(geb. 6. Januar 1850 in Berlin; gest. 18. Dezember 1932 in Berlin)
Theoretiker der Arbeiterbewegung und Begründer des „Revisionismus“ durch seine Kernthese: Die Bewegung ist alles – das Endziel ist (mir) nichts. Dieser persönliche Bezug („mir“) fehlt in den meisten Kolportagen dieses Spruches, ist aber für die damals nicht nur in der Arbeiterbewegung unübliche Betonung der individuellen Sichtweise – eines Merkmals des modernen Humanismus – von großer Bedeutung.
In einem jüdischen Haushalt als Sohn eines Klempners und Lokomotivführers aufgewachsen; Gymnasium in Berlin; 1866/70 kaufmännische Lehre im Bankgeschäft; seit 1871 Mitglied der SDAP; ab 1872 Bekanntschaft mit den Lehren von Karl Marx und Ferdinand Lassalle; beeinflusst durch die Schriften des ethischen Sozialisten Eugen Dühring, des anarchistisch-freidenkerischen Johann Most und (später) des deutschen Nationalökonomen Georg von Schulze-Gävernitz. Bernstein wird 1878 literarischer Sekretär bei Karl Höchberg in Zürich.
Dort leitet er 1881/90 das zentrale Exilorgan „Sozialdemokrat“ und gibt hier und London marxistische Kurse. In dieser Zeit (mit Karl Kautsky) der bekannteste Autor des Marxismus und vielseitiger Publizist; beeindruckt von der englischen Arbeiterbewegung sowie den Schriften des; ab 1896 Aufsätze in der „Neuen Zeit“ (NZ, dem theoretischen Organ der SPD) „Probleme des Sozialismus“. Daraus formuliert er 1899 eine Zusammenfassung in seinem Hauptwerk „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“. Wegen seiner evolutionären Sozialismusvorstellungen schied er unmittelbar 1899 nach der Publikation aus dem Mitarbeiterkreis der NZ aus, die sich eher revolutionär (im damaligen Verständnis) begriff. Er wird zum wichtigsten Autor (bis 1914) der „Sozialistischen Monatshefte“. Seine Schriften in dieser Zeit zeugen von einer guten Kenntnis des damaligen deutschen wie englischen ethischen Humanismus.
1901 Rückkehr nach Deutschland und Gründung der Monatsschrift „Dokumente des Sozialismus“, die er bis 1905 herausgab. Publikationen in sozialistischen Zeitschriften Englands, Frankreichs, Hollands, Österreich und den USA. Zwischen 1907 und 1910 erscheint in 3 Bänden seine umfänglich recherchierte und glänzend geschriebene „Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung“, eine sozialwissenschaftliche Studie, die ohne Bezug auf Religion auskommt. Diesem Werk folgt 1910 die erste kulturgeschichtliche Betrachtung der „Arbeiterbewegung“ (Frankfurt a.M. 1910) und die (gemeinsam mit August Bebel) die Herausgabe des Briefwechsels 1844–1883 von Marx und Engels (Stuttgart 1913), außerdem Lassalles „Intime Briefe an Eltern und Schwester“ (Berlin 1905) sowie dessen „Gesammelte Werke“ (12 Bde, Berlin 1919–20).
Ab 1006 lehrte Bernstein an der Gewerkschaftsschule in Berlin; stimmte 1914 für, 1915 gegen die Kriegskredite (ohne sich jedoch wie die Linken Karl Liebknecht und Otto Rühle von der SPD-Führung zu distanzieren). 1917/19 Mitglied der USPD, seit 1919 wieder der SPD. Er setzte sich während der Novemberrevolution für eine Nationalversammlung ein; wird 1920/21 Mitverfasser des „Görlitzer Programms“ der SPD; wird stark gelobt wie von ganz links außen angefeindet wegen seiner Angriffe auf den Leninismus und die von ihm so genannte bolschewistische Abart des Sozialismus; MdR bis 1928.
Die Diskussion über das Endziel der Bewegung ist auch für den organisierten Humanisten bis heute wichtig. Seine Bernsteins These war der Versuch, den geschichtlichen Standort und die Dauer der Emanzipation einer sozialen Klasse kulturell zu bestimmen, was zu seiner Zeit nur wenige verstehen konnten. Sie wurde lediglich als Korrektur der zeitgenössischen Auffassung vom Sozialismus gesehen (etwa Marx’ „Kritik des Gothaer Programms“, in: MEW Bd. 19). Bernstein waren dies utopische Ziele in der Arbeiterbewegung, die er als „Klassenromantik“ (in: „Der Strom“, 1912, H.7, Ndr. in: Textausgaben, Bd. 27). Sich abhebend vom freidenkerisch-freireligiösen Berliner Sozialisten Bruno Wille fasste er darunter auch Konzepte, die auf eine eigene proletarische Kunst orientierten. Stärke und Aufgaben der Arbeiter lägen auf anderen Feldern und Gebieten. Mit Einschränkungen bezüglich der Architektur sah Bernstein mit dem Proletariat keine neue Ära der Kunst emporsteigen und in ihm kein besonderes Kunstverständnis reifen.
Bernstein teilte damit in der Arbeiterbewegung damals fest verwurzelte Ansichten über Kunst und Proletariat. Er war vor allem der Meinung, dass die progressive ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung des Kapitalismus noch lange fortdauere und der Konzentrationsprozess des Kapitals und die Vergesellschaftung der Arbeit sich erst am Anfang befänden. Die von Marx und Engels vorausgesagte angeblich schnelle Proletarisierung und damit Verelendung der arbeitenden Bevölkerung wäre ausgeblieben, dieser Prozess sei sogar rückläufig. Dies erfordere neue Überlegungen.
Daraus folgerte er, dass das Proletariat nicht revolutionärer werde, sondern verbürgerliche als Folge der Aufwärtsbewegung der Lohnarbeiter. Die Arbeiteraristokratie erhebe sich als erste Schicht des Proletariats in den Mittelstand und die Zwischenschichten (Gewerbe, Handel, Verwaltung) wüchsen wegen der Stabilität der Kleinbetriebe, der zunehmenden Arbeitsteilung und des nur allmählichen Vormarschs der Trusts und Kartelle. Sie würden also nicht „vernichtet“, wie K. Kautsky und W. Liebknecht prophezeit hätten.
Für eine moderne Humanismus-Theorie interessant sind auch Bernsteins Thesen über Sozialismus als eine Sache des Willens und nicht allein der ökonomischen und sozialen (gesetzmäßigen) Entwicklung. Unter Berufung auf Marx’ Theorien über den Mehrwert war für Bernstein die ständige Reproduktion der proletarischen Klassenbefindlichkeit keineswegs ökonomisch beweisbar und demzufolge auch nicht durch grundlegende sozialökonomische Wandlungen veränderbar. Unter Kontinuität des Lohnarbeiterstatus sei die kulturelle Grundsituation der Arbeiter durch jede Reform, und zwar immer ein Stück näher in den Sozialismus hinein, verbesserbar.
Das von Bernstein aus diesen Annahmen abgeleitete politische Programm richtete sich an die Arbeiter als Gewerkschafter. Genossenschafter. Wähler und als kommunal interessierte Bürger. Bernstein sprach sich gegen jede gewaltsame proletarische Revolution aus (Vorwurf des Blanquismus).
Kulturpolitisch vertrat Bernstein kein ausgeformtes Programm, sondern bewegte sich innerhalb des reformerischen Konzepts kultureller „Veredelung“ der Arbeiter, das die zeitgenössische Bildungs- und Kunstpolitik in der deutschen Arbeiterbewegung prägte. Es erstrebte den bedürfnisreichen, aufgeklärten und mitbestimmenden Proletarier ohne grundsätzliche Änderung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, allerdings unter Einführung demokratisch verfasster Zustände.