Für einen modernen Ethikunterricht in der Schule haben Johannes und Ursula Neumann eine Art Musterklage geführt. Der bisher unveröffentlichte Text „Ersatzfach“ Ethik [in dem erscheinenden Band, siehe unten “Quelle”] enthält zahlreiche Informationen zum Revisionsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht am 17. Juni 1998. Der Form nach handelt es sich um einen Informationsbrief an befreundete Personen und am Prozess Interessierte über den Stand des Verfahrens, das im Februar 1994 mit der Antragstellung in der Schule des Sohnes Joachim begann.
Der Text fasst die Argumente der Kläger zusammen. In der Verdichtung der Gründe liegt der Wert des Textes. Das Verfahren ging bekanntlich in allen drei Streitpunkten verloren. Allerdings pochte das Bundesverwaltungsgericht immerhin auf Gleichstellung mit dem Religionsunterricht. Im Internet finden sich sowohl die Urteile wie zahlreiche Stellungnahmen dazu sowie zum Verfahren. Der Abdruck des „Briefes“ bietet die Möglichkeit zu einem kurzen Kommentar.
Zunächst ist festzuhalten: Der Ethikunterricht war ein Problem der alten Bundesrepublik und ist eine Folge des pflichtigen Religionsunterrichts gemäß Art. 7,3 GG. In der DDR fand „Christenlehre“ außerhalb der Schule als freiwilliger Unterricht der Kirchen in deren Gemeinden statt. Bereits im Juni 1945 verfügte die Sowjetische Militäradministration für Berlin, dass nur die Kirchen das Recht hätten, Religionsunterricht in ihrer Konfession für die Kinder ihrer Gläubigen zu erteilen, nicht der Staat. Diese Regelung wurde zunächst für die gesame Ostzone übernommen, bis in den 1950er Jahren die vorangetriebene Trennung von Staat und Religion die Verbannung der Kirchen aus den Schulen zur Folge hatte. In der Schule gab es ein Fach „Staatsbürgerkunde“, in das zwar anfangs einige Elemente der stark sozialistischen Lebenskunde der 1920er Jahre einflossen,[1] das sich aber immer mehr zu einem streng an der herrschenden marxistisch-leninistischen Ideologie gebundenes Unterrichtsfach entwickelte, das – ebenfalls daran orientierte – Bestandteile von Ethik enthielt.[2] Das Fach gehörte zu den ersten Lehrstoffen, die noch in der „Wendezeit“ reformiert, dann aber gänzlich abgeschafft wurden.
Nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes per Einigungsvertrag, gemeinhin „Wiedervereinigung“ genannt, übernahmen die Ostländer mit Ausnahme Berlins (wegen der „Bremer Klausel“, Art. 141 GG) und Brandenburg (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde, quasi ein Ethikfach) das jeweilige System derjenigen Bundesländer, die als „Paten“ galten, also Bayern/Sachsen, Thüringen/Baden-Württemberg usw.).[3] Diese Anpassung führte allerdings zu keiner Angleichung. Sie ist heute keineswegs „gesamtdeutsch“. Ethik ist unterschiedlich geregelt, hat keinen Status im Detail und Ansehen, besitzt noch immer eine je verschiedene Ausstattung. In den alten Bundesländern ist es rechtlich immer noch ein Ersatzfach (vgl. § 32 SchulGNRW bzw. Art. 47 SchulGBayern), nur in den neuen – außer Brandenburg und Berlin – ein Wahlpflichtfach (vgl. § 20 SchulGSachsen). – im Rahmen der Schule in einem Wahlpflichtverhältnis zum Religionsunterricht steht.
Mit dem Aufkommen der Freireligiösenbewegung (ab Mitte 19. Jahrhundert), der organisierten Freidenkerei (wesentlich im 20. Jahrhundert) und der Reformpädagogik (1890–1930) entwickelten sich nicht nur diverse Konzepte hinsichtlich Veränderungen im Religionsunterricht, sondern auch Programme dagegen. Ging es zunächst um die Freistellung der „Dissidentenkinder“ vom Religionsunterricht, bildeten sich schließlich zwei Programme heraus, die auch heute noch vertreten werden: erstens ein eigener freier Religions- bzw. Lebenskundeunterricht von entsprechenden Verbänden bzw. Vereinen in den Schulen; zweitens aller Religions- und Weltanschauungsunterricht heraus aus den Schulen, dafür ein allgemeiner Ethikunterricht (unter verschiedenen Namen, darunter Moralunterricht) für alle Schülerinnen und Schüler pflichtig mit unterschiedlichen Vorgaben und Vorgaben, ab welcher Klassenstufe dies gelten soll.
In dem Maße, wie kapitalistische und bürgerliche Fortschritte gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dann zunehmend Individualisierungen vorantrieben, fielen die beiden großen Kirchen als Garanten einer christlichen Kultur und allgemeinen, an Religion orientierten Moral für die gesamte Gesellschaft aus. Damit übernahm der Religionsunterricht in den Schulen, als Fach etabliert im Wesentlichen nach der gescheiterten Revolution 1848/49, zunehmend zwei Funktionen, zum einen christliche Glaubensbewahrung, zum anderen Ethiksicherung auf christlicher Basis. Es versteht sich, dass in der Moderne beide Aufgaben – zumal in einem Schulfach – sich immer mehr zu widersprechen begannen.[4] Hinzu kamen Freistellungsbegehren zunächst von „Ungläubigen“, dann (in der jüngeren Zeit) „Andersgläubigen“.
Vor der Bundesrepublik im Mai 1949 entstanden ab 1945 deutsche Bundesländer, die gerade in Sachen Religion und Schule sich eine „Kulturhoheit“ nahmen. In einigen Bundesländern gelang es, in ihrer Gründungsphase, einige Freistellungsklauseln zu etablieren, die aber in der Phase der konservativen Restauration und des Kalten Krieges nicht weiterverfolgt, später – ab Anfang der 1970er Jahre – wieder aufgegriffen bzw. neu etabliert wurden, woraus die „Problematik“ eines „Ersatzfaches Ethik“ erwuchs.
Obwohl eigentlich alle modernen Pädagogen der Auffassung sind, Ethik sei wahrlich kein Sonderfach für Religionsflüchtige, sondern solle für alle Kinder pflichtig sein,[5] behielten die Kirchen ihre Ansprüche bei. Sie etablierten Zuweisungen, erhielten Staatsverträge, dominierten Ausbildungen und Studiengänge. Es entstand ein gewaltiges Schule-Religion-System, das treue Politiker besitzt. Zwar hat dieser ganze Aufwand nicht viel gegen den rasanten Zuwachs kirchenferner Bevölkerung genützt, aber wer will hier bei einer Reform, gar Revolution den Anfang machen?
Die genannten rechtlichen Ansprüche der Kirchen sind derzeit jedoch nicht das eigentliche Problem – auch wenn dies in der „säkularen Szene“ wohl mehrheitlich so gesehen wird. Das Land Berlin hat gezeigt – und das BverwG vor langem schon gesagt –, dass es rechtlich möglich ist, ein verbindliches Fach Ethik für alle Schüler einzuführen. Ein solches Fach tangiert den Religionsunterricht rechtlich nicht und würde die Ansprüche der Kirche auf ein Pflichtfach Religion nicht berühren. Religionsunterricht bliebe Pflichtfach für die Kinder, die den entsprechenden Religionen angehören.
Natürlich will das die Kirche nicht, aber die Politik könnte es machen. Mit zunehmender Glaubensabstinenz in der Bevölkerung und wachsender Zahl der Konfessionsfreien auch in den „Altbundesländern“ werden sich die Stimmen für einen allgemeinen Ethikunterricht mehren – aber auch der Streit zunehmen, welche weltanschauliche Verankerung dieses Fach dann haben soll. Hier werden sich die Kirchen mit aller Macht, die sie noch haben, „einbringen“.
Was die rechtlichen Ansprüche der Kirchen berühren würde, wäre die bundesweite Einführung des Berliner Modells, also der Religionsunterricht nicht länger als reguläres, verpflichtendes Schulfach, sondern als freiwilliger Unterricht in den Schulen, aber nicht durch die Schule.
Der Bonner Theologe und Ethiker Hartmut Kreß nennt in seiner jüngsten Veröffentlichung zwei Gründe für ein gemeinsames Fach Ethik für alle Schülerinnen und Schüler: Erstens betont Kreß die grundsätzliche Änderung der Kulturverhältnisse gegenüber der Zeit, als die „Väter“ der Weimarer Reichsverfassung vor hundert Jahren noch annehmen konnten, der konfessionelle Religionsunterricht würde „die sittliche Bildung ailer Schüler gerwährleisten“.
Zweitens, so hebt der Autor hervor, separiere das jetzige System die Kinder in der Schule gerade bei den Diskussionen über existentielle Sinnfragen immer weiter in immer kleinteiligere Konfessionen. „Stattdessen sollte die staatliche Rechtspolitik eine neue Weichenstellung vornehmen, das bisherige, dem Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts verhaftete Modell des Religionsunterrichts verlassen und einen Ethikunterricht einführen, der den Gegebenheiten des heutigen weltanschaulichen Pluralismus Rechnung trägt.“[6]
In diesem Umdenkprozess, der von den Gegebenheiten erzwungen wird, sind vergangene wie gegenwärtige Gerichtsverfahren, etwa das der Neumanns, über dessen Gründe und Argumente der Artikel Ersatzfach Ethik informiert und dessen Hauptzielrichtung in der Aufhebung des Ersatzfachstatusses war,[7] wie Nadelstiche in einen Medizinball – aber noch nicht in einen Luftballon; denn dass die ganze Blase allzubald platzen könnte, sie gar jemand platzen lassen will, das ist nicht zu erwarten. Dem Ball wird wohl eher langsam die Luft ausgehen.
Der Fachverband Ethik stellte 2016 fest, der Prozess sei „ein Meilenstein zur Weiterentwicklung der Ethikfächer, insbesondere in den Altbundesländern“ gewesen. „Die große Zahl der eingerichteten Lehramtsstudiengänge sowie der Studierenden und Absolventinnen und Absolventen in Baden-Württemberg ist eine unmittelbare Folge des dazu ergangenen Grundsatzurteils des Bundesverwaltungsgerichts 1998. Gleichzeitig hatte dieses Urteil eine langfristige Signalwirkung auch für andere Altbundesländer, die hiernach mit grundständigen Lehramtsstudiengängen für Ethikfächer erstmalig oder verstärkt begannen. Möglicherweise unterstützte diese rechtliche Klärung auch die Initiative in NRW, erstmals überhaupt ein Ethikfach einzuführen, hier mit einem eigenen Profil als ‘Praktische Philosophie’.“[8]
- Vgl. Horst Groschopp/Michael Schmidt: Lebenskunde. Die vernachlässigte Alternative. Zwei Beiträge zur Geschichte eines Schulfaches. Berlin 1995. – Horst Groschopp: Zum Kulturkampf um die Schule. Historische Anmerkungen zum Berliner Streit um den Religionsunterricht. In: Jahrbuch für Pädagogik 2005: Religion, Staat, Bildung. Frankfurt a. M. 2006, S. 225–234. ↑
- Vgl. Tilman Grammes/Henning Schluß/Hans-Joachim Vogler (Hrsg.): Staatsbürgerkunde in der DDR. Ein Dokumentenband. Wiesbaden 2006. ↑
- Den Stand 1993 beschreibt Fritz Bode: Der Brandenburgische Modellversuch Lebensgestaltung/Ethik/Religion. Versuch einer kritischen Betrachtung. In: Berichte und Standpunkte. Heft 2. Pinneberg 1993, S. 10–22, hier besonders S. 12 f. – Vgl. schon ein Jahr später Alfred K. Treml: Ethik als Unterrichtsfach in verschiedenen Bundesländern. Eine Zwischenbilanz. In: edition ethik kontrovers. Band 2. Velber 1994, S. 18–29. Der sehr informative, mit einer Übersichtstabelle versehene Text steht im Internet zur allgemeinen Verfügung. ↑
- Vgl. aus theologischer Sicht Bernd Schröder/Ekkehard Starke (Hrsg.): Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation. Göttingen 2018. ↑
- Vgl. Thomas Heinrichs: Ethikunterricht, Lebenskundeunterricht, Religionsunterricht. Moralische Erziehung an der Schule im rechtlichen und sozialen Wandel. In: Ders.: Religion und Weltanschauung im Recht. Problemfälle am Ende der Kirchendominanz. Hrsg. Von Horst Groschopp. Aschaffenburg 2017, S. 157–196, hier S. 189 f.: „Es ist heute unter Pädagogen unstrittig, dass für eine erfolgreiche Sozialisation aller Schüler in die Gesellschaft hinein ein gemeinsamer Unterricht erforderlich ist, und zwar als Pflichtfach.“ – Der Autor stellt die Rechtslage umfassend dar und führt eine Reihe von Belegen für diese Aussage an, darunter Gabriele Kuhn-Zuber: Die Werteerziehung in der öffentlichen Schule. Religions- und Ethikunterricht im säkularen Staat. Hamburg 2006, S. 210. ↑
- Hartmut Kreß: Konfessioneller Religionsunterricht oder pluralismusadäquater Ethikunterricht? Notwendigkeit einer rechtspolitischen Weichenstellung. In: ZRP 2019. 52. Jahrgang. Heft 1, S. 22–25, hier S. 25. ↑
- Vgl. Joachim Neumann/Johannes Neumann/Ursula Neumann: „Ersatzfach“ Ethik. In diesem Band. ↑
- Fachverband Ethik (Bundesverband) (Hrsg.): Denkschrift zum Ethikunterricht. Zwischen Diskriminierung und Erfolg. 44 Jahre Diskriminierung als „Ersatzfach“ im Westen. 25 Jahre Ethik als „Wahlpflichtfach“ im Osten. 20 Jahre Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde. 10 Jahre „Ethik für alle“ in Berlin. Autoren: Gesine Fuß/Achim Jung/Peter Kriesel/Klaus Goergen/Gerhard Weil/Martina Wentzkat. München 2016, S. 30. ↑
Quelle Text:
Auszug aus Horst Groschopp: Humanistische Zwischenrufe. In: Ursula Neumann: Tätiger Humanismus. Historische Beiträge zu aktuellen Debatten. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Horst Groschopp (Reihe Humanismusperspektiven, Band 6). Erscheint Aschaffenburg: Alibri Verlag 2019.
Quelle Bild:
Cover Lehrbuch. Vgl. Petra Caysa (Hrsg.): Selbstbestimmung. Freiheit. Verantwortung. Ethik – Philosophie. Sekundarstufe II. Leipzig Militzke Verlag 2001.