Humanismus auf der Bühne

Der Titel der umfäng­li­chen, 2017 in Leip­zig (beim Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Die­ter Bur­dorf) ange­nom­men Dis­ser­ta­ti­on, ver­fasst von einem Autor, der in Damas­kus und Leip­zig Anglis­tik, Ger­ma­nis­tik und Poli­tik­wis­sen­schaft stu­dier­te, ver­spricht Ein­bli­cke in ein erfreu­li­cher­wei­se neu­er­dings zuneh­mend bear­bei­te­tes The­men­feld: Huma­nis­mus in der Nach­kriegs­zeit. Inwie­fern sich die­se Dis­kur­se in den Küns­ten, dar­un­ter der dra­ma­ti­schen Lite­ra­tur, spie­gel­ten, aus­drück­ten und eine beson­de­re Spra­che hat­ten, das ist eine offe­ne Frage.

Der Autor unter­sucht, „mit Blick auf den jeweils zugrun­de­lie­gen­den (ethisch-poli­ti­schen) Huma­nis­mus“, drei Huma­nis­men: (a) den christ­li­chen, (b) den sozia­lis­ti­schen und © einen ideo­lo­gie­frei­en Huma­nis­mus (S. 20). Dies geschieht anhand von je drei Autoren und ihren Haupt­wer­ken zuerst in West- (Bun­des­re­pu­blik), dann Ost­deutsch­land (also die DDR). Für den Wes­ten sind dies Bernt von Hei­se­l­er (Phil­ok­tet, 1947: Huma­nis­mus­ka­te­go­rie „a“), Man­fred Haus­mann (Die Zau­be­rin von Bux­te­hu­de, 1959: „a“) und Richard Hey (Weh dem, der nicht lügt, 1960/61: „c“); für den Osten ste­hen Her­mann Wer­ner Kubsch (Die ers­ten Schrit­te, 1950: „b“), Harald Hau­ser (Am Ende der Nacht, 1953: „b“) und Alfred Matu­sche (Die Dorf­stra­ße, 1955: „c“). Es wer­den jeweils wei­te­re Wer­ke der Autoren ange­führt und auf par­al­le­le Stü­cke ande­rer Autoren ver­wie­sen. Das ist grund­so­li­de Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, auch wenn mir per­sön­lich der Bezug auf Huma­nis­mus zu kon­stru­iert und zu wenig von Huma­ni­tät unter­schie­den erscheint. Dazu spä­ter eini­ge Anmerkungen.

Das vor­lie­gen­de Werk von Ala­li soll der Beför­de­rung einer Theo­rie des „lite­ra­ri­schen Huma­nis­mus“ die­nen. An einer sol­chen fehlt es tat­säch­lich, aber auch hin­sicht­lich ande­rer ästhe­ti­scher Aus­drucks­for­men. Dass Huma­nis­mus in der Lite­ra­tur erscheint, der wis­sen­schaft­li­chen wie der bel­le­tris­ti­schen, dass es eine viel­ge­stal­ti­ge huma­nis­ti­sche Lite­ra­tur mit lan­ger Geschich­te gibt, wird in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und in der Huma­nis­mus­for­schung viel­fach und mit gro­ßer Selbst­ver­ständ­lich­keit belegt. Doch dar­aus einen beson­de­ren „lite­ra­ri­schen Huma­nis­mus“ zu kon­stru­ie­ren, das ist eher sel­ten. Jan Patoč­ka hat sich dar­um bemüht. Das wird in sei­nem Sam­mel­band Ande­re Wege in die Moder­ne (2006) vom Her­aus­ge­ber Lud­ger Hage­dorn betont. Auch in der his­to­ri­schen Rhe­to­rik­for­schung kommt der Begriff vor.

Ala­li setzt die­se lan­ge Geschich­te vor­aus. Er for­mu­liert drei Annah­men: ers­tens, „dass der Huma­nis­mus sich ganz und gar an den Men­schen und des­sen Leben rich­tet. Der Mensch steht im Zen­trum des huma­nis­ti­schen Den­kens“ (S. 330); zwei­tens, „dass Lite­ra­tur und Huma­nis­mus eng mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Ihre Schnitt­men­gen wür­den es recht­fer­ti­gen, vom ‘lite­ra­ri­schen Huma­nis­mus’ zu spre­chen“ (S. 330); drit­tens, dass das „Kon­zept des ‘lite­ra­ri­schen Huma­nis­mus’ … die Lite­ra­tur und die Anthro­po­lo­gie“ zusam­men­bringt auf eine Wei­se, dass man an der „soge­nann­ten lite­ra­ri­schen Anthro­po­lo­gie anschlie­ßen“ (S. 331) kön­ne (in Anknüp­fung an Hel­mut Pfo­ten­hau­er, 1987).

Die­sen The­sen geht der Autor nach anhand von Befun­den in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und aus­ge­wähl­ter Büh­nen­dra­men. Er ent­wi­ckelt in sei­nem Schluss­ab­schnitt eine Art Kanon, was bei einer lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Theo­rie­bil­dung in einem „lite­ra­ri­schen Huma­nis­mus“ zu berück­sich­ti­gen wäre. Er schaut dabei näher auf die „ideo­lo­gi­sche Auto­no­mie“ und die „Rea­li­täts­nä­he“, um dann inner­halb der von ihm fest­ge­stell­ten „huma­nis­tisch enga­gier­ten Lite­ra­tur“ (S. 348 ff.) nach deren „kogni­ti­vem Wert“ und „gegen­wär­ti­gem Welt­bild“ zu fragen.

Am Ende kommt Ala­li zu dem Schluss, dass in „die­ser enga­gier­ten Lite­ra­tur … der Huma­nis­mus die Ober­hand“ habe, er der „Maß­stab“ sei, „der den Men­schen belehrt, ori­en­tiert und bil­det“. (S. 361) Dann folgt, mit wohl nicht ganz stim­mi­ger Inter­pre­ta­ti­on der Ein­füh­rung von Jörn Rüsen in das Buch Inter­kul­tu­rel­ler Huma­nis­mus (2009), die Kern­aus­sa­ge: „Das Enga­ge­ment im lite­ra­ri­schen Huma­nis­mus ist also nicht poli­tisch oder sozi­al, son­dern huma­nis­tisch geprägt. Nicht die Poli­tik, son­dern der Mensch ist der Aus­gangs­punkt und das Ziel der huma­nis­tisch enga­gier­ten Lite­ra­tur.“ (S. 362)

Das hebt Huma­nis­mus vom wirk­li­chen Leben ab und erhebt eine ihm die­nen wol­len­de Lite­ra­tur in höhe­re Shpä­ren des Ästhe­ti­schen. Der Autor kommt im Zuge sei­ner Dar­le­gun­gen nicht auf die Idee, dass die von ihm gefun­de­nen und bespro­che­nen Dra­men viel­leicht des­halb weit­ge­hend unbe­kannt geblie­ben sind, weil ihre Autoren neben den sozia­len wie poli­ti­schen Kon­flik­ten und ihren Huma­nis­mus-Dis­kur­sen, die die Men­schen ihrer Zeit beweg­ten, ihr Schick­sal suchten.

Dar­in liegt nach mei­ner Ansicht ein wesent­li­cher Grund, dass das aus dem Buch­ti­tel her­aus­les­ba­re Ver­spre­chen unein­ge­löst bleibt, Huma­nis­mus-Dis­kur­se auf­zu­zei­gen. Es kom­men in dem Buch min­des­tens zwei Maß­stä­be, das Huma­nis­ti­sche in den Dra­men zu beur­tei­len, zu kurz. Da ist zuerst der Blick auf die Vor­ge­schich­te und Vor­bil­der die­ser Dis­kur­se. Gera­de das Kapi­tel Lite­ra­tur im Drit­ten Reich (S. 24–33) erfasst das spe­zi­fisch Huma­nis­ti­sche, das zur Dis­kus­si­on stand, zu wenig. Für sie ste­hen nach wie vor die Namen und Wer­ke von Tho­mas und Hein­rich Mann, aber auch die Fül­le der ent­spre­chen­den Emi­gran­ten-Lite­ra­tur, wie sie in der Stu­die von Wal­ter A. Ber­end­sohn Die huma­nis­ti­sche Front (Zürich 1946) vor­ge­führt wurde.

Gera­de die Geschich­te die­ses Autors, die­ses Wer­kes, sein Ver­ständ­nis von Huma­nis­mus und wie damit umge­gan­gen wur­de, ver­wei­sen auf den zwei­ten mir zu wenig reflek­tier­ten Maß­stab: Das Hin­ein­ge­ra­ten der Debat­ten über Huma­nis­mus (in Rela­ti­on z.B. zum Sozia­lis­mus bzw. Kapi­ta­lis­mus) in die Gemenge­la­gen des Kal­ten Krie­ges, der deut­schen Tei­lung und der Sepa­rie­rung des Strei­tes über Huma­nis­mus in einen ost- und einen west­deut­schen nach 1948. Das Umfeld und das Ver­ständ­nis von der Sache änder­ten sich gegen­über denen zwi­schen 1935 und 1948. Dia­lo­ge – zumal deutsch-deut­sche – gin­gen in den 1950ern dras­tisch zurück. Argu­men­te zu nen­nen, war­um sie trotz­dem ver­gli­chen wer­den, ver­gleich­bar sind, wären wich­tig gewesen.

Der Autor sieht zwar völ­lig rich­tig, dass das Dra­ma der Nach­kriegs­zeit (die bei ihm bis zum Mau­er­bau 1961 reicht) „kei­nen ein­heit­li­chen Huma­nis­mus“ auf­weist, son­dern eine Rei­he von „welt­an­schau­lich-geis­tig-poli­tisch-kul­tu­rel­len huma­nis­ti­schen Bewe­gun­gen (Men­schen­bil­der), die sich oft gegen­sei­tig ver­drän­gen und mit­ein­an­der ver­mi­schen“ (S. 13 f.). Aber sein eige­nes Ver­ständ­nis von „Huma­nis­mus“ ist zu all­ge­mein als „das Mensch­li­che“ defi­niert („eine huma­nis­ti­sche, am Men­schen ori­en­tier­te enga­gier­te Lite­ra­tur“, S. 361), um die Nuan­cen und Unter­schie­de, beson­ders die Funk­tio­nen und Dimen­sio­nen von „Huma­nis­mus“ gera­de in die­ser Zeit erfas­sen zu können.

Ala­li führt Hubert Can­cik, Mar­tin Heid­eg­ger, Wer­ner Jae­ger, Jac­ques Mari­tain, Ulrich Muh­lack, Juli­an Nida-Rüme­lin und ande­re an, um „Huma­nis­mus“ zu bestim­men (vgl. S. 53 ff.), aber schon hier hät­te er wesent­li­che Unter­schie­de bei den Autoren her­aus­fil­tern und sehen kön­nen, dass sich dar­aus je ande­re Sicht­wei­sen schon auf die drei Huma­nis­mu­sepo­chen erge­ben, die er unter­schei­det: Renais­sance, Neu­hu­ma­nis­mus, Huma­nis­mus im 20. Jahr­hun­dert, ganz abge­se­hen von den drei von ihm unter­such­ten Huma­nis­men in den Dramen.

Wenn, wie es im Klap­pen­text heißt, Huma­nis­mus nur am Men­schen ori­en­tiert sein kann, so zeigt ja gera­de die Ana­ly­se des Theo­lo­gen Karl Barth, dass es, wie er 1950 mein­te, einen „christ­li­chen Huma­nis­mus“ gar nicht geben kann. Das sei ein „höl­zer­nes Eisen“. Selbst wenn man die­se Mei­nung nicht teilt, wäre dar­auf zu ver­wei­sen, wenn die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Haus­mann und Barth in die Betrach­tung kommt und es um Huma­nis­mus geht in Haus­manns Zau­be­rin von Bux­te­hu­de (vgl. S. 172 ff.).

Die hier an dem Buch von Ala­li geäu­ßer­te Kri­tik soll­te nie­mand davon abhal­ten, der oder die die­se Zeit, die deutsch-deut­schen Kunst­sze­nen und den Huma­nis­mus­streit der Nach­kriegs­zeit unter­sucht, zu die­sem Werk zu greifen.

Doch zwei abschlie­ßen­de Hin­wei­se kann ich mir nicht ver­knei­fen. Die für die DDR genann­ten drei Autoren Her­mann Wer­ner Kubsch, Harald Hau­ser und Alfred Matu­sche gehör­ten dort kei­nes­wegs zu den in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft weit­ge­hend unbe­kann­ten Per­so­nen. Das bele­gen allein schon die ent­spre­chen­den und durch­aus zahl­rei­chen Stel­len in einem Stan­dard­werk, der Geschich­te der Deut­schen Lite­ra­tur von 1977, 11. Band, Lite­ra­tur der DDR, her­aus­ge­ge­ben von Horst Haa­se, Hans Jür­gen Geerdts, Erich Küh­ne und Wal­ter Pal­lus. Horst Haa­se wur­de 1964 Pro­fes­sor für Lite­ra­tur­wis­sen­schaft in Leip­zig, dem Ort, an dem Ala­li jüngst pro­mo­vier­te – lei­der lag die­se Uni­ver­si­tät damals in der DDR. Wal­ter Pal­lus ver­öf­fent­lich­te in Ost­ber­lin gemein­sam mit Gun­nar Mül­ler-Wal­deck 1986 den fak­ten­rei­chen Sam­mel­band Neu­an­fän­ge. Stu­di­en zur frü­hen DDR-Lite­ra­tur. Im Lite­ra­tur­ver­zeich­nis von Ala­li (S. 363–386) sucht man die­se und ähn­li­che Stu­di­en vergebens.

Emad Ala­li: Der Huma­nis­mus-Dis­kurs im Dra­ma der Nach­kriegs­zeit. Der Bei­trag eini­ger unbe­kann­ter Dra­ma­ti­ker zur Neu­for­mung des „brü­chi­gen“ Men­schen. Würz­burg: Ver­lag Königs­hau­sen & Neu­mann 2018, 386 S. (Epis­te­ma­ta Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, Band 903) ISBN 978–3‑8260–6585‑9

 

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