Folgt er dem vorliegenden Buch, so hat der Rezensent in drei Kulturen gelebt, bevor er in eine vierte (und weitere?) übergeben wurde, die der Bundesrepublik Deutschland; folgt er den aktuellen Debatten, so ist er ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der DDR in die andere deutsche Gesellschaft nur mangelhaft integriert worden (Petra Köpping, 2018). Es prägten zum einen seine frühere Sozialisation in der DDR in Verbindung mit seinem Lebensgang ebenda und zum anderen seine zu erbringenden Anpassungsleistungen vor und nach der „Wende“ die eigenartige „Erfahrung, ostdeutsch zu sein“. Das machte ihn womöglich heimatlos, erzeugte jedenfalls eine gewisse Unbehaustheit seines Daseins (Engler/Hensel, 2018). Schon 2002 hatte Dorothee Wierling seinen Jahrgang 1949 einer Studie unterzogen und ihr Buch „Geboren im Jahr Eins“ genannt. Er gehörte also zu den Ersten.
Auch Gerd Dietrich behandelt in seinem fast 2.500-Seiten-Kompendium die „Generationenfrage“. Er widmet sich besonders den „Hineingeborenen“ (vgl. III, S. 1.699 ff.), den „Kindern der DDR“. Sie gelten Historikern und Soziologen als die „eigentlichen Problemjahrgänge“ (III, S. 1.701) in der ostdeutschen Population. Bernd Lindner nannte 2003 diese Kohorte eine „integrierte Generation“ (III, S. 1.704), die (so fügte Marc-Dietrich Ohse im gleichen Jahr hinzu; ebd., S. 1705) „‘im permanenten Spannungsfeld von politischer Formierung und privater Gestaltungsfreiheit’“ gelebt habe. Integriert bedeutet „systemnah“ – nur gut, dass ich aus Rentnergründen Karrierezwängen enthoben bin. Solches Urteil gilt da nicht mehr viel, zumal der Autor des Buches in seinem Resümee beruhigend betont, man habe in der DDR kein unwahres Leben gelebt, wie es eine nach 1990 gern politisch eingesetzte These Adornos nahelegte, es gäbe kein richtiges Leben im falschen (vgl. III, S. 2.332).
Die Rezension der vorliegenden „Kulturgeschichte“ erfolgt, deshalb der lange Vorspruch, nicht voraussetzungsfrei, nicht nur, weil man die handelnden und zitierten Personen oftmals kennt und auch einige der angeführten Quellen gelesen hat. Es ist vielmehr der einem ewig nachschleichende Verdacht der Befangenheit durch den geographisch-politischen Lebensmittelpunkt, der noch immer zur „Erfahrung, ostdeutsch zu sein“, dazugehört, gerade wenn es sich um Urteile über die DDR handelt, auch im wissenschaftlichen Umfeld.
Oft geht es dabei – wohlwollend gemeint – um die „Authentizität“ des Augenzeugen gegenüber einem Beobachter aus dem Westen. In der Regel geht es aber um mehr, nämlich um getrübten Blick durch Zeitzeugenschaft und Erziehung. So fühlte sich auch Hannes Schwenger in seiner „Tagesspiegel“-Rezension des vorliegenden Buches dazu angehalten, unbedingt auf die Berufsgeschichte von Gerd Dietrich hinzuweisen und auf das „Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED“ extra zu betonen, weil dem Autor damit „niemand vorwerfen [könne], die DDR sei ihm fremd geblieben“ (4.11.2018, S. 29) – und Schwenger findet dann auch eine Belegstelle für die besondere Nähe zur DDR, nämlich die rühmende Haltung von Gerd Dietrich zum „Palast der Republik“ (vgl. II, S. 1479 ff). Dieses vor einigen Jahren abgerissene Bauwerk, um das Hohenzollernschloss wieder zu errichten, gilt noch immer als Kampfsymbol. Noch immer werden Bauherr, Funktionalität, Nutzung, Kosten, Asbestanteil und weitere Parameter mit dem ICC in Westberlin aufrechnend verglichen. Je gründlicher Dietrichs „Kulturgeschichte“ gelesen sein wird, umso mehr solche „Geßler-Hüte“ werden sich finden.
Die DDR ist heute, um es in der Sprache der Briefmarkenfreunde zu sagen, ein abgeschlossenes Sammelgebiet. Sie selbst kann zu ihrer Geschichte nichts mehr hinzufügen. Es gibt auch keine Repräsentanten, die sie in deren Namen interpretieren, so sehr sich auch immer Stimmen aufschwingen, dies zu tun. Michael Rutschky provozierte 1999 („Der Alltag“, Band 72), die DDR entstehe erst jetzt. So ist es. Da kommt Dietrichs Werk gerade richtig.
Rutschky meinte damit, dass das, was die DDR auszeichne, Produkt sowohl einer Debatte über sie als auch sich wandelnder Zeitumstände sei. Das Bild der DDR bleibt weiter strittig. Verblüffend ist die in die Tausende gehende Zahl der in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten veröffentlichten sach- und wissenschaftsorientierten Artikel und Bücher zum Thema (vgl. die sehr umfängliche, obwohl sparsame Auswahlbibliographie III, S. 2.365–2.379).
Gerd Dietrichs „Kulturgeschichte“ bringt sich in diesen Reigen auf mehrfache Weise ein. Sie ist eine Ausnahmeerscheinung, nicht nur vom Umfang her, weil dicker als das „Handbuch der Kulturwissenschaften“ von 2004 (Jaeger/Rüsen), sondern auch, weil es das Werk eines Einzelautors ist, was auch zeigt, Computer haben zunehmend mehr Speicherkapazitäten.
Eingangs diskutiert der Autor die gängigen Thesen über die DDR ausführlich. Er versucht, sie historisch zu ordnen, inklusive der am Schluss des Werkes (mit ironischem Unterton) angefügten „Sieben Arten Ostalgie zu beschreiben“. Er möchte den Streit aus der westdeutsch konnotierten, engführenden Opfersicht herauslösen (vgl. III, S. 2.346–2.355). Das Vorwort (vgl. I, S. XI–XLII) unterzieht vorliegende wissenschaftliche Ordnungsmuster und Paradigmen der DDR-Geschichte ebenfalls einer wertenden Betrachtung. Dabei wird der Gegenstand „DDR“ definiert als „Komplementärbegriff für die ostdeutsche Gesellschaft“ von 1945 bis 1990 (vgl. I, XXIX).
Es werden kulturwissenschaftliche Methoden der Geschichtsforschung und praxeologische Ansätze gegen eine ausschließlich politische Betrachtung gesetzt, um die DDR „ambivalenzfähig zu machen“ (Lutz Niethammer, zitiert I, S. XXVI). Kulturpolitik und das Politische überhaupt werden bei Dietrich zu Teilen „eines kulturellen Feldes“ (I, S. XXVI), wobei „Kultur“ sowohl in den sozialen Lebensformen des Alltags (und ihren ökonomischen Verursachungen) wie in den spezialisierten Kunstbereichen (und deren Präsentationen) aufgesucht wird.
Der Autor entzieht sich nicht der bisher dominierenden Diktaturforschung, sondern ist an einer dialektischen Sicht auf die Zusammenhänge interessiert. Er fragt danach, wie sich die Diktatur konkret in dem äußert, was er als Kultur bestimmt; wie dieses Kulturelle auf die Formen und Methoden zurückwirkt, in denen sich das Diktatorische äußert.
Deshalb folgt seine zeitliche Einteilung auch nicht den üblichen politisch-staatlichen Großereignissen mit den markanten Einschnitten: Gründung der DDR 1949, Mauerbau 1961 (den „viele Funktionäre inoffiziell als den heimlichen Gründungsakt der DDR begriffen“ [II, S. 829]), Untergang der DDR 1990 oder Ulbricht- versus Honeckerzeit. Er unterteilt vielmehr in drei Bände, um seine Befunde um die jeweiligen typischen Widersprüche zwischen dem Kulturellen und der angewandten Diktaturform in dem jeweiligen Zeitabschnitt zu erfassen: Übergangsgesellschaft und Mobilisierungsdiktatur (1945–1957), Bildungsgesellschaft und Erziehungsdiktatur (1958–1976), Konsumgesellschaft und Fürsorgediktatur (1977–1990).
Dementsprechend werden in allen drei Bänden die gleichen Kriterien als Urteilsmaßstäbe angelegt, um die Ziele und Ergebnisse von Kulturpolitik anhand der jeweiligen Befunde des Zeitabschnittes zu diskutieren. Sie sind der Kultursoziologie der Bundesrepublik entnommen, wie sie Gerhard Schulze 1992 entfaltete, in einem Buch, das nach dem Ende der DDR und damit auch der alten Bundesrepublik erschien und das deshalb nicht die Beachtung fand, die es bis heute verdient, denn „Erlebnisgesellschaft“ war für die neue Zeit einfach ein unpassender Titel.
Dietrich formuliert, sich auf Schulze stützend, für sein Buch folgende sieben Motive kulturpolitischen Handelns und damit zugleich die Gegenstände seiner Kulturanalyse (vgl. I, S. XXXII–XXXV), hier in Stichworten: Umerziehung, Hochkultur, Demokratierung, Kampf, Produktivität, Breitenkultur, Unterhaltung. Die Erörterungen sind jeweils sehr dicht. Der Autor kommt an keiner Stelle seines Buches in Versuchung, sich der einen oder anderen vorgestellten Position vorbehaltlos anzuschließen oder durch allzu flotte Formulierungen Themen für das Feuilleton zu liefern, die dann vielleicht den Verkauf ankurbeln.
Die abwägende Schreibweise verführt allerdings zum Stil der Berichterstattung über das Gewesene und Gelesene und manchmal ist aus dem Ton auf Motivation der Quelle zu schließen, besonders wenn man gelernt hat, zwischen den Zeilen zu lesen. Doch die Leserschaft kann an der Masse des Stoffs nicht vorbei, soll sich selbst ein Urteil bilden, bekommt dafür vielfältig Material, Ereignisse, Episoden, Originalquellen, Zitate die Menge, Standpunkte, Meinungen und entsprechende Fußnoten. In jeder „Etappe“ wird an Ergebnisse der vorherigen erinnert, so entsteht, wenn man diesen oder jenen Bereich herauslösen und gesondert publizieren würde, eine „Literaturgeschichte der DDR“ oder eine Geschichte ihrer Arbeitsauffassungen. In historisch neue Phänomene wird eingeführt. Band III bietet vierzig Seiten Personen- und sechs Seiten Ortsregister. Auf ein Sachregister auf der Homepage des Verlages wird verwiesen, es ist aber dort nicht auffindbar.
Es bringt nicht viel zu sagen, der Autor wendet einen erweiterten Kulturbegriff an. Um anzudeuten, was das praktisch heißt, sollen einige Themen aufgezählt werden: Arbeitswelt (inklusive der durchgängigen Arbeitszentriertheit der DDR-Kultur), Agrar- und Rechtspolitik, Architektur und Wohnungsbau, Autokauf und Kleingärten, Belletristik und Lyrik, „Bitterfelder Weg“ und künstlerisches Volksschaffen, Brigaden als „Ersatzvereine“, Essgewohnheiten und Bekleidung, Filme, Frauen, ihre Emanzipation und dqas Heiratsverhalten, Gesundheitswesen, „jüdische Kultur“ (III, S. 2.125 ff.), die Jugend und die Rentner, Kabarett und Karneval, Kulturbund, Kunstausstellungen und Konzerte, Radio und Fernsehen, Schallplatten und Musik, Schulreformen und Hochschulwesen mit Akademien, Sorben, Sport als Leistung und Freizeit, „Sportnation“ und Sonderrolle Fußball, Stadt und Land, Stalinkult und Ulbricht-Ehrung, Verbandsarbeit, Verlage und Presse, Vergnügungen, Umweltprobleme, Naturschutz und Stadtsanierung, Wohlfahrt und Lebenshilfe usw. bis hin zu begründeten Vermutungen über die Sexualität (vgl. III, S. 1958 ff.) und die Wirkung bestimmter Schlager und Witze – und immer eingebettet die großen Intellektuellendiskurse, etwa über Erbe, Tradition, Moderne, Formalismus, Funktionalismus und Realismus, „Tauwetter“ und Entstalinisierung oder über die Nation, stets mit Ausflügen in die Philosophie und Geschichtswissenschaft, so weit die Streitfragen dort Kulturauffassungen spiegeln.
Bei dieser Methode wird zweifellos das subjektive Urteil zurückgestellt. Wo es anhand der Quellen dann doch durchdringt, etwa bei der Behandlung der letztlich einsamen Entscheidung Honeckers auf Vorschlag der Staatssicherheit, Wolf Biermann auszubürgern (vgl. II, S. 1572), was eine Partei und eine Bevölkerung dann ausbaden musste mit all den kulturellen Formen, die das in der DDR annahm, da bietet Dietrich spannende Geschichten und Kulturbeschreibungen, die den mitunter trockenden Stoff anderer Abschnitte allerdings kenntlicher machen.
Hat die Kultur der DDR irgendeine Fortsetzung gefunden oder ist sie mit dem Staat zuende‑, gar untergegangen? Dazu zwei Anmerkungen: Bereits unmittelbar nach Abschluss des Einigungsvertrages und den dort gefundenen schwerwiegenden (aber nichtssagenden) Begriffen vom gemeinsamen „Kulturstaat“(was den Inhalt von Kultur im Vagen lässt) und der „Substanz“ der DDR-Kultur, die es zu erhalten gelte, begann eine Grundsatzdebatte. Auf kulturwissenschaftlichen Tagungen fragte Diethart Kerbs penetrant die anwesenden Ostdeutschen, was denn diese Substanz sei, etwa die „Kulturhäuser“? Letzteres kann, auch nach der Lektüre von Dietrichs „Kulturgeschichte“, wie schon 1990/91 verneint werden, denn es gab zu diesen Einrichtungen, bei allen Besonderheiten und Betonungen in der DDR, deutsche Vor- und westdeutsche Parallelformen.
Was also war das Besondere? Es ist die „Substanz“, die sich selbst generiert, die im Nachhinein noch immer feststellbar ist, zuvörderst das Fortleben bestimmter Haltungen, aber auch Debatten. Wenn man das Buch liest, dann erstaunt die fortdauernde, oft überhöhte „Gesellschaftlichkeit“ nahezu aller Kulturereignisse und Kunstdebatten, überall scheint Atem der Geschichte durch – bei nahezu jedem diskutierten Theaterstück oder in der „Kaffeekrise“ oder bei was auch immer. Nie ging es nur um das Detail, etwa einen FDGB-Ferienplatz oder einen „Kessel Buntes“, sondern um das Ganze, die große Idee, das „System“, den neuen Menschentyp. „Dahinter verbarg sich jene traditionelle und naive Illusion eines utopischen Humanismus, die in der … DDR immer wieder eine Folie für ideologischen Druck darstellte.“ (I, S. 193)
Wie paradox: Diktatur des Humanismus wegen. Wie unmittelbar aber auch: Humanismus als Handlungsmotiv, bis dann die Opposition diesen Anspruch aufgriff, bei Dietrich vom Ablauf her genau erzählt. In allen drei Bänden wird über „Humanistisches“ berichtet. Wahrscheinlich wird bis heute auch deshalb so viel an die DDR erinnert, gerade auch wissenschaftlich, weil das Heute dagegen irgendwie als Kleinklein erscheint, sich die DDR von der BRD durch ihr ideologisch allgegenwärtiges „Menschheitsprogramm“ noch immer abhebt.
Dietrich sieht und beschreibt die Modernität der DDR als „Doppelgesicht: moderne soziale Formen in autoritärem politischem Gewand“ (II, S. 798). Seine „Kulturgeschichte“ dreht sich in all ihren Details letztlich um die Frage, was könnte Zukunft haben nach Wegfall der diktatorischen Hemmnisse.
In seiner Antwort verweist der Autor zunächst auf die Tragik des deutschen Einigungsprozesses und zitiert Peter Bender („Unsere Erbschaft. Was war die DDR – was bleibt?“ 1992, S. 146, hier III, S. 2.345): „Die Westdeutschen brauchen die Ostdeutschen nicht“, aber umgekehrt.
Doch dann, nach Erörterung der „Ostalgie“, die in keiner Variante ein Rückkehrprogramm aufweise, kommt er zwangsläufig zu Wolfgang Englers These von den „Ostdeutschen als Avantgarde“ (2004) und zu Hans Mayers „Der Turm von Babel“ (1991): Die Westdeutschen „könnten freilich die ‘Ostdeutschen als Avantgarde’ auch fürchten, denn diese haben ihnen die Erfahrung des Scheiterns voraus. Indem Ostdeutschland zu einem großen Experimentierfeld geworden ist [was es 1945–1990 schon war, HG], wäre womöglich von den Ostdeutschen zu lernen, neue Formen des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens zu finden.“ (III, S. 2.356)
Wenn man, dies in Rechnung stellend, nach dem Ertrag der DDR-Kulturgeschichte sucht, so besteht eine Methode in soziologischen Analysen, die sich derzeit häufen. Eine andere Methode ist, in der Welt und „Fremde“ zu fragen, was Nichtdeutschen an Ostdeutschland auffällt, was aus der DDR herstammen könnte. Die Antworten sind ziemlich identisch und auch Gerd Dietrich geht darauf ein.
Er nennt den „Volksatheismus“ (vgl. III, S. 1.963 ff.), der mit einem „Volkshumanismus“ korrespondiert (vgl. III, S. 1.968). Es handelt sich hier nicht um ein bloß erkenntnismäßiges Ereignis der Abkehr vom Gottesglauben, sondern um eine besondere Lebensform, Resultat auch der konsequenten Trennung von Staat und Kirche (vgl. I, S. 336 ff; II, S. 984 ff., 1.248 ff., 1.482 ff.; III, 1.720 ff.) und der Hinwendung zur modernen Massenkultur, die „für den westlichen Menschen in der DDR durchaus prägend“ war (III, S. 1.969).
Das Beispiel wird hier gegeben, um anzuregen, der Studie Dietrichs die Geschichte einzelner Kulturbereiche irgendwann folgen zu lassen, etwa (wegen des „Volkshumanismus“) die Geschichte des Bestattungswesens und der daran gebundenen Festkultur, die aktuell zu einem deutlichen Nordost-Südwest-Gefälle in Deutschland bei der Feuerbestattung geführt hat, wie Jane Redlin 2009 sie in ihrer Studie über selbstverständliche „Säkulare Totenrituale“ in der DDR beschrieb und die fortzusetzen wäre. Das „Kulturproblem“ ist hier, den Säkularisierungsvorsprung Ostdeutschlands als Fortschritt anzuerkennen oder zu versuchen, weil diese Entchristlichung vorrangig als Produkt der Diktatur und Verlust des „Abendlandes“ gilt, diese Prozesse rückgängig zu machen – wofür die „neuen Länder“ und die Kirchen ab 1991 ja hohe Summen vergeblich in die „Remissionierung“ investieren.
Die jeweiligen Einleitungen in die drei Bände, die Prologe zu den einzelnen Kapiteln sowie die zwei Schlussabschnitte und der abschließende Ausklang sind die stärksten des Gesamtwerkes und könnten auch für sich stehen. Das hätte vielleicht ein leserfreundlicheres und kostengünstigeres einbändiges Werk von etwa 300 Seiten ergeben. Die Folgerungen in dieser Verdichtung stünden dann allerdings ohne ihre Belege da und das Ergebnis wäre keine Kulturgeschichte, sondern eine Art erweiterte Prolegomina zu einer solchen, eine weitere theoretische Erörterung über die DDR, keine umfassende empirische Studie.
Der Rezensent ist ein Anhänger der Papierformen für Sammlungen in eigenen Regalen und bibliothekarischen Dokumentationszentren. Er hat zu viel Gesammeltes durch Software-Systemwechsel und Stromausfälle verloren, um der digitalen Speichermethode voll zu vertrauen. Wie auch immer Gerd Dietrich den sicher horrenden Druckkostenzuschuss aufgetrieben oder durch „Konsumverzicht“ selbst beigesteuert haben mag, das schwerwiegende Ergebnis ist nun unwiderruflich in der Welt, trotz der ehrenwerten Relativierungen durch den Autor selbst, wenn er schreibt: Es sei „um Nachsicht für die Paradoxie und Verwegenheit gebeten, Erklärungen über die Kulturgeschichte der DDR abgeben zu wollen, wo doch alle um deren Komplexität und Widersprüchlichkeiten wissen. Immerhin hat sich der Autor fast vier Jahrzehnte lang damit in Forschung und Lehre auseinandergesetzt. Nun hat er das Nachschlagewerk geschrieben, das ihm dabei immer gefehlt hat.“ (I, S. XLI) Jetzt liegt es erfreulicherweise vor.
Gerd Dietrich
Kulturgeschichte der DDR 3 Bände
Band I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945–1957
Band II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1957–1976
Band III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977–1990
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlage 2018, 2.429 S.
ISBN 978–3‑525–30192‑0
120 €