Der vorliegende siebente Band der Schriftenreihe des Studien- und Bildungswerkes des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD), Bundesverband, ist ein Sammelwerk mit 28 Texten des Autors Frieder Otto Wolf (darunter zwei Erstveröffentlichungen), alle geschrieben in den letzten 17 Jahren. Wolf war zuletzt Honorarprofessor am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Die Liste seiner Schriften ist umfänglich. Auch als streitbarer linksgrüner Publizist und Politiker hat er sich einen Namen über Deutschland hinaus gemacht. Der Herausgeber Ralf Schöppner ist Direktor der oben genannten Humanistischen Akademie und betont in seinem Vorwort, dass das Buch als Würdigung des Verfassers (Präsident dieser Akademie von 2006 bis 2017) verstanden werden soll. (vgl. S. 9)
Die Publikation gibt in der Tat Einblick in eine wichtige Denkrichtung in dieser Akademie und in diesem Verband, dessen auffälliger Akteur Frieder Otto Wolf über Jahre hinweg war, in Personalunion zugleich Präsident des Humanistischen Verbandes (2010 bis 2018) und noch immer Präsident der Berlin-Brandenburgischen Humanistischen Akademie (seit 2003). Der Klappentext umreißt den Inhalt des Buches treffend. Es stelle „sein Modell des praktischen Humanismus“ vor, das nicht als „systematische Gesamtkonstruktion“ zu verstehen ist, sondern als eine „Folge von Stellungnahmen aus aktuellen Anlässen“ zur „Artikulation von Grundsätzen des praktischen Humanismus“ sowie „zu benachbarten philosophisch-politischen Positionen“.
Der Titel des Sammelbandes ähnelt dem von Julian Nida-Rümelin von 2016 vorgelegten Werk Humanistische Reflexionen. Der Wolf-Band will aber nicht nur Gedankengänge vertiefen, sondern eingreifen. Eine Auseinandersetzung mit den militärpolitischen Thesen einer „humanitären Intervention“ erfolgt nicht, obwohl einige „Interventionen“ (etwa zum Lybienkrieg, vgl. S. 209–235) dies zumindest im Nachwort hätten erwarten lassen.
Auf der Suche nach anderen Buchtiteln, die derzeit auf dem Markt sind und „Interventionen” sein wollen, bin ich vorwiegend auf Sexual- und Paartherapien gestoßen. Dabei kam ich weiter suchend zu Michel Houellebecqs Essays. Sie wurden 2016 unter dem Titel Interventionen veröffentlicht mit einer Ankündigung des Verlages, die auch auf den vorliegenden Wolf-Band sinngemäß angewandt werden kann: „Die skurrile Tragikomödie, die wir alle miteinander auf der Bühne des absurden Menschheitstheaters aufführen [Wolf würde das sicher „großes Palaver in Zeiten der Krise“ nennen, HG], wird in diesen Texten schonungslos verrissen. Denn was Michel Houellebecq hier betreibt, ist keine Sozial- oder Kulturkritik – es ist nicht weniger als Weltkritik.”
„Weltkritik“ mag überspitzt klingen, aber so etwa geht es im vorliegenden Band zu, wobei der Autor „Humanismus“ in den Mittelpunkt rückt, vor allem den „modernen praktischen“ (selten mit Komma dazwischen), von dem das, was er ist bzw. sein soll irgendwie als selbstverständlich vorausgesetzt oder durch Abgrenzung von anderen Humanismen bestimmt wird, von denen auch nicht immer klar wird, was das ist bzw. wer diese Auffassung konkret vertritt. Zumindest setzt der Autor viel bei der Leserschaft voraus.
Die meisten Texte (vgl. Editorische Notiz, S. 319 ff.) sind Nachdrucke aus dem Freitag (einer Ost-West-Wochenzeitung), der Verbandszeitung diesseits und humanismus aktuell, der Zeitschrift der Humanistischen Akademie, sowohl aus der gedruckten Ausgabe (1997 bis 2009) als auch aus der seit 2010 erscheinenden online-Variante – interessanterweise keine Texte aus den Schriftenreihen der Akademien. Erfreulicherweise sind die jeweiligen Internetadressenen der Erstpublikationen angegeben.
Der Band ist unterteilt in vier Kapitel sowie ein Vor- und ein Nachwort. Es fehlt leider eine Auswahlbibliographie.
Der erste Abschnitt ist Praktischer Humanismus als Bekenntnis überschrieben und spiegelt die Bauchschmerzen des Berufsphilosophen mit dem Weltanschauungsbegriff, insonderheit mit „Bekenntnisfragen“. In einem Verbandspapier von 2011, dass die Arbeit an einem neuen Humanistischen Selbstverständnis strukturieren sollte, beschrieb Wolf seine Haltung so: „Humanismus als Bekenntnis: undogmatisches Engagement in einer Weltanschauungsgemeinschaft ohne Ersatzreligion“. Die Leserschaft kann auch hier vermuten (und in den gedruckten Texten Wolfs Position nachvollziehen), wie schwer es einem Bekenntnisverband gefallen sein muss, einen Präsidenten an der Spitze zu haben, dem Bekenntnisse suspekt und Weltanschauungen mit Philosophie schwer zu vereinbaren sind.
Die Aufnahme des Textes von 2010 „Bekenntnis und ‘Bekenntnis’“, der diese Haltung präzisiert und einen Kompromiss andeutet, hätte hier erhellt, wie Wolf in dieser Zeit dachte, als er die Geschicke des Bundesverbandes anvertraut bekam, und wie sich diese Auffassungen mit den Wendungen im HVD und in der Humanismusforschung veränderten. Der Verband, dessen Präsident er war, ist eine „Weltanschauungsgemeinschaft“. Genaugenommen gehören die Mitglieder und ihr Humanismus sogar formal zu einer „Konfession“. Der Autor deutet in der vorliegenden Sammlung seine entsprechenden Abgrenzungen von der Konfessionsdebatte lediglich in gemilderter Form an (vgl. S. 56, 284). 2015 klang dies auf der Verbandshomepage wesentlich rigider und zeigte den Unwillen Wolfs zu erkennen, worum es in dieser Debatte damals ging und bis heute geht.
Der zweite Abschnitt behandelt Humanistische Kritiken und Polemiken, d.h. konkrete Auseinandersetzungen etwa mit Peter Janisch, Thilo Sarrazin, Monika Grütters und mit der „Transhumanismus“-Debatte. Drittens werden einige Interventionsfelder des praktischen Humanismus näher bestimmt, so Staat-Kirche-Fragen, Religionskritik und Dialoge mit Religiösen, Friedensfragen und Pazifismus, Rassismus, „Soziales Minimum“.
Der vierte Abschnitt Programm des praktischen Humanismus für das 21. Jahrhundert geht noch einmal auf Probleme des ersten ein, behandelt sie aber auf eine Weise, die als Versuch gewertet können, sich doch auf eine Bestimmung des Humanismus als einem offenen System einzulassen. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Hubert Cancik dazu wäre hier nützlich gewesen, gerade bei Beantwortung der Frage, was der „Sinn von Humanismus“ sein könnte und ob die Frage überhaupt so formuliert sein sollte.
Weil das Spektrum, das Wolf behandelt, es sei wiederholt, sehr breit gefächert ist, bekommt die Leserschaft viel Stoff vorgesetzt. Es lohnte sich, diesen oder jenen Text herauszulösen und gesondert zu betrachten, auch hinsichtlich der jeweiligen Zeit- und Ereignishintergründe. Das muss hier wegen des nötigen Aufwandes unterbleiben. Doch bevor auf einige allgemeinere Probleme der Konzeption des Bandes verwiesen wird, sei das an einem Beispiel gezeigt.
Frieder Otto Wolf setzt an den Anfang des zweiten Abschnittes eine erweiterte Rezension von Raymond Geuss‘ Buch Philosophy und Real Politics (Princeton 2008). Wolf ließ seine Ausarbeitung dazu Anfang Oktober 2010, als feststand, dass er im Februar 2011 nicht mehr nur amtierender (seit Januar 2010), sondern mit großer Wahrscheinlichkeit gewählter HVD-Präsident werden würde, ganz bewusst in humanismus aktuell erscheinen.
Es ging ihm darum, seine Position in der „Diskussion über den Humanismus als Weltanschauung“ öffentlich zu machen, „dass der praktische Humanismus kein ‘theoretischer Humanismus’ ist“ (S. 97). Er kündigte an, eine „zentrale Auseinandersetzung darüber zu entfalten“ (ebd). Diese fand dann tatsächlich über einige Jahre hinweg statt – und bereitete die Spaltungen im Verband vor: „praktischer Humanismus“ versus „säkularer Humanismus“. Geuss‘ Thesen dienten Wolf dazu, sich grundsätzlich gegen Helmut Fink zu wenden, bald sein Stellvertreter in der Bundesführung (vgl. S. 104, Fn 14), nämlich „dass es nicht möglich ist, zunächst eine ‘säkulare Ethik’ zu konstruieren und dann erst anschließend über deren ‘politische Anwendungen’ nachzudenken“ (S. 104).
Wenn Wolf, auch in diesem Band, sich von anderen abgrenzend loslegt, holt er mitunter verbal weit aus, z.B. gegen seinen Lieblingsgegner, den „DDR-Humanismus“ (speziell Walter Ulbricht, vgl. S. 44) den er pauschal einen „unreflektierten, herrschaftsaffirmativ missbrauchten Humanismus“ nennt (S. 45). Das mag ja im Rahmen der anhaltenden Delegitimation der DDR und ihrer Wissenschaftler Platz und Tradition haben, aber der Herausgeber legt noch eine Schippe drauf. Er stellt, sich auf Wolf berufend und nur durch ein Komma getrennt, den „Dritten Humanismus“ und den „DDR-Humanismus“ auf eine Ebene (vgl. S. 11).
Aber diese überspitzende Weise des Autors findet sich auch anderswo, wo Leserschaft und Rezensent fragend zurückgelassen werden, was denn „humanistisch“ gemeint sein könnte, wenn da steht: „Als ein notwendiges Drittes zwischen einem naiv autozentrischen und einem pervertiert herrschaftsaffirmativen Humanismus erschließt sich daher ein kritischer praktischer Humanismus [hier fehlt vielleicht ein „als“, HG] eine elementare Dimension einer radikalen Philosophie der Begegnung, welche konsequent anerkennt …“ usw. (S. 296).
Es wird zwar verschiedentlich auf das Handbuch Humanismus: Grundbegriffe (Cancik/Groschopp/Wolf, 2016) verwiesen, aber mit den Erkenntnissen darin, was unter Humanismus verstanden werden kann, trotz der Vieldiminensionalität eines aber letztlich doch zu bändigenden Humanismusbegriffs, erfolgt bei Wolf, trotz Mitherausgeberschaft, keine „Anwendung“ oder Auseinandersetzung (auch nicht mit anderen Werken, etwa der Analyse von Florian Baab). Da hilft auch der Versuch nicht viel, im Nachwort (S. 308 ff.) eine begriffliche Einbindung des in den vier Kapiteln Gesagten vorzunehmen. Es gibt erneut zahlreiche Humanismen, die unterschieden werden sollen, ohne sie genauer vorzustellen. „Ein bewusst und radikal herrschaftskritischer Humanismus bildet vielmehr das einzige wirksame Gegenmittel gegen die Momente und Ausprägungen des herrschaftsaffirmativen, elitären Humanismus.“ (S. 304)
Das Hauptproblem eines theoretischen Humanismus (den der Autor im Kern ablehnt, vgl. S. 41, 140 Fn 3, 279 f.; etwas gemildert S. 301 f.) ist doch nicht, dass diese vielen Humanismen, auf die sich Wolf bezieht, isolierte Erscheinungen sein könnten. Selbst dann stellte sich die Aufgabe, wirkliche Vergleiche herzustellen und mögliche Synthesen zu versuchen, um die kulturellen Subjekte genauer zu bestimmen, die diese Kulturkonzepte unter dem Namen „Humanismus“ vortragen. So wird doch nicht klar, handelt es sich um eine soziale Bewegung oder einen einsamen Autor. Die Relevanzbestimmung wäre schon ein wichtiger Ansatz, sich theoretisch mit Humanismen zu beschäftigen, z.B. (um Wolfs Worte zu bemühen) ob jemand lediglich „herrschaftsaffirmativ“ argumentiert oder dessen Thesen zu einer Ideologie geronnen sind, die „Herrschaft affirmiert“. Was machen die davon betroffenen Leute damit? Welche kulturellen Folgen hatte dies, z.B. in der DDR, um das Beispiel noch einmal aufzurufen.
Um zu verdeutlichen, dass es dabei um das Grundsätzliche geht, sollen einige dieser adjektivischen Humanismusbestimmungen, wie sie in dem Wolf-Buch vorkommen, in der Reihenfolge ihres Erscheinens genannt werden: „bewusster Humanismus“ (S. 33), „religiöse Humanismen“ (S. 36), „philosophisch artikulierter Humanismus“ (S. 41), „Erleuchtungshumanismus“ versus „Aufklärungshumanismus“ (S. 45), „Elite-Humanismus“ (S. 46), „elaborierter Humanismus“ (S. 55), „unser Humanismus“ (S. 56), „religiös eher neutraler Humanismus“ (S. 159), „organisierter Humanismus“ (S. 240, „säkularer Humanismus“ (S. 256, 274), „radikal zeitgenössischer Humanismus“ (S. 284), „jeder ernst zu nehmende Humanismus“ (S. 286), „dezentrierter Humanismus“ (S. 292), „radikal praktischer politischer Humanismus“ (S. 294). Der Verifikation eröffnet sich ein weites Feld.
Zwei Anmerkungen zur Herausgeberschaft: Autor, Herausgeber und Verlag versprechen sich vielleicht durch Einführung des Gendersternchens in die Wissenschaftsschriftsprache mehr Klarheit. Es gibt humanistische Akteur*innen, viele Vertreter*innen und gläubige Muslim*innen, einige Europäer*innen, sogar Wirtschaftswissenschaftler*innen, ethisch engagierte Humanist*innen usw. Aber ein solcher Band wie der vorliegende verliert seinen Wert in der Forschung, wenn der Stern-Einsatz rückwirkend erfolgt, die Texte keine historische Dokumentation mehr darstellen. Angesichts dieser Praxis stellt sich die Frage, in welcher Hinsicht die Texte sonst noch „durchgesehen und gegebenenfalls überarbeitet“ wurden (S. 318).
Der vorliegende Band legt auch davon ein beredtes Zeugnis ab, wie sich Positionen von Frieder Otto Wolf verändert haben, insbesondere sein Humanismusverständnis im Gefolge der Anwendung dessen, was sich gegenüber seinem Buch über Radikale Philosophie durch Beschäftigung mit theoretischem und praktischem Humanismus modifizierte, es auch hinsichtlich seines Buches Humanismus für das 21. Jahrhundert spätere Weiterungen gab.
Einiges von dem, was man gestern sagte, das Problem verfolgt alle Publizierenden, und was man einmal als belegt ansah, erweist sich ein paar Jahre später als nicht bewiesen oder gar widerlegt. So schreibt Wolf in einem Text von 2010, es habe einen Stasi-Befehl zum Aufbau der DDR-Freidenkerei gegeben (vgl. S. 265). Das Buch Letzter Versuch einer Offensive (Müller/Groschopp), in dem der tatsächliche Hergang dokumentiert wird, erschien 2013 als Band 8 in der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg. Ein Herausgeber hat hier die Aufgabe, da es sich um eine Sachaussage handelt, den Autor zu beraten, gegebenfalls eine korrigierende eigene Anmerkung anzufügen.
Horst Groschopp
Frieder Otto Wolf: Humanistische Interventionen. Praktische Menschlichkeit in der Gegenwart. Hrsg. und mit einem Vorwort von Ralf Schöppner. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2019, 324 S. (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Bd. 7), ISBN 978–3‑86569–291‑7, 25 Euro