Humanismus und organisierte Barmherzigkeit
Vorwort
Der organisierte Humanismus in Deutschland entdeckt die soziale Frage. Er beschäftigt nicht mehr nur mit Problemen der Evolutionstheorie, Religionskritik, Sterbehilfe und Ethikunterricht, der Trennung von Staat und Kirche und den Rechten von Konfessionsfreien. Prekärer werdende Lebensbedingungen vieler Menschen und eine zunehmende eigene soziale Praxis zwingen ihn, sich dem neuen Thema zuzuwenden und Humanismus weiter zu fassen als bislang. Es geht letztlich um einen „sozialen Humanismus“. Deshalb bewegen heute Humanistinnen und Humanisten stärker als zuvor zwei soziale Ideen: die unbedingte „Gleichheit“ aller Menschen und die „Barmherzigkeit“ allen Menschen gegenüber.
Der Religionswissenschaftler Hubert Cancik hat den historischen Gebrauch des Wortes „humanitas“ in der römischen Antike untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das Wort, neben der vorwiegend tradierten Interpretation als Bildung und Beschäftigung mit den weltlichen Sprachen, vor allem drei Bedeutungen besaß. Sie ermöglichen es heute, Humanismus nicht nur als Bildungs- und Weltanschauungsphänomen zu begreifen, sondern auch sozial zu fassen – „humanitas“ meinte nämlich auch Barmherzigkeit und Milde und setzte diese in Beziehung zur Menschenwürde und zur Menschenfreundlichkeit.
Nachdem die Humanistische Akademie Bayern in ihrer Schriftenreihe im Alibri Verlag ihre Tagung vom März 2007 dokumentiert hat in dem von Michael Bauer und Alexander Endreß herausgegebenen Buch Armut – Aspekte sozialer und ökonomischer Unterprivilegierung, veröffentlicht nun dieser Band eine ähnlich thematisierte gemeinsame Veranstaltung der Humanistischen Akademie Deutschland und der Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 02. Februar 2008 in Berlin unter dem Titel Wertedebatte, Neue Armut und soziale Gerechtigkeit. Überlegungen zu einem Humanistischen Sozialwort“. Letzteres dient nun dem vorliegenden Band als Kurztitel: Humanistisches Sozialwort.
Die Tagung war zweifellos ein Schritt hin zu Kriterien für ein „Humanistisches Sozialwort“, das in der Zukunft das Sozialwort der beiden christlichen Kirchen zumindest ergänzt, aber sicher in einigen Aussagen auch kritisieren bzw. andere Aussagen treffen wird. Aber dahin ist noch einiger Weg zu gehen.
Um die nichtreligiösen Voraussetzungen eines Humanistischen Sozialworts überhaupt formulieren zu können, diskutierten die Teilnehmer der Tagung Menschenbilder. Diese sind Aussagen über Ursprung, Sinn, Zweck, Zukunft und Beschaffenheit des Menschen und über die Gesellschaft, in der Menschen leben. Sie äußern sich nicht allein in sinnlich wahrnehmbaren Bildern, wie häufig vereinfachend angenommen wird, sondern vorwiegend in Theorien, Meinungen, Programmen – und in sozialen Handlungen und politischen Entscheidungen. In diesen Kontexten spiegeln sich weltanschauliche und religiöse Positionen auf oft verdeckte Weise.
Humanistische – bewusst von Menschen ausgehende und auf sie sich direkt beziehende – Menschenbilder sind heute in säkularen Gesellschaften weiter verbreitet als kirchlich intendierte Analysen glauben machen. Sie sind aber oft nicht als solche kenntlich, schon wegen des Mangels akademischer Institutionen, die sich ihrer annehmen. Oftmals setzen sie selbst falsche Zeichen, als seien sie in erster Linie gewonnen aus Abgrenzungen zu religiösen Menschenbildern, die – besonders die christlichen – zweifellos und wesentlich die „abendländische“ Kultur ebenfalls prägen.
Die oft aus freidenkerisch-kirchenkämpferischer Vergangenheit ererbten Annahmen eines freidenkerischen bzw. atheistischen Humanismus verdecken dessen vielfältige Quellen und seinen wahren politischen Kern: Weil der Mensch für den Menschen das höchste Wesen ist, sind durch ihn selbst „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtetes Wesen ist“. (Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, 1844) Zwar ist dieser „kategorische Imperativ“ säkular, aber nicht jeder Blick und jede Antwort auf solche Verhältnisse ist dies notwendig ebenfalls (erkenntnistheoretisch sicher, aber nicht unbedingt politisch). Denn auf Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit gerichtetes Handeln kann auch religiös begründet sein.
Es sind die aktuellen und ideologisch stark aufgeladenen Diskurse der sozialen Gegenwart, die Fragen nach den Menschenbildern aufwerfen. Sie sind Teil eines politisch-strategischen Zusammenhangs, der in der Öffentlichkeit ungenügend als solcher verstanden wird.
Als ein Beispiel dafür ist hier die Werte-Debatte zu nennen, die auch als Debatte über Tugenden geführt wird und sich zum einen auf Folgen für das Jugendstrafrecht zuspitzt, ganz in der konservativen Tradition: Wegsperren, was die Folgen sind, aber die Ursache so belassen, die zu diesen Folgen geführt haben; zum anderen aber „Sozialschmarotzern“ den Kampf ansagt, die angeblich die Sozialsysteme ausnutzen. Leute, die nie unter 25,00 € speisen, rechnen anderen vor, dass man mit 2,50 € am Tag gut auskommen kann.
Ideologische Schaugefechte in der Sozialpolitik verdecken – bewusst aus politischem Kalkül oder der Sensationen wegen –, dass die Sozialpolitik die Umsetzung von Menschenbildern in Gesetze ist, deren Anwendung, und deren haushaltspolitische Konsequenzen und das daraus bedingte bürokratische wie verwalterische Handeln funktionoren, auch ohne dass die Handelnden darüber groß nachdenken (müssen), was sie da tun. Welche Menschenbilder bewegen die Akteure und sagen wem, wie sie leben oder leben sollen? Welche Bilder von Menschen kommen in den Werte-Debatten um „Neue Armut und soziale Gerechtigkeit“ zum Ausdruck?
Der vorliegende Band dokumentiert den Verlauf der Tagung nicht in der erfolgten mündlichen Reihenfolge. Auch wurden die Beiträge mehr oder minder überarbeitet. Auch lagen den Tagungsteilnehmern drei Texte vor, von denen nur einer hier in den Band aufgenommen wurde (Dr. Lutz Brangsch, Sozialwissenschaftler, Berlin), einer (Prof. Dr. Frieder Otto Wolf, Philosoph, Berlin) in seinen Aufsatz in diesem Band eingegangen ist, der wiederum dem Referat auf der Konferenz folgt, und ein dritter (Dr. Horst Groschopp, Kulturwissenschaftler, Berlin) findet sich im oben erwähnten Band Armut.
Brangsch vertritt die These, dass der „Akzeptanzverlust einer Politik brutalen Sozialabbaus“ derzeit eine große Rolle spielt, weil einerseits versucht werde, „tradierten Wertevorstellungen (wieder) gerecht zu werden, gleichzeitig aber auch, eigene Wertvorstellungen in der Gesellschaft zu verankern. Vor dem Hintergrund der relativ guten Konjunktur könnte eine Situation entstehen, in der der Wertewandel in der Gesellschaft, der sich gerade im Verhältnis zu Armut, Gerechtigkeit und Solidarität darstellt, aus der Aufmerksamkeit gerät.“ Es geht ihm sozusagen um die ständige Erinnerung (und Maßnahmen dazu) das Thema Armut und soziale Gerechtigkeit und mit ihm diejenigen, die davon betroffen sind, nicht abzukoppeln.
Wolf unternimmt den ganz praktischen Versuch, Überlegungen zu Leitlinien einer humanistischen sozialen Praxis und Politik des Humanistischen Verbandes anzubieten. „Weltweit, auch in Deutschland hat die Armut in den letzten Jahrzehnten zugenommen – während gleichzeitig einige Reiche immer reicher wurden. Es ist ein Skandal, zu dem wir Stellung nehmen müssen – oder zugeben, dass wir zu zentralen Fragen unserer Zeit einfach nichts zu sagen haben. Die Formulierung eines Humanistischen Sozialwortes könnte ein Anfang sein.“
Wolf hebt hervor, der moderner Humanismus habe seinen spezifischen Beitrag aus seinen eigenen Werten abzuleiten wie Selbstbestimmung, Selbstorganisation, Toleranz in Verbindung mit der Ablehnung jeglicher sozialer und kultureller Ausgrenzung sowie rein offenbarungsbestimmtem, statischem Moralisieren.
Wer sich an Kriterien zu einem Humanistischen Sozialwort wagt, muss letztlich auch historisch und kulturwissenschaftlich argumentieren, um herauszufinden, ob nicht auf die Neue Armut mit alten Menschenbildern reagiert wird und wie die kulturellen Werturteile zu qualifizieren sind, die über Prekarität, Unterschicht und Ausgrenzung getroffen werden.
Prof. Dr. Dieter Kramer (Ethnologe, Wien), der maßgeblich an der Kultur-Enquete des Deutschen Bundestages mitgearbeitet hat, breitet in seinem Beitrag einige Thesen seiner Studie über Ausschließung von Kultur durch Armut aus.
Er geht von einer Situation aus, in der das Ende der Hegemonie des Neoliberalismus einer Linken gegenübersteht, die relativ konzeptionslos ist. Begriffe wie Reform, Gerechtigkeit, Arbeit, Armut etc. seien neu zu besetzen. Die sozialen Systeme sind in das kulturelle und nicht in das wirtschaftliche Wertesystem einzubetten. In der Vormoderne seien Armut und Reichtum kulturell definiert gewesen und hätten mit den Bettlern, Mönchen u.a. Gruppen sozial anerkannte Stände und deren Versorgungen hervorgebracht. Man müsse sehen, welche Formen es heute gibt.
Prof. Dr. Dietrich Mühlberg (Kulturwissenschaftler, Berlin) hat zur historischen Arbeiterkultur geforscht und schreibt aus diesen Stoffen heraus zum Thema. Er skizziert die historische Wurzel des Maßes der Gleichheit und die geschichtliche Entwicklung der Forderung nach Gleichberechtigung. Soziale Grundrechte seien eng mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung verbunden gewesen. Als man begann, Arbeit als gesellschaftliche Kategorie zu verstehen, sei die Arbeitskraft parallel dazu zur Ware geworden und die Klasse der Lohnarbeiter „zur ersten arbeitenden Klasse, die zu neidvollem Vergleichen fähig war“. Er spitzt dies zu einer These zu: „Sozialneid“ müsse seitdem als Tugend in Richtung Anspruch auf Güter und Ende von Privilegien gesehen werden.
Aus Erfahrungen im Umgang mit Armut und praktischen Hinweisen an „Sozialworte“ berichtet Andrea Käthner (Abteilungsleiterin Gesundheit und Soziales des Humanistischen Verbandes, Berlin). Sie skizziert einige der praktischen Tätigkeitsfelder des in Berlin und die dabei gemachten Erfahrungen mit den Erscheinungen der zunehmenden Armut. Der HVD werde nicht – wie die Kirchen – in die Wohltätigkeit abdriften, sondern realistische sozialpolitische Lösungen für die wirklichen Ursachen der Armut anbieten. Sie stellt deshalb eine Liste „kleiner“ Forderungen auf, die unmittelbar „große“ Wirkung zeigen könnten.
Dr. Viola Schubert-Lehnhart (Sozialwissenschaftlerin, Halle/Sa.) gab der Debatte die nötige genderspezifische Vertiefung. Sie behandelt die Problematik der humanistischen Werte im Bereich der Gesundheitspolitik. Sie verweist auf die eindeutigen Zusammenhänge zwischen Armut und Gesundheit sowie die manipulierenden religiösen Interpretationen der Krankheitsursachen. Gesundheit sei keine Ware, sondern ein Menschenrecht, und jegliche kommerzielle Privatisierung sei in diesem Bereich abzulehnen. Gesundheit und soziale Lage wären gesellschaftlich zu bestimmen und somit eine Aufgabe aller Politikbereiche.
Abgeschlossen wurde die Tagung mit einem Diskurs über Humanismus und politische Gesellschaftsmodelle – und zwar zunächst mit einem kritischen Rekurs auf Staats- wie Alternativmodelle durch Christian Brütt (Soziologe, Berlin). Er präsentiert Ergebnisse der aktuellen soziologischen Forschung zum Problem des Kampfes gegen Armut und Ausgrenzung. Er entwirft eine Reihe von Verhaltensmodellen, die es den Betroffen ermöglichen, „Nein“ zu sagen. Wichtig sei die Autonomie des Subjektes im Kampf gegen die Abhängigkeitsmodelle der neoliberalen Sozialstrukturen. Wie und wo dies konkret zu geschehen habe, wäre eine Denkaufgabe des Humanismus.
Prof. Dr. Christa Luft (Wirtschaftswissenschaftlerin, Berlin) entwickelt ein beeindruckendes Bild der heutigen sozialen Ungerechtigkeit und skizzierte die Herausforderungen der Linken. Aus dem in der Diskussion befindlichen Programm der Partei „Die Linke“ erläutert sie eine Reihe erster praktikabler Lösungsvorschläge.
Dieser Band eröffnet eine neue Schriftenreihe. In Abstimmung mit den andren humanistischen Akademien stellt die Berliner Humanistische Akademie die Herausgabe von humanismus aktuell (1997ff) in der jetzigen Form Ende 2008 mit Erscheinen von Heft 23 ein (mit den beiden Sondernummern sind dann 25 Hefte produziert worden) und eröffnet zugleich die Fortführung dieser 1997 begonnenen Publikationen in Form der Schriftenreihe im alibri Verlag ab dem vorliegenden Buch. Die Humanistische Akademie Deutschland wird ebenfalls eine Schriftenreihe installieren, die 2009 einsetzt mit der Dokumentation der Tagung vom November 2008 Was ist heute Humanismus? Es ist erfreulich, dass die meisten Abonnenten von humanismus aktuell jetzt die neue Schriftenreihe beziehen.