kartells von Max Henning. Mit einer Übersichtskarte. Frankfurt a. M. 1914, S. 35. ↑
- Ferdinand Tönnies: Ethische Cultur und ihr Geleite. I: Nietzsche-Narren, II: Wölfe in Fuchspelzen. Berlin 1893, S. 17. ↑
- Ferdinand Tönnies: Die ethische Bewegung. In: Die Umschau. Übersicht über die Fortschritte … Frankfurt a. M. 1899. 3. Jg., H. 43, S. 843. ↑
- Rudolph Penzig: Ohne Kirche. Eine Lebensführung auf eigenem Wege. Mit einem Geleitwort von Wilhelm Bölsche. Jena 1907. – Vgl. Alfred Paris: Das Glaubensbekenntnis des Humanisten. Ein Evangelium unseres Zeitgeistes. Berlin 1893. – Bis Ende der zwanziger Jahre gehörte zu Penzigs „Amtsführung … außer den 14täglichen Predigten auch die Vornahme der sogenannten Kultushandlungen (Namensfest statt Taufe, Jugendlehre mit nachfolgender Jugendweihe [Konfirmation], Trauung und Begräbnis bzw. Einäscherung“. Vgl. Rudolph Penzig: Apostata. Licht- und Schattenbilder aus meinem Leben. Berlin 1930, S.90., S. 93 f. – Vgl. Ders.: Laien-Predigten von neuem Menschenthum. Sonntagsvorträge, gehalten in der humanistischen Gemeinde zu Berlin. Berlin-Schlachtensee 1906–1912, 10 Hefte: 1. Sorgen und Hoffnungen beim Jahreswechsel. 2. Das Recht auf Muße. 3. Das Evangelium des Kindes. 4. Vom Hoffen und Harren. 5. Die ethische Menschengemeinde. 6. Was will die humanistische Gemeinde? 7. Lebendige Gedanken eines Toten (M. v. Egidy). 8. Natürliche Erlösungsreligion. 9. Freies Christentum und religiöser Fortschritt. 10. Das kommende Heil der Menschheit (Zur Feier des 25jährigen Bestehens der Humanistischen Gemeinde in Berlin am 16. September 1912). – Weitere Themen sind Penzig: Ohne Kirche, S .239 f. zu entnehmen: Die Predigt Zarathustras. Urväterglaube und Urväterweisheit. Vom Chaos zum Kosmos. Zur Ethik der Arbeit. Aus Rückerts Weisheit des Brahmanen. Heiligt der Zweck die Mittel? Das Vaterunser. Kindererziehung gleich Selbsterziehung. ↑
- Börner: Weltliche Seelsorge, S.50. ↑
- Felix Adler: Der Moral-Unterricht der Kinder. Berlin 1894. ↑
- Angelegenheiten der Gesellschaft. Preisausschreiben. In: Mitteilungen der deutschen Gesellschaft für ethische Kultur. Hrsg. von Georg von Gizycki, Berlin 1894, 2. Jg., H. 1, S. 12 f., 43. ↑
- Rudolph Penzig: Die ethische Bewegung in Deutschland. Eine Festgabe der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur zum fünfzigjährigen Jubiläum der amerikanischen Muttergesellschaft. Berlin 1926, S. 7 f. ↑
- Berlin 1904. ↑
- Berlin 1909. ↑
- Friedrich Wilhelm Foerster: Jugendlehre. Ein Buch für Eltern und Geistliche. Berlin 1904, S.666. ↑
- Vgl. Friedrich Wilhelm Foerster: Schule und Charakter. Beiträge zur Pädagogik des Gehorsams und zur Reform der Schuldisziplin. 10. Aufl., Zürich 1910. ↑
- Vgl. Friedrich Wilhelm Foerster: Sexualethik und Sexualpädagogik. Eine neue Begründung aller Wahrheiten. 2. Aufl., Kempten / München 1909. ↑
- Friedrich Wilhelm Foerster: Jugendlehre, S. 666. ↑
- Vgl. Friedrich Wilhelm Foerster: Staatsbürgerliche Erziehung. Prinzipienfragen politischer Ethik und politischer Pädagogik (1910). Leipzig / Berlin 1914. ↑
- Vgl. Friedrich Wilhelm Foerster: Autorität und Freiheit. Betrachtungen zum Kulturproblem der Kirche. Kempten, München 1910. ↑
- Wilhelm Foerster in: Ethische Kultur 17(1909)12, S.94. ↑
- Leserzuschrift. In: Ethische Kultrur 17(1909)14, S.111. ↑
- Adele Schreiber: Der Bund für Mutterschutz und seine Gegner. Leipzig 1908, S .1 (Kultur und Fortschritt, 151). ↑
- Vgl. Helene Stöcker: Bund für Mutterschutz. Mit Beiträgen von Ellen Key / Lily Braun …, Berlin 1905, S. 7. ↑
- Julian Marcuse: Die sexuelle Frage und das Christentum. Ein Waffengang mit Fr. W. Foerster. Leipzig 1908, S. III, IV f., 81 f. ↑
- August Döring: Die Ziele der ethischen Bewegung in Deutschland. In: Ethische Kultur, Berlin 1910, 18. Jg., H. 1, S. 2. ↑
- Foerster: Autorität, S. 8, 48 f. ↑
- Foerster: Autorität, S. 17. ↑
- Bei späterer Ablehnung des Versailler Vertrages. – Zu diesen Vorgängen vgl. Friedrich Wilhelm Foerster: Erlebte Weltgeschichte 1869–1953. Memoiren. Nürnberg 1953. ↑
- Vgl. Franz Pöggeler: Zwischen Staatsraison und Weltfrieden. Der Kampf Friedrich Wilhelm Foersters gegen Nationalismus und Nationalsozialismus. In: 3 x Foerster, S. 143–172. ↑
- Vgl. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur. Neue Folge. Berlin 1896, 1. [4.] Jg., H. 8, S. 311 f. – August Bebel: Charles Fourier. Sein Leben und seine Theorien (1907). Leipzig 1978, S. 232. ↑
- Vgl. Mitteilungen der deutschen Gesellschaft für ethische Kultur. Berlin 1896, 4. Jg., H. 8, S. 31 f. ↑
Quelle: Horst Groschopp: Die drei berühmten Foersters und die ethische Kultur. Humanismus in Berlin um 1900. In: Humanismus und Humanisierung. Hrsg. von Horst Groschopp. Aschaffenburg 2014, S. 157–173 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg, Bd. 7). – Dass. u.d.T. Die Berliner Humanistengemeinden. Humanismus in Berlin um 1900. In: Humanismus, Reformation, Aufklärung. S. 87–101.