Heilige Schriften zwischen Opferkult und Wortgottesdienst

Rezension

Hart­mut Zinser:

Heilige Schriften zwischen Opferkult und Wortgottesdienst

Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2020, 126 S.; ISBN 978–3‑86569–316‑7 / 16 Euro

 

Dem Ali­bri Ver­lag, bekannt durch sei­ne reli­gi­ons­kri­ti­schen Schrif­ten, ist es mit der Publi­ka­ti­on des vor­lie­gen­den Buches gelun­gen, einen der bedeu­tends­ten deut­schen Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler als Autor zu gewin­nen. Zins­er, Jahr­gang 1944, war bis 2011 Pro­fes­sor an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin. Zu sei­nen neue­ren Wer­ken zäh­len die Bücher „Grund­fra­gen der Reli­gi­ons­wis­sen­schaft“ (2010) und „Reli­gi­on und Krieg“ (2015).

In der nun erschie­ne­nen gedräng­ten Dar­stel­lung betont der Autor immer wie­der aus­drück­lich, dass sein Amt ein wis­sen­schaft­li­ches ist. Mehr­fach grenzt er sich einer­seits aus­drück­lich von Theo­lo­gien ab (obwohl man von ihren For­schun­gen und denen der Phi­lo­lo­gen viel ler­nen kön­ne [vgl. S. 114]), aber ande­rer­seits auch von der Auf­fas­sung, Reli­gi­ons­wis­sen­schaft sei „athe­is­tisch“, denn sie mache „zu der Fra­ge, ob Gott oder Göt­ter außer­halb der Vor­stel­lun­gen der Anhän­ger exis­tie­ren, kei­ne Aus­sa­ge.“ (S. 20; vgl. auch S. 14 über den Bud­dhis­mus; vgl. 63 über die frü­hen Chris­ten, die als Athe­is­ten (atheoi) gal­ten, weil sie nicht opferten).

Dass es „hei­li­ge“ Schrif­ten gibt, gehört in den „west­li­chen Kul­tu­ren“, die his­to­risch vom Chris­ten­tum geprägt sind (wo es mit der Bibel eine „Hei­li­ge Schrift“ gibt, die auch so heißt), in denen es Juden gibt (und die Tho­ra) und Mus­li­me (und den Koran) der­art zu den kul­tu­rel­len Tat­sa­chen, dass in den Geis­tes­wis­sen­schaf­ten, selbst in der Reli­gi­ons­wis­sen­schaft, nur wenig danach gefragt wird, was eine „Hei­li­ge Schrift“ eigent­lich ist, wer Tex­ten „Hei­lig­keit“ ver­leiht, seit wann es sie gibt, was sie in ihrer Bedeu­tung über ande­re stellt und wer von wem ent­spre­chen­de Aner­ken­nung ver­langt, teil­wei­se per Schutz durch Geset­ze, je nach Sta­tus der Tren­nung von Staat und Reli­gi­on. Sol­chen Tex­ten wird „Wahr­heit“ zuge­spro­chen, obwohl die „neue­re Sprach­wis­sen­schaft … alle Schrif­ten als erfun­den (betrach­tet)“. (S. 94).

Auch in der Frei­den­k­er­ge­schich­te haben sich eini­ge Akteu­re an Debat­ten über „Betrü­ge­rei­en“ etwa in der Bibel betei­ligt. Auch in der aktu­el­len Sze­ne gibt es ent­spre­chen­de Debat­ten, etwa über fal­sche Zeug­nis­se zum Leben Jesu. Zins­er meint, wer sich hier betei­ligt, bewegt sich inner­halb von Theo­lo­gie und Debat­ten in Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten. Er stellt fest: „Als ‘Fäl­schun­gen’ sind die Schrif­ten zu bezeich­nen, die von einer Reli­gi­ons­ge­mein­schaft nicht aner­kannt wer­den. Für den Glau­ben kommt es nicht auf eine Wahr­heit im Sin­ne der moder­nen Wis­sen­schaf­ten an, son­dern dar­auf, was von einer Reli­gi­ons­ge­mein­schaft als Offen­ba­rungs­text eines Got­tes aner­kannt ist. …[H]eilig ist das, was eine Reli­gi­ons­ge­mein­schaft als hei­lig erklärt“. (S. 102; vgl. auch S. 26 f., 88 f. u.a.; S. 26 f. wer­den sie­ben reli­gi­ons­wis­sen­schaft­li­che „Kri­te­ri­en für hei­li­ge Schrif­ten“ angeführt)

Fäl­schun­gen sind nach Zins­ers Ansicht inner­re­li­giö­se Fest­le­gun­gen, in die sich Reli­gi­ons­wis­sen­schaft nicht ein­mi­schen soll­te, nicht nur der unsi­che­ren Quel­len­la­ge wegen, je wei­ter man in die Ent­ste­hungs­ge­schich­te die­ser Tex­te und diver­ser Beschlüs­se zurück­ge­he, die sie „hei­lig“ sprechen.

Die Grund­idee der vor­lie­gen­den Stu­die geht über die Cha­rak­te­ri­sie­rung sol­cher Vor­gän­ge hin­aus, obwohl der Autor an vie­len Stel­len auf die Kon­se­quen­zen ver­weist, die es für jede wis­sen­schaft­li­che Beschäf­ti­gung mit Reli­gi­on bedeu­tet, kon­se­quent bestimm­te Regeln einer moder­nen Reli­gi­ons­wis­sen­schaft einzuhalten.

Zins­er geht es – und man muss sagen, in einer gerad­li­ni­gen, gut les­ba­ren und his­to­ri­schen Beweis­füh­rung, die auch vor Wie­der­ho­lun­gen nicht zurück­schreckt, wenn es um die Bekräf­ti­gung bestim­mer Aus­sa­gen geht – um eine „Revo­lu­ti­on in der Reli­gi­ons­ge­schich­te, die viel zu wenig von der Wis­sen­schaft erforscht wur­de.“ (S. 75)

Der geschicht­li­che Umbruch habe in dem „Wan­del des Kul­tus aus einem Opfer­sys­tem in einen Wort­got­tes­dienst“ bestan­den. „Die­se Trans­for­ma­ti­on kön­nen wir im Juden­tum in der Zeit des Zwei­ten Temp­les in der Dia­spo­ra, im frü­hen Chris­ten­tum und im frü­hen rab­bi­ni­schen Juden­tum beob­ach­ten. Für den Islam bil­de­te sie bereits eine Vor­aus­set­zung und seit der Uni­ver­sa­li­sie­rung und Glo­ba­li­sie­rung kön­nen wir deren Über­nah­me auch in ande­ren Reli­gio­nen, Hin­du­is­mus, Bud­dhis­mus beob­ach­ten.“ (S. 45)

Es ist die­se kul­tur­ge­schicht­li­che Wen­de in den Reli­gio­nen, die enor­me Fol­gen für die Gesell­schaf­ten hat­te und hat, in denen sie wir­ken. Die­ser Wan­del erzeug­te und erfor­der­te Kano­ni­sie­run­gen durch Ver­schrift­li­chung. „Hei­li­ge“ Schrif­ten ent­stan­den, wur­den absicht­lich pro­du­ziert, die nun der stän­di­gen Inter­pre­ta­ti­on und eines geschul­ten Per­so­nals bedurften.

Die grie­chi­schen Polis­re­li­gio­nen und die Römer kann­ten kei­ne „hei­li­gen“ Schrif­ten. Wäh­rend Ora­kel­sprü­che in der Regel viel­deu­tig und wider­sprüch­lich aus­fie­len, wur­de Gott nun für unver­füg­bar erklärt. Der Streit geht nun um Tex­te und deren Inter­pre­ta­ti­on, wes­halb man „viel­leicht statt von Kir­chen­ge­schich­te bes­ser von Aus­le­gungs­ge­schich­te spre­chen“ soll­te (S. 11).

Im Tem­pel wur­den Göt­ter ange­ru­fen, die hier ihr Haus hat­ten. Nun wird in Pre­dig­ten zu den Gläu­bi­gen gespro­chen, ihnen Got­tes Wort und Wil­le erklärt. Wäh­rend sich eine aus­ge­wähl­te Pries­ter­schaft (teils sogar in Erb­fol­ge) qua­si hin­ter den Kulis­sen an die Göt­ter wand­te, sind nun ganz anders aus­ge­bil­de­te (über­haupt: gebil­de­te, lese- und schreib­fä­hi­ge) Spe­zia­lis­ten nötig, die ihren Gemein­de­mit­glie­dern etwas erklä­ren. Zins­er zählt sechs Kon­se­quen­zen auf, die ein Wort­dienst hat gegen­über einem Opfer­dienst (vgl. S. 48–50), auf die er in den fol­gen­den Kapi­teln ein­geht. Dabei gibt er zugleich Ein­bli­cke in neue­re For­schun­gen und eine reich­hal­ti­ge Literatur.

Der Ertrag für eine moder­ne Reli­gi­ons­kri­tik – dafür steht der Alb­ri Ver­lag – ist wohl ein dop­pel­ter. Zum einen sehe ich ihn dar­in, dass eine wirk­li­che Reli­gi­ons­kri­tik die Aner­ken­nung von Reli­gio­nen als kul­tu­rel­le Tat­sa­chen vor­aus- und sich einer Inter­pre­ta­ti­on ent­ge­gen­setzt, die sie vor­ran­gig als „Wahn“ oder der­glei­chen wahrnimmt.

Zum ande­ren gibt Zins­er an vie­len Stel­len die Bot­schaft, dass die Ver­text­li­chung des als „hei­lig“ Ange­nom­me­nen, dass der Wort­ge­brauch die Tür zur Ver­nünf­tig­keit öff­net. Das Theo­lo­gi­sche ist immer in der Gefahr, für Wis­sen­schaft genom­men zu wer­den, je (auch his­to­risch) kon­kre­ter die Aus­sa­gen sind, die sich ratio­na­len Argu­men­ten stel­len müs­sen – dies nicht nur, weil „Spa­ten­wis­sen­schaf­ten“ (vgl. S. 51) ernst­lich Aus­gra­bun­gen vor­neh­men und „Hei­li­ges“ rela­ti­vie­ren, son­dern viel grund­sätz­li­cher: „Die Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten leis­ten [durch ihre schrift­lich erfol­gen­den, nach­les- und über­prüf­ba­ren Aus­le­gun­gen der Schrif­ten, HG] damit einen wich­ti­gen und häu­fig über­se­he­nen Bei­trag zur Ratio­na­li­sie­rung.“ (S. 10) Das betrifft auch den Islam (vgl. u.a. S. 106).

Horst Gro­schopp

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