Humanismus – ein kulturelles System

 

Vorwort

Huma­nis­mus kann als ein kul­tu­rel­les Sys­tem bestimmt wer­den.[1] Die­se Mög­lich­keit, ihn so zu erfas­sen, ist neue­ren Datums. Sie hängt zusam­men mit bedeu­ten­den Ände­run­gen im Kul­tur­ver­ständ­nis. Dies weni­ger durch den Ein­fluss der Sys­tem­theo­rie von Niklas Luh­mann, in des­sen Fol­ge man „Abschied neh­men kann von ‘alt­hu­ma­nis­ti­schen’ Vor­ur­tei­len“ und „Anschluss fin­den kann an kur­ren­te Wis­sens­be­stän­de avan­cier­ter Voka­bu­la­ri­en der Kyber­ne­tik, der Meta­bio­lo­gie“.[2] So fand Jörn Rüsen in der Sys­tem­theo­rie Luh­manns die Mög­lich­keit, sowohl die „Ver­zeit­li­chung der mensch­li­chen Lebens­ord­nung“ abzu­bil­den als auch die „kul­tur­über­grei­fen­den kon­flikt­rei­chen Ver­än­de­run­gen“.[3]

Die Wand­lun­gen im Kult­ver­ständ­nis betref­fen, dar­über gründ­lich hin­aus­rei­chend, beson­ders die deut­sche nahe­zu aus­schließ­li­che Fokus­sie­rung auf Geis­tes­bil­dung und „höhe­re“ Küns­te.[4] Die­ses „Deu­tungs­mus­ter“ unter­schied Kul­tur von Zivi­li­sa­ti­on, unter ande­rem mit der Fol­ge, Wert­ur­tei­le von den schnö­den Lebens­zu­sam­men­hän­gen zu tren­nen, in denen sie funk­tio­nie­ren. Noch heu­te spricht man dort, wo der cul­tu­ral turn kon­zep­tio­nell noch nicht ange­kom­men ist,[5] von „Wer­ten“, als ob die­se für sich durch die Geschich­te wan­dern, als ob sie nicht von den Bezie­hun­gen abhän­gen wür­den, in denen han­delnd den­ken­de Sub­jek­te wir­ken, die Objek­te beur­tei­len. „Wer­te“ gibt es nur in Form von raum­zeit­lich gepräg­ten, ver­än­der­ba­ren „Wer­tun­gen“.

Die in Deutsch­land tra­dier­te Eng­füh­rung von Kul­tur hat auch den Huma­nis­mus und das his­to­risch gewach­se­ne Bild davon bestimmt. Der Huma­nis­mus, wie er etwa Ende des 19. Jahr­hun­derts die deut­sche Kul­tur bis hin zur Beam­ten­prü­fung aus­zeich­ne­te, hat­te sich vom Leben gelöst und zwar bis dahin, dass die Füh­ren­den in den SS-Mör­der­ban­den wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus „huma­nis­tisch“ gebil­det waren.[6]

Die Geschich­te die­ser Ver­ges­sen­heit, dass es kei­nen Huma­nis­mus ohne Huma­ni­tät gibt, war selbst „sys­tem­ab­hän­gig“. Die Bin­dung von Huma­nis­mus an die Huma­ni­tät war nicht ein­fach dem gesell­schaft­li­chen Gedächt­nis „ent­fal­len“, son­dern Fol­ge einer zeit­be­ding­ten und wohl gera­de des­halb ein­sei­ti­gen Erbe-Aneig­nung gera­de auch der­je­ni­gen, die den Neu­hu­ma­nis­mus begrün­det hat­ten. Sie sahen Huma­nis­mus nicht so eng, wie im vor­lie­gen­den Band sehr deut­lich wird, durch­aus umfas­sen­der, und sie erkann­ten in merk­li­chen Ansät­zen, dass zum Huma­nis­mus, außer der Bil­dung (die als eine des „gan­zen Men­schen“ zu ver­ste­hen sei), unmit­tel­bar die Men­schen­wür­de und die Barm­her­zig­keit gehören.

Schon der latei­ni­sche Begriff huma­ni­tas, von dem Huma­nis­mus seit der Anti­ke (ab etwa 1800 in Deutsch­land begriff­lich trans­por­tiert) her­kommt, leg­te die Drei­heit nahe. Das führ­te zwar dazu, Huma­nis­mus als ein kul­tu­rel­les Sys­tem zu sehen, doch dau­er­te es noch hun­dert Jah­re bis zur Aus­bil­dung indus­trie­kul­tu­rel­ler Zustän­de, in das Sys­tem huma­nis­ti­schen Den­kens auch das Sozia­le zu implan­tie­ren, wenn auch bis heu­te nur zag­haft.[7]

Zu den hin­dern­den Umstän­den, Huma­nis­mus als ein umfas­sen­des Kul­tur­sys­tem zu sehen, gehör­te auch, dass sich die deut­schen Kul­tur­de­bat­ten das gesam­te 19. Jahr­hun­dert hin­durch in einer „Zwick­müh­le“ befan­den. Sie waren ein­ge­zwängt zwi­schen dem vor­herr­schen­den, mit Staat eng ver­bun­de­nen Sys­tem der (christ­li­chen) Religion(en) und dem mit dem Kapi­ta­lis­mus sich ent­wi­ckeln­dem Sys­tem der engen Ver­flech­tung von Wirt­schaft und Wis­sen­schaft.[8] In einer Lage der Aus­ge­schlos­sen­heit von Kul­tur sich befin­dend und die Benach­tei­li­gung emp­fin­dend, bau­te der anspruchs­vol­le­re Teil der deut­schen Arbei­ter­klas­se mit dem Sozia­lis­mus an einem eige­nen gesell­schaft­li­chen Sys­tem für die Zukunft und an einer Arbei­ter- und Arbei­ter­be­we­gungs­kul­tur für die Gegen­wart. Da der dama­li­ge Huma­nis­mus mit den Herr­schen­den eng ver­floch­ten war, blieb nur die Distanz dazu.

Huma­nis­mus als ein über­grei­fen­des Sys­tem zu sehen, konn­te unter die­sen Umstän­den der Klas­sen­tei­lung und der Über­heb­lich­keit der Eli­ten gar nicht gedacht wer­den. In einer Gesell­schaft, in der in den Ober­schich­ten bis ins 20. Jahr­hun­dert hin­ein Kul­tur­vor­stel­lun­gen mit gera­de­zu anti­hu­ma­nis­ti­schen Zuspit­zun­gen öffent­lich prä­sent waren, so exem­pla­risch Hein­rich von Treit­sch­ke, der eine neue Skla­ve­rei als Geburts­hel­fe­rin und Ret­te­rin von Kul­tur erwar­te­te: „Kei­ne Kul­tur ohne Dienst­bo­ten“,[9] konn­te Kul­tur nur „sys­tem­nah“, aber nicht als (gesell­schaft­li­ches) „Sys­tem“ ver­stan­den werden.

Es man­gel­te auch an Sub­jek­ten, die Huma­nis­mus über­haupt als ein rela­tiv selb­stän­di­ges und zugleich „all­ge­mein­mensch­li­ches“ Sys­tem erken­nen woll­ten. Was die „Alten“ dazu bereit­stell­ten, blieb im Dun­keln. Nun ist es zwar auch heu­te nicht so, dass die Spring­quel­len des Huma­nis­mus reich­lich flie­ßen und sei­nen Reich­tum über die gan­ze Welt, wenigs­tens die hie­si­ge Gesell­schaft, aus­gie­ßen. Auch ist sehr unge­wiss, ob mäch­ti­ge gesell­schaft­li­che Kräf­te ihn auf­grei­fen und als Kul­tur eta­blie­ren. Dage­gen spricht die Renais­sance fun­da­men­ta­lis­ti­scher Strö­mun­gen, die auf Geschlos­sen­heit und Herr­schafts­er­obe­rung ihrer – reli­gi­ös, eth­nisch und / oder natio­na­lis­tisch argu­men­tie­ren­den – Sys­te­me drän­gen und den Anti­hu­ma­nis­mus pflegen.

Aber sicher ist auch das Gegen­teil nicht, die pes­si­mis­ti­sche Geschichts­va­ri­an­te, dass Huma­nis­mus „ver­ges­sen“ wird. Gegen sei­nen Unter­gang erhe­ben sich immer wie­der star­ke Stim­men, die auf Indi­vi­dua­li­tät pochen und Offen­heit wol­len, sogar inner­halb von auf stren­ge „Ein­heit“ zie­len­den Bewe­gun­gen. Auch wenn die­se Grup­pen in der Regel nie etwas von Huma­nis­mus gehört haben, plä­die­ren sie huma­nis­tisch, wenn sie Barm­her­zig­keit, Men­schen­wür­de und Bil­dung einfordern.

Huma­nis­mus ist sowie­so kei­ne Bewe­gung, die auf dem Ein­trag des Namens beharrt. Aber es ist nütz­lich, die Genea­lo­gie huma­nis­ti­scher Ideen und Idea­le zu erfor­schen und prä­sent zu hal­ten – und sei es als Vor­rat, so wie vie­les, was im vor­lie­gen­den Band erst­mals erzählt wird. Das ist der Vor­zug die­ses Ban­des: Wir erfah­ren Wich­ti­ges zu den ursprüng­li­chen Zusam­men­hän­gen, die Huma­nis­mus her­vor­brach­ten. Die Sta­pel des bis­her Unbe­kann­ten wer­den etwas abge­ar­bei­tet, weil die Maga­zi­ne des Huma­nis­mus, soll­te er im Ori­gi­nal gebraucht wer­den, mit lebens­hel­fen­dem Pro­vi­ant zu bestü­cken sind.

Die Bei­trä­ge in die­sem Band sind kul­tur­wis­sen­schaft­li­cher Art. Das macht Hubert Can­cik in sei­nem ers­ten Text in die­sem Band gleich deut­lich. Er führt in den Gebrauch des Wor­tes „Huma­nis­mus“ ein und erklärt, „dass die­ser ‘Ismus’ ein mehr­di­men­sio­na­ler kul­tu­rel­ler Kom­plex mit erheb­li­cher geschicht­li­cher Tie­fe“ sei, der mit einer Begriffs­ge­schich­te nicht erfasst wer­den kön­ne. So wich­tig wie die in Begrif­fen „geron­ne­nen Erfah­run­gen, Erkennt­nis­se, Wer­tun­gen sind, wie etwa Indi­vi­dua­li­tät, Kul­tu­ra­li­tät, Geschicht­lich­keit, Per­fek­ti­bi­li­tät“, im „Unter­schied zu phi­lo­so­phi­schen Sys­te­men ist die huma­nis­ti­sche Bewe­gung auch ‘defi­niert’ durch his­to­ri­sche Per­so­nen, die zu Para­dig­men for­miert wer­den; durch Geschich­ten, Mythen, Lite­ra­tur- und Kunst­wer­ke, die als Kanon fun­gie­ren, als ver­bind­li­che Tex­te, deren Kennt­nis und Zita­ti­on erwar­tet wer­den kann; durch Orte und Unor­te, die zu Sym­bo­len von Huma­ni­tät und Inhu­ma­ni­tät ver­dich­tet wer­den.“[10]

Beson­ders der Begriff „Kanon“ mag über­ra­schen, klingt doch hier – Richt­schnur, Regel, Ket­ten­ge­sang, Linie – das Gegen­teil von einem „offe­nen Sys­tem“ an. Die Wort­ver­wandt­schaft mit „kano­nisch“ – kir­chen­recht­lich, mus­ter­gül­tig, maß­ge­bend – ist gewollt, pro­vo­ziert bewusst beson­ders die­je­ni­gen Akteu­re im Huma­nis­mus, die jede Sys­tem­bil­dung für schäd­lich hal­ten. Die­se Per­so­nen über­se­hen, dass Reli­gio­nen eben­falls Kul­tu­ren sind und Huma­nis­mus, wenn er sich als Kul­tur wei­ter aus­prä­gen will und kla­rer erkenn­bar sein möch­te, muss sich ver­ste­ti­gen, institutionalisieren.

Dies kön­nen die­je­ni­gen, die das möch­ten, nicht allein durch mehr Nach­den­ken errei­chen, so nötig dies ist. Wenn schon geis­ti­ge Arbeit, dann Stu­di­en dar­über, wie „nor­mal“ Huma­nis­mus heu­te ist bzw. wer­den soll, denn Kul­tur ist die „Sum­me der Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten in einem Gesell­schafts­sys­tem“.[11] Ist Huma­nis­mus selbst­ver­ständ­lich in unse­rer Gesell­schaft, gar auf der Welt? Wohl nicht, obwohl Huma­ni­sie­run­gen statt­fin­den.[12]

Eine Kul­tur zu wer­den, einen (neu­en) Kanon zu schaf­fen, dann zu haben, unver­wech­sel­bar und „all­täg­lich“, das ver­langt einen Kul­tur­wan­del. Kul­tur­bil­dun­gen sind immer Trans­for­ma­tio­nen, ver­bun­den mit Wider­sprü­chen, die von den Men­schen zu „lösen“ sind, ändern sich doch ihre Inter­ak­ti­ons­mus­ter. Men­schen erfah­ren näm­lich ihre Kul­tur als „Mythen, Inter­ak­ti­ons­ri­tua­le, vage Wert­vor­stel­lun­gen, Leer­for­meln, Atti­tü­den und Pres­ti­ge­ver­mu­tun­gen“. Kul­tu­ren sind Sys­te­me „kol­lek­ti­ver Sinn­kon­struk­tio­nen, mit denen Men­schen die Wirk­lich­keit defi­nie­ren“.[13] Wenn sich Kul­tu­ren zu ändern begin­nen, erfah­ren dies die Men­schen als neue Ver­hal­tens­auf­for­de­run­gen. Das erzeugt nach Sig­mund Freud zual­ler­erst „Unbe­ha­gen“ als vor­herr­schen­de Stim­mungs­la­ge.[14]

Doch, so könn­te man anneh­men, wäre Huma­nis­mus viel­leicht eine Hoff­nung in die­ser Unzu­frie­den­heit?[15] Wie auch immer, sich ihn sich vor­zu­stel­len erfor­dert, ein kom­ple­xes Bild von ihm zu haben, ihn als Sys­tem neh­men zu kön­nen. Was aber wäre das Para­dox eines sol­chen „huma­nis­ti­schen Kanons“? Grenzt das nicht zu sehr an das, was über „Kon­fes­si­on“, das Bekennt­nis über­schrei­tend, kul­tu­rell geschah und noch aktu­ell dis­ku­tiert wird? Und was kon­sti­tu­iert und unter­schei­det Huma­nis­mus von struk­tu­rell ähn­li­chen Phä­no­me­nen, etwa Reli­gio­nen? Das sind die Fra­gen, die in die­sem Sam­mel­band gestellt werden.

Das Buch ist in zweierlei Absicht geschrieben:

Ers­tens geht es um den soeben gedank­lich ange­ris­se­nen Beleg, dass auch der Huma­nis­mus, durch die ihn tra­gen­den his­to­ri­schen Sub­jek­te aus­ge­drückt, einen inne­ren Drang besitzt, ein Gebäu­de an Ideen und Insti­tu­tio­nen zu errich­ten, um Ord­nung in sein Selbst­ver­ständ­nis und sei­ne Ein­rich­tun­gen zu bringen.

Die­se Ein­heits­bil­dung teilt er mit ande­ren geschichts­mäch­ti­gen his­to­ri­schen Bewe­gun­gen, mit denen er sich ver­bün­det oder von ihnen abgrenzt. Ohne – zumin­dest ver­such­te – Her­stel­lung eines Zusam­men­hangs der Din­ge und Prin­zi­pi­en, ohne – wie das Grimm­sche Wör­ter­buch defi­niert – „‘ein sinn­voll geglie­der­tes gan­zes, des­sen ein­zel­ne tei­le in einem zweck­mäs­zi­gen zusam­men­hang ste­hen oder unter einem höhe­ren prin­zip, einer idee, einem gesetz sich zu einer ein­heit zusam­men­ord­nen’“,[16] ohne Ver­su­che, die eige­ne Daseins­wei­se und das Her­kom­men in sei­nen tat­säch­li­chen wie uto­pi­schen Bezie­hun­gen raum­zeit­lich zu struk­tu­rie­ren und den­kend wie han­delnd zu koor­di­nie­ren – also ohne Sys­tem … sind Kul­tu­ren unmög­lich, auch humanistische.

Doch alle Kul­tu­ren, sonst wären sie kei­ne, haben die Ten­denz – und „geschlos­se­ne“ Kul­tu­ren die Rea­li­tät – der Abschot­tung, der Absto­ßung alles des­sen, was das Sys­tem stört. Die „Vor­ur­teils­struk­tur ist dem Iden­ti­täts­pro­zeß eigen“.[17] Die „Sys­tem­sucht“ „stöszt frei­lich das frem­de ab, sei es auch noch so denk­bar und wahr“, so das Wör­ter­buch mit Beleg Schlei­er­ma­cher.[18] Der wei­te­re Text Schlei­er­ma­chers ergänzt das Gesag­te: „weil es die wohl­ge­schlos­se­nen Rei­hen des Eige­nen ver­der­ben, und den schö­nen Zusam­men­hang stö­ren könn­te, indem es sei­nen Platz for­der­te; in ihr ist der Sitz der Wider­sprü­che, sie muß strei­ten und ver­fol­gen; denn inso­fern das Ein­zel­ne wie­der auf etwas Ein­zel­nes und End­li­ches bezo­gen wird, kann frei­lich Eins das Ande­re zer­stö­ren durch sein Dasein“.[19]

Die „Sys­tem­aus­ein­an­der­set­zung“ wäh­rend des Kal­ten Krie­ges lie­fer­te genü­gend Bei­spie­le, wie sol­che Abgren­zun­gen funk­tio­nie­ren; auch zeigt ihr Ver­lauf, dass eine Kon­ver­genz aus­ge­schlos­sen ist, dass letzt­lich ein Sys­tem obsiegt. Dar­aus lei­tet sich die Fra­ge ab, ob es Kri­te­ri­en für Lebens­fä­hig­keit des Huma­nis­mus, der Ver­hin­de­rung sei­ner his­to­ri­schen Nie­der­la­ge gibt.

Da sind wir beim zwei­ten Motiv die­ses Sam­mel­ban­des, der Suche nach Bele­gen, dass es sich beim Huma­nis­mus um ein „offe­nes“, lern­fä­hi­ges Sys­tem han­delt. Auch hier for­mu­liert für uns das Grimm­sche Wör­ter­buch die töd­li­che Gefahr, die in jeder Sys­tem­bil­dung für den dau­er­haf­ten Bestand des Sys­tems selbst liegt. Not­zeit tritt ein, wenn die „Sys­tem­ma­cher“ – so das Stich­wort – die Ober­hand gewin­nen. Die Losung von der „Ein­heit“ sei „das schlag­wort aller schwär­mer“, zitiert das Wör­ter­buch aus dem Buch Win­kel­mann von Jus­ti.[20] Und sei­ne Ver­fas­ser, die Gebrü­der Grimm, emp­feh­len aus­drück­lich die Lek­tü­re von Her­der, in dem sie ihn sinn­ge­mäß zitie­ren: „es bleibt uns also, wenn wir nicht dem war­nen­den bei­spiel aller sys­tem­ma­cher aus eig­nem kopf fol­gen wol­len, in sol­chem fal­le nichts übrig, als uns in den gro­szen oce­an von wahr­hei­ten und irrt­hü­mern selbst hin­ein­zu­stür­zen“.[21]

Schlei­er­ma­cher, oben zitiert, argu­men­tiert bezo­gen auf die Unend­lich­keit als zen­tra­le Kate­go­rie, um zu bestim­men, wofür ein reli­giö­ser Mensch „musi­ka­lisch“, d.h. vom Gefühl her, emp­fäng­lich sei. Die­se, wie man heu­te sagen wür­de, Spi­ri­tua­li­tät, zeich­ne ihn aus und prä­ge reli­giö­se Sys­te­me. Genau dies ist beim Huma­nis­mus nicht der Fall, obwohl auch er Spi­ri­tua­li­tät kennt.[22] Er nimmt einen ande­ren Aus­gangs­punkt, ist zwar kei­ne „gefühl­s­ar­me“, kal­te, nur ratio­na­lis­ti­sche Welt­an­schau­ung, aber um den gro­ßen Oze­an des Sys­tems sei­ner Wahr­hei­ten zu befah­ren – um in Her­ders Meta­phern zu blei­ben – benutzt er das Schiff der Hin­ter­fra­gung, des Zwei­fels, der Unfer­tig­keit, kurz der Offenheit.

Das ist auch sei­ne Metho­de, wor­auf Hil­de­gard Can­cik-Lin­de­mai­er in ihrem Text mehr­fach insis­tiert. So hebt sie her­vor, in der Ein­lei­tung der online-Prä­sen­ta­ti­on Les Ada­ges d’Erasme – die Quel­le ihrer Ana­ly­se von Freund­schaft – nen­ne der Her­aus­ge­ber Jean-Chris­to­phe Sala­din die Ada­gia zu Recht „ein Meis­ter­werk der ‘offe­nen’ Form“.[23]

So sind alle fünf Tex­te in die­sem Band ein Ange­bot zur offe­nen Debat­te über Huma­nis­mus als ein nie voll­ende­tes Sys­tem, das aus die­ser Lücken­haf­tig­keit und dem beharr­li­chen Stre­ben der dar­an inter­es­sier­ten Akteu­re, es sys­te­ma­tisch aus­zu­fül­len, sei­ne Ener­gie zieht. Der Band ist durch­aus eine in der Form beschei­de­ne­re, aber den­noch erfreu­li­che Fort­set­zung des Buches Euro­pa – Anti­ke – Huma­nis­mus.[24]

Ein Vor­wort zu die­sem The­ma kann nur den Schluss zie­hen, wie ihn der skep­ti­sche Huma­nist und spä­te­re Gelehr­te Lud­wig Mar­cu­se als Gym­na­si­ast sich zum Lebens­mot­to nahm. 1912 for­mu­lier­te er in einem Auf­satz am Fried­rich Wer­der­schen Gym­na­si­um in Ber­lin fol­gen­des Cre­do: „‘Wir Huma­nis­ten’ sind weder ‘Wäch­ter eines Tem­pels’, noch wird die Welt an uns gene­sen. Wir haben die viel beschei­de­ne­re, aber wich­ti­ge Auf­ga­be, das Leben­di­ge einer gro­ßen Tra­di­ti­on in die Gegen­wart hin­ein­zu­wir­ken.“[25]

Fuß­no­ten

  1. Kultur(en) sys­te­ma­tisch abzu­bil­den ist so selbst­ver­ständ­lich gewor­den, dass „Sys­tem“ gar nicht als Stich­wort in der ent­spre­chen­den ein­schlä­gi­gen Fach­li­te­ra­tur vor­kommt. Vgl. Über die Pra­xis des kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Arbei­tens. Ein Hand­wör­ter­buch. Hrsg. von Ute Frietzsch / Jörg Rog­ge. Bie­le­feld 2013.
  2. Bernd Ter­nes: Sys­tem­theo­re­ti­ker und Poet zivil­kli­ni­scher Theo­rie. In: Kul­tur. Theo­rien der Gegen­wart. Hrsg. von Ste­phan Moe­bi­us / Dirk Quad­flieg. 2., erwei­ter­te Aufl., Wies­ba­den 2011, S. 657–670, hier S. 658. – Vgl. beson­ders Niklas Luh­mann: Öko­lo­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on. Kann die moder­ne Gesell­schaft sich auf öko­lo­gi­sche Gefähr­dun­gen ein­stel­len? Opla­den 1986.
  3. Jörn Rüsen: Kann ges­tern bes­ser wer­den? Zum Beden­ken der Geschich­te. Ber­lin 2003, S. 136.
  4. Vgl. Georg Bol­len­beck: Bil­dung und Kul­tur. Glanz und Elend eines deut­schen Deu­tungs­mus­ters. Frank­furt a.M. / Leip­zig 1994.
  5. Vgl. Wer­ner Schiff­au­er: Der cul­tu­ral turn in der Eth­no­gra­phie und der Kul­tur­anthro­po­lo­gie. In: Hand­buch der Kul­tur­wis­sen­schaf­ten. Band 2: Para­dig­men und Dis­zi­pli­nen. Hrsg. von Fried­rich Jae­ger und Jür­gen Straub. Stutt­gart / Wei­mar 2004, S. 502–517.
  6. Lite­ra­risch an der Per­son Hein­rich Himm­ler beschrie­ben, vgl. Alfred Andersch: Der Vater eines Mör­ders. Eine Schul­ge­schich­te. Zürich 1980.
  7. Vgl. Horst Gro­schopp: Moder­ner Huma­nis­mus und die sozia­le Fra­ge. In: Armut. Aspek­te sozia­ler und öko­no­mi­scher Unter­pri­vi­le­gie­rung. Hrsg. von Micha­el Bau­er / Alex­an­der End­reß. Aschaf­fen­burg 2008, S. 94–108 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Bay­ern, Band 3).
  8. Zur Fort­wir­kung der engen Bin­dun­gen zwi­schen dem Sys­tem Kul­tur, dem des Staa­tes und dem der Reli­gi­on in Deutsch­land und deren „hin­ken­de Tren­nung“ vgl. Horst Gro­schopp: Lai­zis­mus und Kul­tur. In: Huma­nis­mus – Lai­zis­mus – Geschichts­kul­tur. Hrsg. von Horst Gro­schopp. Aschaf­fen­burg 2013, S. 18–33 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Ber­lin, Bd. 6).
  9. Vgl. Hein­rich von Treit­sch­ke: Der Socia­lis­mus und sei­ne Gön­ner. In: Preu­ßi­sche Jahr­bü­cher, Ber­lin 1874, 34. Jg., S. 67 ff.
  10. Vgl. Hubert Can­cik in die­sem Band S. xxx.
  11. Peter R. Hof­stät­ter: Ein­füh­rung in die Sozi­al­psy­cho­lo­gie. Stutt­gart 1959, S. 92.
  12. Vgl. Huma­nis­mus und Huma­ni­sie­rung. Hrsg. von Horst Gro­schopp. Aschaf­fen­burg 2014 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Ber­lin-Bran­den­burg, Bd. 7).
  13. Fried­helm Neid­hardt: Kul­tur und Gesell­schaft. Eini­ge Anmer­kun­gen zum Son­der­heft. In: Kul­tur und Gesell­schaft. Fest­schrift René König. Hrsg. von Fried­helm Neid­hardt, M. Rai­ner Lep­si­us und Johan­nes Weiss. Opla­den 1986, S.13, 11.
  14. Vgl. Sig­mund Freud: Die Zukunft einer Illu­si­on (1927). In: Ders., Gesam­mel­te Wer­ke, Bd. XIV, Frank­furt a.M. 1948, S. 330 ff.
  15. Vgl. Sig­mund Freud: Das Unbe­ha­gen in der Kul­tur [1930] und ande­re kul­tur­theo­re­ti­sche Schrif­ten. Mit einer Ein­lei­tung von Alfred Loren­zer und Ber­nard Gör­lich. Frank­furt a. M. 1994.
  16. Deut­sches Wör­ter­buch von Jacob und Wil­helm Grimm. Begrün­det Leip­zig 1854. Online-Aus­ga­be., Band 20, Sp. 1433, vgl. http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&patternlist=&lemid=GS57649 (abge­ru­fen am 25.2.2014).
  17. Det­lev Ipsen: Regio­na­le Iden­ti­tät. Über­le­gun­gen zum poli­ti­schen Cha­rak­ter einer psy­cho­so­zia­len Raum­ka­te­go­rie. In: Die Wie­der­kehr des Regio­na­len. Über neue For­men kul­tu­rel­ler Iden­ti­tät. Hrsg. von Rolf Lind­ner. Frank­furt a. M. / New York 1994, S. 232.
  18. Deut­sches Wör­ter­buch, Band 20, Sp. 1445, vgl. FN 1. – Ver­weis auf Fried­rich Schlei­er­ma­cher, vgl. Fried­rich Schlei­er­ma­cher: Über die Reli­gi­on. Reden an die Gebil­de­ten unter ihren Ver­äch­tern. 1799 / 1806 / 1821. Stu­di­en­aus­ga­be. Hrsg. von Niklaus Peter. Zürich 2012, S. 64 f.
  19. Schlei­er­ma­cher: Über die Reli­gi­on, S. 65.
  20. Deut­sches Wör­ter­buch, Band 20, Sp. 1444, vgl. FN 1. – Ver­weis auf Carl Jus­ti: Win­ckel­mann. Sein Leben, sei­ne Wer­ke und sei­ne Zeit­ge­nos­sen. 2. Band, 2. Teil, Leip­zig 1866, S. 254.
  21. Deut­sches Wör­ter­buch, Band 20, Sp. 1444, vgl. FN 1. – Vgl. Johann Gott­fried Her­der: Sprach­phi­lo­so­phi­sche Schrif­ten. In: Ders., Sprach­phi­lo­so­phie, Aus­ge­wähl­te Schrif­ten. Ham­burg 2005, S. 73 f. (Phi­lo­so­phi­sche Biblio­thek, 574).
  22. Vgl. Barm­her­zig­keit und Men­schen­wür­de. Selbst­be­stim­mung, Ster­be­kul­tur, Spi­ri­tua­li­tät. Hrsg. von Horst Gro­schopp. Aschaf­fen­burg 2011 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Ber­lin, Bd. 4).
  23. Vgl. ihren Text in die­sem Band S. ##, beson­ders FN 82.
  24. Vgl. Hubert Can­cik: Euro­pa, Anti­ke, Huma­nis­mus. Huma­nis­ti­sche Ver­su­che und Vor­ar­bei­ten. Hrsg. von Hil­de­gard Can­cik-Lin­de­mai­er. Bie­le­feld 2011.
  25. Lud­wig Mar­cu­se: Mein zwan­zigs­tes Jahr­hun­dert. Auf dem Weg zu einer Auto­bio­gra­phie. Mün­chen 1960, S. 140.

Quel­le: Horst Gro­schopp: Huma­nis­mus – ein kul­tu­rel­les Sys­tem. In: Hubert Can­cik / Hil­de­gard Can­cik-Lin­de­mai­er: Huma­nis­mus – ein offe­nes Sys­tem. Bei­trä­ge zur Huma­nis­tik. Hrsg. Von Horst Gro­schopp. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2014, S. 7–14 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Deutsch­land, Bd. 5)