Unter dem Titel Konfessionsfreie und deutsches Verfassungsrecht – 90 Jahre Weimarer Reichsverfassung fand am 11./12. September 2009 in Berlin eine Rechtspolitische wissenschaftliche Konferenz der Humanistischen Akademie Deutschland (HAD) statt, die von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gefördert wurde. Mit diesem Sammelband liegt die Drucklegung der Beiträge vor, von denen einige nach der Konferenz noch überarbeitet wurden. Mit der Wiedergabe auch der meisten Beiträge zur Podiumsdebatte Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 und das Prinzip der Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften heute kann diese Ausgabe der Schriftenreihe erfreulicherweise das breite Debattenfeld aufzeigen.
Die Tagung war nicht nur ein ergebnisoffener und parteiübergreifender Dialog über ein neu entstehendes Politikfeld von bundespolitischer Relevanz, sondern auch eine Diskussion über religiöse wie weltanschauliche Prägungen in der Gesellschaft. Dennoch stand vor allem die Interessenartikulation von Konfessionsfreien, deren Stellenwert in der Gesellschaft, ihr Platz im deutschen Verfassungsstaat und ihr Verhältnis zu Kirchen, Religionen und Verbänden im Mittelpunkt.
Die HAD begann die Planung dieser Tagung, nachdem der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), dessen Studien- und Bildungswerk sie ist, im Juni 2008 Rechtspolitische Grundlagen beschlossen hatte,[1] auf die in diesem Band Hartmut Kreß (kritisch in Bezug auf das Thema Tendenzbetrieb) und Thomas Heinrichs (Fragen nach den Konsequenzen) eingehen. Letzterer hatte auf einer Tagung der Humanistischen Akademie Berlin im Herbst 2007 Thesen für solche Positionen vorgestellt, auf die Johannes Neumann damals kritisch antwortete.[2]
Hans Michael Heinig beschreibt in seinem Aufsatz die Entstehung der so genannten Kirchenartikel in der Weimarer Reichsverfassung und hebt deren Zukunftsfähigkeit hervor: „Waren die religionssoziologischen und religionspolitischen Rahmenbedingungen auch andere als heute, so haben die Weimarer Protagonisten doch eine auch nach neunzig Jahren immer noch zukunftsweisende Konzeption eines modernen Religionsverfassungsrechts vorgelegt.“
Darauf verweist auch Hartmut Kreß. Er geht auf einige aktuelle Streitfragen der Verwirklichung des religiös-weltanschaulichen Pluralismus in Deutschland ein (u. a. Friedhofswesen, Privatschulen und Arbeitsrecht), schlägt Antworten vor und warnt vor der „Gefahr neuer Versäulungen, Abgrenzungen und Abschottungen“.
Als die Weimarer Reichsverfassung 1919 entstand, deren Artikel 136–139 sowie 141 durch Artikel 140 zur „Religionsverfassung“ ins deutsche Grundgesetz inkorporiert sind, gab es in Deutschland weniger als eine halbe Million Konfessionsfreie (in heutiger Definition). In der Gegenwart sind es aber mehr als dreißig Millionen, mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Außerdem sind zu den ehemals dominanten christlichen Volkskirchen muslimische Gemeinschaften hinzugekommen. Die Folgen dieser Veränderungen werfen die Frage auf, wie ein neunzigjähriges Verfassungsrecht mit der heutigen Verfassungswirklichkeit und den Realitäten pluralistischer „Glaubensverhältnisse“ zurechtkommt.
Der Ertrag der Konferenz lässt sich vielleicht wie folgt leicht zusammenfassen: Das Religionsverfassungsrecht wächst Schritt für Schritt, durch gesellschaftliche Entwicklungen gezwungen und allem Streit um Begriffe zum Trotz,[3] über das tradierte Staatskirchenrecht hinaus. Dieses erfasst vor allem aus gesellschaftshistorischen Gründen organisierte christliche Religionen, zu denen mit der Weimarer Reichsverfassung – zunächst zögerlich und politisch erst gegen Ende der 1920er Jahre durch die entsprechenden Verbände begriffen – organisierte Weltanschauungen rein formal hinzukommen.
Heute gibt es zwar ein umfängliches Religionsrecht und eine Rechtsprechung, die das Verhältnis von Staat und Religionen bzw. Weltanschauungen regelt, aber kein spezielles „Konfessionsfreienrecht“, ausgenommen vielleicht das Schutzrecht gegenüber religiösen Handlungen und Eiden nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 136, Abs. 4 WRV, das aber auch das Verhältnis zwischen verschiedenen Religionen regelt. Es ist überhaupt fraglich, was ein „Konfessionsfreienrecht“ sein soll. Die aktuelle Debatte im „säkularen Spektrum“ selbst geht – stark vereinfacht ausgedrückt – in zwei Richtungen: Die einen möchten alle Bürgerinnen und Bürger am Liebsten nur als „Konfessionsfreie“ behandelt wissen, unabhängig von den organisierten Glaubensformen und deren Stellung im Staat; und die anderen hätten gern weitere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften vom Staat als „Konfessionen“ anerkannt.
Die Tagung war seitens der Akademie eine erste Erkundung der neuen Befindlichkeiten hinsichtlich der möglichen Rechtsfolgen. Dem dienten vor allem die Vorträge der eingeladenen Experten, die durchaus konträre Standpunkte vertraten. Stefan Korioth hob z. B. hervor, dass insofern Einigkeit unter den Diskutanten bestünde, „als die gegenwärtige verfassungsrechtliche Regelung als eine taugliche Rahmenordnung angesehen wird, die die unterschiedlichen Systemverständnisse tragen kann.“ Da aber die Rechtsverfassung mehrere politische Varianten offen lasse, das Recht anzuwenden, plädierte dagegen Eric Hilgendorf dafür, „die Stellung der nicht-christlichen Religionsgemeinschaften zwar in manchen Hinsichten zu stärken, gleichzeitig aber den Status der großen christlichen Religionsgemeinschaften abzusenken. … Aus der Sicht des konfessionsfreien Bevölkerungsanteils, also der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Staat, dürfte dieser Weg vorzugswürdig sein.“
In gewisser Weise gibt Hilgendorf dem Staat einen Säkularisierungsauftrag. Das ist seinem Forderungskatalog zu entnehmen. Dagegen opponierte Reinhard Hempelmann. Die deutsche Geschichte zeige, dass sich der Staat gegen jegliche Vereinnahmung zur Wehr setzen müsse, sowohl gegenüber Religionen wie auch gegenüber Weltanschauungen. Es gelte aber generell zu beachten, dass der „säkulare Staat“ nicht auch ein „säkularisierender Staat“ sei. Das erfordere die Gleichberechtigung von Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsverbänden.
Rosemarie Will ging auf der Tagung ebenfalls vom allgemein akzeptierten, aber noch nicht praktisch umgesetzten Verfassungsprinzip der Gleichbehandlung aus und verwies darauf, dass die Verfassung in Deutschland nicht nur aus dem Grundgesetz selbst und einer Vielzahl von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts besteht, sondern auch aus den maßgeblichen juristischen Kommentaren. Während Anfang der 1920er Jahre eine vollständige Gleichstellung nicht angestrebt worden sei, bestünde heute eine weitgehende Einigkeit, dass Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in allen Bereichen gleich zu stellen seien.
Ähnlich wie Hilgendorf und Will begründete Thomas Heinrichs seine Auffassung. Er nahm allerdings stärker Partei für humanistische Weltanschauungsgemeinschaften, besonders den HVD, und las diesem regelrecht die Leviten. Der HVD solle in seiner Konzeptionsbildung unbedingt klarstellen, was ihn dauerhaft als Weltanschauungsgemeinschaft und als den Kirchen gleich zu stellendes Subjekt auszeichne. Nötig sei unbedingt eine noch stärker als bisher erkennbare Abkehr vom ursprünglichen Staat-Kirche-Verständnis der alten Freidenkerei. Der Herausgeber stimmt in seinem Text diesen Forderungen unbedingt zu und argumentiert historisch, wie und mit welchem Verständnis „Weltanschauungspflege“ in Art. 137 Abs. 7 WRV kam und was das heute für den HVD heißen könnte, eine solche Pflege nachweislich zu betreiben.
Christine Mertesdorf, deren Buch über die Weltanschauungsgemeinschaften durchaus Furore machte, liefert in diesem Sammelband eine Handreichung zu verfassungsrechtlichen Grundlagen (Grundgesetz, Landesverfassungen) und grundsätzlichen Rechtsprechungen zu einzelnen Bereichen einer Konfessionsfreienpolitik, die sich auf Art. 140 GG i.V.m. Art 137 Abs. 7 WRV positiv einlässt.
Von wissenschaftlichen Tagungen gehen gewöhnlich keine direkten politischen Handlungsvorschläge oder Hinweise an säkulare wie religiöse Organisationen aus. Aber mehr Klarheit als vorher herrscht nun nicht nur hinsichtlich des Debattenstandes und der unterschiedlichen Standpunkte zum Thema. Es lässt sich insgesamt festhalten: Das gebetsmühlenartige Beklagen im „säkularen Spektrum“ der leidigen Tatsache, dass Konfessionsfreie im politischen Geschäft nicht vorkommen, verbessert ihre Lage nicht. Sie sind zwar eine Menge Menschen, darunter viele Gläubige, aber kein Subjekt. Nur als solches können sie auch im Rechtssystem Beachtung finden, über Schutzrechte hinaus, die für alle gelten.
Dort, wo sich organisierte Subjekte innerhalb der Konfessionsfreien gebildet haben und gegen die „hinkende Trennung“ von Staat und Kirche mal eher laut, mal eher leise vorgehen, da sind diese Kräfte unentschieden. Man kann zwei Positionen ausmachen, die sich auch organisatorisch ausdrücken. Die eine Gruppe will dazu beitragen, kirchliche Privilegien gänzlich abzuschaffen (dann stützen sie sich auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 Abs. 1 WRV). Das höchste an realistischen Forderungen, was der Herausgeber hierzu gehört hat, ist die Einsetzung einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, um die Bedingungen dafür prüfen zu lassen, wofür man aber wiederum eine ausreichende Zahl an Parlamentariern gewinnen müsste.
Eine zweite Gruppe will im Grundsatz die gleichen Privilegien wie die Kirchen (sie stützt sich auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 7 WRV). Sie arbeitet an einem praktischen Humanismus „von unten auf“ und einer eigenen handlungsfähigen politischen Spitze, wie sie die Kirchen haben. Sie bildet Weltanschauungsgemeinschaften, wie der HVD eine ist. Weltanschauung, das ist die Schwierigkeit dieser engagierten Konfessionsfreien, ist aber per Definition nicht „konfessionsfrei“. Weltanschauungen enthalten Bekenntnisse, Menschenbilder, Normen und Wertvorstellungen.
Das Kernproblem dieser zweiten Richtung ist ihre Scheu, wie eine Konfession sein zu wollen, gar den Anspruch zu erheben, eine „dritte Konfession“ zu sein.[4] Das entspricht der Tradition von Humanismus und Aufklärung und deren Wahrheitsanspruch gegen alles Konfessionelle. Das Humanistische Selbstverständnis des HVD von 2001, das ist die Grundsatzschrift des Verbandes, steht noch in dieser Linie und sagt am Anfang ganz eindeutig: „Das Selbstverständnis … ist … kein Bekenntnis.“[5]
Frieder Otto Wolf versucht in seinem Schlussbeitrag, diese Schwierigkeit dadurch zu beseitigen, dass er das Problem in eine Zukunftsperspektive überführt, die eine neue Qualität des Fragens und Antwortens im europäischen Rahmen erzeuge. Die Probleme, was eine angemessene Repräsentanz von Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften wäre und ob die Konfessionsfreien in Deutschland künftig angemessen repräsentiert sind, solle durch einen praktischen Humanismus gelöst werden. Hier zeige sich dann, was es bedeutet, „dass wir uns als konfessionsfreie Humanisten selber in einem Zusammenhang und in einer Tradition bewegen, die sich nicht einfach aus unseren individuellen Initiativen gleichsam zusammensetzend rekonstruieren lässt, sondern indem ein überindividuelles menschliches Erbe weitergetragen wird.“ Hier werde sich auch beweisen, was „Glauben“ und „Bekenntnis“ modern ausgedrückt bedeute.
Fußnoten:
- Vgl. http://www.humanismus.de/positionen (Zugriff am 28.5.2010). ↑
- Vgl. Thomas Heinrichs: Die rechtspolitischen Grundvorstellungen und Kernforderungen der säkularen Verbände, mit einer Betonung auf den HVD … In: Humanismus und „Böckenförde-Diktum“, hrsg. von Horst Groschopp, Berlin 2008, S. 75ff (= humanismus aktuell, Hefte für Kultur und Weltanschauung, H. 22; im Folgenden ha). – Johannes Neumann: Gleichbehandlung – Folgerungen aus den rechtspolitischen Grundvorstellungen und den Kernforderungen der säkularen Verbände .… In: Humanismus und „Böckenförde-Diktum“, S. 86ff. – Bereits 2001 hatte sich die Humanistische Akademie Berlin rechtspolitischen Fragen gewidmet. Vgl. Das gute Recht der Freigeister. Hrsg. von der Humanistischen Akademie Berlin. Berlin 2001 (= ha, H. 9). ↑
- Vgl. Martin Morlok: „Staatskirchenrecht“ oder „Religionsverfassungsrecht“. Vorläufige Bilanz einer aktuellen Debatte. In: Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht? Ein Begriffsstreit und seine religionspolitischen Konsequenzen, hrsg. von Johannes Goldenstein, Rehburg-Loccum 2009, S. 7ff (= Loccumer Protokolle 74/08). ↑
- Vgl. Umworbene „dritte Konfession“. Befunde über die Konfessionsfreien in Deutschland. Hrsg. von Horst Groschopp i. A. der Humanistischen Akademie. Berlin 2006 (= ha, H. 18). ↑
- Humanistisches Selbstverständnis. Beschlossen in Hannover am 10.11.2001. 3. Aufl., Berlin 2009, S. 1. – In der 1. Auflage 2002 stand „Bekenntnis“ noch in relativierenden Anführungszeichen. – Widersprüche in der öffentlichen Wahrnehmung ergeben sich v. a. anhand einiger aktueller Argumentationen bei der Einführung des weltanschaulichen Schulfaches „Humanistische Lebenskunde“, das – bisher lediglich in den Ländern Berlin und Brandenburg – ein Bekenntnis- und kein neutraler Ethikunterricht ist. ↑
Quelle: Horst Groschopp: Vorwort. In: Ders. (Hrsg.): Konfessionsfreie und Grundgesetz. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2010, S. 7–11 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Bd. 3).