Definition und Umfangsbestimmung
Humanismusunterricht ist die Information und Unterweisung von Kindern und Erwachsenen in Prinzipien und Wissensbestände, Theorie und Geschichte des Humanismus. Dabei sind verschiedene Diskussions‑, Handlungs- und Ergebnisebenen zu unterscheiden. Besonders das persönliche Erleben gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen wirkt unterrichtend. Folgen die Wertgefüge, Normen, Gesetze, Einrichtungen, Regeln, Rituale (Feier/Fest) humanistischen Standards, können sie eine sozialisierende Funktion in Richtung Humanisierung haben.
Menschen werden in erster Linie durch ihre Lebensbedingungen „geschult“. Beförden diese Umstände Verfahrensweisen des Argumentierens und der Mediation, das Vertrauen in Freundschaft, Liebe oder Zweifel, bewusstes Gesundheitsverhalten sowie die Anerkennung der Menschenrechte und Menschenwürde, inklusive der unterschiedlichen ethnischen oder sexuellen Prägungen, können solche Lernvorgänge als humanistische Bildung wirken.
Humanismusunterricht ist Kernbestand des Bildungswesens. So hat Humanismus als Leitidee vom „ganzen Menschen“ im 19. Jahrhundert zur Entstehung eines Schulwesens [Humboldt 1948] beigetragen. Dieses erstreckte sich schließlich auch auf Kinder in den Unterschichten und führte zur weitgehenden Alphabetisierung der Bevölkerung. Humanismus (Antike-Rezeption) hat zudem viele Einrichtungen initiiert (Museen, Bibliotheken, Volkshochschulen), die direkt oder indirekt humanistische Unterweisungen betreiben durch Ausstellungen, Bücher oder Kurse. „Humanistische Gymnasien“ hatten und haben in diesem Kontext eine herausgehobene, aber historisch abnehmende Stellung. Auch die modernen Medien wie Radio, Film, Fernsehen, Telefonie und Internet können humanisierend wirken.
Ideen und Zeugnisse des Humanismus sind zudem Gegenstände bestimmter Schulfächer (etwa im Geschichts‑, Musik- und Literaturunterricht). Reformen des Religionsunterrichts, Einführung von Moral- und (später) Ethikunterricht, Reformpädagogik [Keim/Schwerdt 2013] und moderne Methoden der Bildung (Koedukation und altersgemäße Didaktik oder neue Fächer wie Sexualkunde) haben den Humanismus befördert und die Vorstellungen von dem, was er ist, erweitert.
Es hat im 20. Jahrhundert diverse Ansätze gegeben, einen „Humanistischen Unterricht“ als besonderes Fach, als Orientierung für andere Fächer und als diskursive Methode an Schulen einzuführen. Teils gingen diese Pläne aus pädagogischen Bestrebungen hervor, Menschen zur Humanität zu erziehen und sie von früh auf mit humanistischem Bildungsgut auszustatten, vor allem, um eine humanistische Ethik zu entfalten.
Resultat einer darauf gerichteten Kulturpolitik war in den 1920er Jahren das Schulfach „Lebenskunde“. 1957 kam es in Westberlin zur Wiederzulassung [Groschopp/Schmidt 1995; Warnke 1897]. Träger wurde der dortige Freidenkerverband (Freidenkerbewegung). Die grundsätzliche staatliche Entscheidung bestand darin, dass „Lebenskunde“ kein neutraler Sachunterricht sein durfte im Sinne einer religionskundlichen bzw. ethischen Unterweisung, sondern eine Weltanschauung zu vermitteln hatte, vergleichbar dem Religionsunterricht.[Fn 1] Das Fach blieb jedoch im Kalten Krieg bis zu seiner Wiedereinführung 1984 erfolglos.
Heute ist „Humanistische Lebenskunde“ in den Bundesländern Berlin und Brandenburg eine Alternative zum Religionsunterricht. Das Fach wird von der Weltanschauungsgemeinschaft „Humanistischer Verband Deutschlands“ (HVD), der 1993 aus der Freidenkerbewegung hervorging, in allen Schulstufen angeboten. Oft gibt es Verwechslungen mit dem „Ersatzfach“ Ethik, das in anderen Bundesländern gelehrt wird und in Berlin ein pflichtiges Fach für Schülerinnen und Schüler ab der 6. Klasse ist. In Nürnberg (Bayern) wird dieses Fach an einer dortigen humanistischen Privatschule vom HVD unterrichtet.
Ein anderer historischer Strang führte 1996 zum Brandenburger Schulfach „Lebensgestaltung/Ethik/Religionskunde“. Dieses hat den Status, der in den 1950er Jahren für Berlin abgelehnt wurde – allerdings nur „halb“, weil eine Abwahlmöglichkeit für Kinder besteht, die den Religionsunterricht besuchen. Zudem ist der Anteil von Humanismus an den Lehrstoffen nicht besonders groß.
Generell besteht im deutschen Schulsystem das Problem, welcher Unterricht als Ersatz für oder Alternative zu Religion für „Konfessionsfreie“ staatlicherseits angeboten bzw. „freien Trägern“ an öffentlichen Schulen erlaubt wird [Fauth 1999; Mueller 2002].[Fn 2]
Von den soeben beschriebenen Angeboten gänzlich unterschieden ist der „Lebenskundliche Unterricht“ in der Bundeswehr. Unter dem Begriff „Lebenskunde“ finden sich darüber hinaus Gesundheitslehren, Volkskundestudien und Ratschlagliteratur.
Elementare Voraussetzungen
Im 18. Jahrhundert gab es in einigen deutschen Ländern Verpflichtungen zum Besuch der Volksschule, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausgeweitet wurden. Mit einem enormen Anschub während der Preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Schulpflicht üblich und verlängert. Nachdem 1871 die allgemeine Schulpflicht für ganz Deutschland eingeführt war, entstand ein staatlicher Sektor zur Unterrichtung und Erziehung der nachwachsenden Generation [Hubatsch 1977].
Im staatlichen Bildungssystem vermittelte die Volksschule ein Minimum an intellektueller Bildung für alle. Ihr Betrieb wurde zwischen Staat, Städten und Gemeinden aufgeteilt. Die Volksschullehrer galten als „Gemeindediener“. Ihre Ausbildung wie die Schulaufsicht war noch bis zum Ersten Weltkrieg wesentlich eine Aufgabe der christlichen Kirchen. Die Sicherung des Schulzwangs oblag dem Gendarmen. Staatssache wiederum war es, die inhaltliche und politische Ausrichtung des Schulwesens vorzugeben und den Teil der Finanzen zu begleichen, der die Kraft der Gemeinden überstieg [Lundgreen 1980].
Das Bildungswesen emanzipierte sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts schrittweise von der Kirche, nachdem in einigen bürgerlichen Oberschichtengruppen die Pflicht zur christlichen Erziehung zweifelhaft und Religionsfreiheit bzw. Toleranz eingefordert wurde. Das Verbreiten nützlicher Kenntnisse im Schreiben, Lesen, Rechnen und Zeichnen überflügelte mit der Zeit das Angebot zur Glaubensvermittlung. Neue Schulformen und Fächer widmeten sich den „Realien“. Resultat war die allmähliche Professionalisierung und Säkularisierung des Lehrerberufs [Bölling 1983]. Religionsunterricht wurde ein Fach neben anderen.
Die weitere staatliche Anbindung der Bildung wurde seitens der Schulreformer unterstützt und mit der Forderung verknüpft, die Pädagogik freizugeben. Begründet wurde dies vor allem mit den Ideen Pestalozzis, die das Primat von Bildung und Erziehung nicht in der Nützlichkeit der Untertanen für den Staat sahen, sondern in der Entfaltung des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Pädagogik konnte sich in der Folge tatsächlich relativ unbehindert entfalten – in ihrer Methodik und Systematik, nicht in ihrem Auftrag und ihren Inhalten.
Nach weitgehender Sicherung einer Elementarbildung, die vor allem der Industrialisierung diente, kam es Ende des 19. Jahrhunderts in einigen bürgerlichen Gruppen zu einer Rückbesinnung auf den Humanismus und den Wahlspruch der Aufklärung – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Er steht in der 1783 erschienenen Schrift von Immanuel Kant „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“
Als Startsignal für alle künftigen Bemühungen, einen Humanismusunterricht zu etablieren, kann eine Schrift des Philanthropen Johann Bernhard Basedow gesehen werden, der 1770 ein Buch veröffentlichte „Methodischer Unterricht der Jugend in der Religion und Sittenlehre der Vernunft nach dem in der Philalethie angegebenen Plane“. Unter dem Titel ist eine Zeichnung zu sehen, auf der eine die Vernunft darstellende Frau mit erhobenem Arm zwei Kinder belehrt. Unter der Zeichnung ist das Motto platziert: „Denket selbst.“ Damit wurde ein jahrtausendealtes Leitmotiv sokratischen Denkens einem Bildungsplan und seitdem verschiedenen Schulinitiativen zugrunde gelegt.
Das geistige Bindeglied zwischen den „Klassikern“ der Aufklärung und den Ansätzen zu einer humanistischen Pädagogik findet sich in den Werken des Bildungsreformers und ‑historikers Friedrich Paulsen [Paulsen 1885; Paulsen 1906; Stüttgen 1993]. Er beriet die ethische Kulturbewegung unmittelbar, in der die Ideen zu einem Ethik- und Humanismusunterricht und einem Fach „Lebenskunde“ nach 1892 entstanden. Der Begriff „Neuhumanismus“ war Paulsens Kreation. Der erste Band seiner „Geschichte des gelehrten Unterrichts“ trägt den Untertitel „Der gelehrte Unterricht im Zeichen des alten Humanismus 1450–1740“.
Die Debatte über einen Humanismusunterricht bekam mit der Gründung des der Freidenkerbewegung nahestehenden und aus der „Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur“ (1892) hervorgegangenen „Deutschen Bundes für weltliche Schule und Moralunterricht“ 1906 eine neue Dimension [Groschopp 2011, S. 149–165, 243–264]. Sie verband sich mit Fragen nach der Zukunft des Faches Religion und dessen möglicher Ersetzung durch einen lebenskundlich orientierten Unterricht. Diese Debatten sind wesentlich verbunden mit dem politischen und theoretischen Wirken des in mehreren freidenkerischen und humanistischen Organisationen führend tätigen Pädagogen für „Schwererziehbare“ Rudolph Penzig (1855–1931) [Groschopp 2001].
Die Diskussion erstreckte sich nach 1890 über verschiedene Gegenstände [Eggers 2001]. Es äußerten sich Lehrer, Philosophen und Theologen [Wermke 2010], etwa zur Reform des Religionsunterrichts. Darunter finden sich Absichten einiger christlich-reformerischer Minderheitsgruppen, dieses Fach zu entstaatlichen und außerhalb der staatlichen Schulen auf freiwilliger Basis anzubieten bis hin zu einer „Evangelischen Lebenskunde“ (Religions- als Lebensunterweisungsunterricht auf der Basis eines erneuerten Christentums). „Lebenskunde“ als Schulfach wie als Lehrmethode wurde um 1900, besonders aber in der Weimarer Republik, Teil des reformpädagogischen Erneuerungsdiskurses über das Schulwesen und die Schaffung reformpädagogischer Sonderschulen (Gemeinschafts‑, aber auch Lebensgemeinschaftsschulen).
Lebenskunde
Definition, Begriffsherkunft, Unterscheidungen
Lebenskunde ist Humanismusunterricht, seit 1984 freiwilliges Schulfach in Berlin (2014: 55.664 Schüler/-innen; 344 Lehrkräfte, davon 224 HVD-Verbandsangestellte) und seit 2007 in Brandenburg (2014: 1.990 Schüler/-innen; 33 Lehrkräfte, davon drei staatlich angestellt). Das Fach wird in Berlin zu 90 % der Personalkosten öffentlich bezuschusst. Das waren 2014 etwa 15 Millionen Euro.[3]
Zugleich ist Lebenskunde eine Streitkategorie in Bezug auf Moral‑, Weltanschauungs- und Religionsunterricht und ein schillernder Begriff mit unterschiedlichen Verwendungen. Parallelen finden sich vor allem in Belgien und den Niederlanden.
Der Begriff geht zurück auf den Reformpädagogen Friedrich Wilhelm Foerster [Foerster 1904] und die Bestrebungen der ethischen Kulturgesellschaften („Humanistengemeinden“) um staatliche Akzeptanz einer konfessionsfreien Jugenderziehung [Groschopp 2014]. In diesem historischen Kontext wurde Lebenskunde nach 1892 [Adler 1892], besonders nach 1901 („Liga für Moralunterricht“) zum Leitwort im Streit für ethische Erziehung, humanistische Bildung und „weltliche“ Wertevermittlung in der Schule. Sie wurde zuerst 1920 in Berlin ein Schulfach, dann in anderen preußischen Städten in „Sammelschulen“, in denen Kinder unterrichtet wurden, deren Eltern Religionsunterricht ablehnten. Diese im Volksmund „weltlichen Schulen“ standen im ständigen Konflikt mit den Behörden und den christlichen Simultan- bzw. den katholischen und evangelischen Bekenntnisschulen.
Diskursgeschichte
Zwischen 1890 und 1919 wurden mit dem Begriff Lebenskunde im Umfeld des „Deutschen Bundes für weltliche Schule und Moralunterricht“ [Börner 1909] mehrere Schulprobleme diskutiert: Befreiung der ‚Dissidentenkinder“ vom Religionsunterricht [Voelkel 1894]; Vorbereitungsunterricht auf die Jugendweihe [Krapp 1977]; Ersatzfach ‚Lebens- und Religionskunde“ anstelle Religionsunterricht [Penzig 1917] sowie sittliche und staatsbürgerliche Unterweisungen [Unold 1912]. Praktische Bestrebungen gab es in der Weimarer Republik in nahezu allen Ländern, stark entwickelt in Preußen und Sachsen. Auch ging es um ein Fach „Bürgerkunde“, sei es als Staatsbürger- oder als Sozialkunde (seit den 1960er Jahren: Sozialkunde, Politische Bildung oder Gemeinschaftskunde in der Bundesrepublik).
Mit der Freidenkerbewegung und deren Rezeption der Natur‑, Sozial- und Kulturwissenschaften sowie des Marxismus kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Forderungen nach einem wissenschaftlichen Weltanschauungsunterricht auf, die auch die 1920er Jahre prägten und in den 1950er Jahren in Teile des Konzepts der DDR-Staatsbürgerkunde eingingen. Eine Verankerung von Lebenskunde in der Weimarer Reichsverfassung misslang. Da auch das versprochene „Reichsschulgesetz“ ausblieb [Groschopp 2006; Schmidt 2009], wandte sich Lebenskunde kämpferisch gegen Religionsunterricht.
Als reformpädagogisches Prinzip sollte Lebenskunde auch anderen Unterricht an den „weltlichen Schulen“ leiten und wurde nun oft gedacht als kulturkundliche Bildung und ‚Lebensanschauungsunterricht“ [Piltz 1923], der weltanschauliches Nachdenken anregen und die Selbstentscheidung der Kinder fördern [Hädicke 1929], aber bei vielen Linken als ‚praktisch angewandte Soziologie“ auch Sozialismus voranbringen sollte [Siemsen 1932, S. 238].
Teil der Bemühungen um die Staat-Kirche-Trennung im Bildungswesen in der Weimarer Republik war die Einrichtung ‚weltlicher Schulen“.[Fn 4] Das war der umgangssprachliche Ausdruck für „Sammelschulen“, an denen diejenigen „Dissidentenkinder“ konzentriert unterrichtet wurden, deren Eltern Religionsunterricht ablehnten. Die deutschlandweite Geschichte dieses Schultyps ist, wie der gesamte Humanismusunterricht, wenig erforscht. Die erste dieser Schulen entstand 1920 in Berlin-Adlershof. Lebenskunde als Fach ist im gleichen Jahr für Berlin-Lichtenberg erstmals belegt. Beide Neuerungen kamen erst nach harten politischen Kämpfen (z. B. Streikaktionen) zustande [Groschopp 2006]. Organisator war im Wesentlichen die freidenkerische „Freireligiöse Gemeinde Berlin“ um Adolph Hoffmann [Schmidt 1998; Schmidt 2009].
Ende der 1920er Jahre gab es in Preußen etwa 240 weltliche Schulen mit 96.000 Schülern (das war 1 % aller im Reichsgebiet), in wenigen Großstädten konzentriert. Berlin zählte allein 52 Schulen. 1933 wurden diese sofort geschlossen, die Lehrer vor den Schülern gedemütigt und in der Regel entlassen. Der „Bund Deutscher Evangelischer Lehrer und Lehrerinnen“ begrüßte am 13. März 1933 in einem Brief an das Preußische Kultusministerium diese Maßnahme, und jubelte: „Das Ende des Humanismus ist da! Schluss mit dem Individualismus!“ [Schmidt 2001, S. 47]
Ab Juni 1933 wurde Lebenskunde im Sinne des Antihumanismus rassistisch definiert [Müller 2001] und zum weltanschaulichen Teil des Faches Biologie, vor allem in der Mittelstufe [Herrmann/Köhn 1940]. Es geschah dies in Anlehnung an völkische Vorstellungen [Unold 1924; Lehrplan 1932] und solche der „Ludendorff-Bewegung“, „Bund für Deutsche Gotterkenntnis“, vormals „Deutschvolk“ und „Tannenbergbund“ (1933–1937 verboten). Bis Ende der 1990er Jahre unterhielt dieser rechtsextreme Verein einen „Arbeitskreis für Lebenskunde“ und organisierte einen „Lebenskunde-Unterricht“, Jugendveranstaltungen, Ferienlager und Wanderungen.
Größere akademische Forschungen zur Lebenskunde fehlen nahezu gänzlich, und zwar hinsichtlich möglicher Traditionen im Humanismus, zur schulischen Praxis, zu wichtigen Personen, zur Geschichte in den deutschen Ländern und zum Vergleich mit verwandten Fächern: Ethik, Praktische Philosophie, Normen und Werte.
Humanismusverständnis in der Lebenskunde
Das Humanismusverständnis in der Lebenskunde geht davon aus, dass es keinen vorgegebenen Sinn des Lebens gibt, aber Menschen ihrem Leben einen Sinn zu geben vermögen [Schulz-Hageleit 1999; Osuch 2012]. Dabei sind die Wissenschaften Hilfsmittel, moralisches Handeln zu verstehen und eigene Positionen im Alltag wie in existenziellen Situationen auszubilden. Im Mittelpunkt des Humanismusunterrichts stehen die Würde jedes einzelnen Menschen und ihre Wünsche, gut zu leben. Lebenskunde versucht, bei den Kindern Kraft für Toleranz und Solidarität auszuprägen und ihnen zu helfen, jedem Dogmatismus und religiösem Fanatismus zu widerstehen.
Didaktik der Humanistischen Lebenskunde
Die Didaktik der Lebenskunde ist in einem öffentlich verfügbaren „Rahmenlehrplan“ fixiert. Sie soll helfen, altersgerecht den Glauben Anderer verstehen und verstandesmäßig erfassen zu lernen sowie eigene Haltungen auszubilden. Sie orientiert sich [Schulz-Hageleit 1995; Adloff 2010] an Traditionen der Reformpädagogik: sinnliches Begreifen, Projektarbeit, offener Unterricht, Dialektik von Ergebnis und Prozess, Wechsel der Aktions- und Erarbeitungsformen, das Anerkennen „unbewusster“ Dimensionen in der Lehr-Lern-Dynamik sowie sensibler Umgang mit Ängsten, Gefühlen, Wünschen und Hoffnungen.
Lernziele sollen nach dem Spiralprinzip erreicht werden. Sie gruppieren sich um folgende Lernfelder: Individuum im sozialen Umfeld (Werte und Normen anhand familiärer Erfahrungen und eigener Freundschaften, Interessenkonflikte und moralische Dilemmata); Verantwortung der Menschen für Natur und Gesellschaft (Entwicklung und Zukunft des Lebens, die eigene Verantwortung, ökologische Probleme, soziale Gerechtigkeit); Weltdeutungen und Menschenbilder; Humanität.
Gegenstände der Lebenskunde sind anhand jeweils konkreter Beispiele Lebensfreude und Glück, Phantasie und Realität, Mythen und Geschichte, Umwelt und Umweltschutz, Gottesvorstellungen und Kulte, ausländischer Nachbar und multikulturelle Gesellschaft, Eifersucht und Trennungsschmerz, Liebe und Sexualität, das Oben und Unten in der Gesellschaft, Gewalt und Menschenrechte. Die Erfahrungen der Kinder werden diskutiert.
Angeführte Literatur
Adler, Felix (1892): „Rede, gehalten in einer Versammlung im Victoria-Lyceum zu Berlin am 7. Mai 1892.“ In: Die ethische Bewegung in Deutschland. Vorbereitende Mitteilungen eines Kreises gleichgesinnter Männer und Frauen zu Berlin. 2., vermehrte Auflage. Berlin.
Adloff, Peter (2010): Nach Sinn fragen. Eine fachdidaktische Studie für die Humanistische Lebenskunde und den Ethikunterricht. Berlin.
Bode, Fritz (1993): Der Brandenburgische Modellversuch Lebensgestaltung/Ethik/Religion. Versuch einer kritischen Betrachtung. In: Berichte und Standpunkte 2. Pinneberg, S. 10–22.
Bölling, Rainer (1983): Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Ein Überblick von 1800 bis zur Gegenwart. Göttingen.
Börner, Wilhelm (1909): Dr. Fr. W. Foerster und seine ethisch-religiösen Grundanschauungen. Wien.
Eggers, Gerd (2001): „Lebenskunde als allgemeinbildendes Schulfach im 20. Jahrhundert.“ In: Ha 5, S. 12–25.
Fauth, Dieter (1999): Religion als Bildungsgut. Bd. 2: Sichtweisen weltanschaulicher und religiöser Minderheiten. Würzburg.
Foerster, Friedrich Wilhelm (1904): Lebenskunde. Ein Buch für Knaben und Mädchen. Berlin.
Groschopp, Horst (2001): Rudolph Penzig. In: Norbert Mette/Folkert Rickers (Hrsg.): Lexikon der Religionspädagogik. Bd. 2. Neukirchen Vluyn, Sp. 1481–1483.
Groschopp, Horst/Schmidt, Michael (1995): Lebenskunde. Die vernachlässigte Alternative. Zwei Beiträge zur Geschichte eines Schulfaches. Berlin.
Groschopp, Horst (2006): „Zum Kulturkampf um die Schule. Historische Anmerkungen zum Berliner Streit um den Religionsunterricht“. In: Jahrbuch für Pädagogik 2005: Religion, Staat, Bildung. Frankfurt am Main, S. 225–234.
Groschopp, Horst (2011): Dissidenten. Freidenker und Kultur. Marburg.
Groschopp, Horst (2014): „Die drei berühmten Foersters und die ethische Kultur. Humanismus in Berlin um 1900“. In: Horst Groschopp (Hrsg.): Humanismus und Humanisierung. Aschaffenburg, S. 157–173.
Hädicke, Gustav (1929): Arbeitsplan für den Unterricht in Lebenskunde. Berlin.
Herrmann, Fritz/Köhn, Walter (1940): Lebenskunde für Mittelschulen. Frankfurt am Main.
Hubatsch, Walther (1977): Die Stein-Hardenbergschen Reformen. Darmstadt.
Humanistischer Verband Deutschlands, Landesverband Berlin (Hrsg.) (2008): Vorläufiger Rahmenlehrplan Humanistische Lebenskunde. Berlin. Einsehbar unter http://www.lebenskunde.de/rahmenlehrplan, besucht am 14.5.2015.
Humboldt, Wilhelm von (1948): Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792/1793). Leipzig.
Keim, Wolfgang/Schwerdt, Ulrich (Hrsg.) (2013): Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933). Teil 1: Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse. Teil 2: Praxisfelder und pädagogische Handlungssituationen. Frankfurt am Main.
Krapp, Gotthold (1977): Die Kämpfe um proletarischen Jugendunterricht und proletarische Jugendweihen am Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zu den Anfängen der sozialistischen Erziehung der Arbeiterkinder in der zweiten Hauptperiode der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Berlin.
Lehrplan der Lebenskunde für Deutschvolk-Jugend (1932). München.
Lundgreen, Peter (1980): Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick. Teil I: 1770–1918. Göttingen.
Müller, Eckhard (2001): „Zum lebenskundlichen (biologischen) Unterricht im Nationalsozialismus“. In: Ha 8, S. 59–64.
Mueller, Volker (2002): Werteerziehung in der Schule – LER und Alternativen zum Religionsunterricht. In: Berichte und Standpunkte 16. Hannover.
Osuch, Bruno (2012): „Humanistische Lebenskunde. Traditionen und Perspektiven einer besonderen Alternative zum Religionsunterricht in Berlin und Deutschland. Eine politisch-historische, verfassungsrechtliche und pädagogische Studie“. In: Karl Hardach (Hrsg.): Internationale Studien zur Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt am Main, S. 785–817.
Paulsen, Friedrich (1885): Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. 2 Bde. Leipzig.
Paulsen, Friedrich (1906): Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Entwickelung. Mit einem Geleitwort von Wilhelm Münch. Leipzig.
Penzig, Rudolph (1917): Religionsunterricht oder Moralunterricht. München.
Piltz, Franz (1923): Geist und Gestaltung des Unterrichts in der Lebenskunde. Leipzig.
Schmidt, Michael (1998): „Vom Jugendunterricht zur Lebenskunde. Der Beitrag der Freireligiösen Gemeinde zur Entstehung eines wertevermittelnden Schulfachs für Dissidentenkinder“. In: ‚Kein Jenseits ist, kein Aufersteh“n“. Freireligiöse in der Berliner Kulturgeschichte. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Prenzlauer Berg Museum Berlin vom 7. Juli 1998 bis 31. Januar 1999. Konzeption und Redaktion: Horst Groschopp. Kulturamt Prenzlauer Berg (Hrsg.). Berlin, S. 91–102.
Schmidt, Michael (2009): „Adolph Hoffmann und die Trennung von Schule und Kirche in der Novemberrevolution“. In: Horst Groschopp (Hrsg.): „Los von der Kirche!“ Adolph Hoffmann und die Staat-Kirche-Trennung in Deutschland. Texte zu 90 Jahre Weimarer Reichsverfassung. Aschaffenburg, S. 109–127.
Schulz-Hageleit, Peter (1995): Bausteine einer Didaktik des Lebenskunde-Unterrichts. Berlin.
Schulz-Hageleit, Peter (Hrsg.) (1999): Lernen unter veränderten Lebensbedingungen. Frankfurt am Main.
Siemsen, Anna (1932): „Christliche Ethik und Lebenskunde“. In: Aufbau 8, S. 236–239.
Stüttgen, Dieter (1993): Pädagogischer Humanismus und Realismus in der Darstellung Friedrich Paulsens. Alsbach.
Warnke, Gerald (1997): Lebenskundeunterricht. Geschichte und Perspektive des humanistischen Unterrichts in der Schule. Berlin 1997.
Unold, Johannes (1912): Entwurf eines Lehrplanes für eine deutsche Lebens- und Bürgerkunde. München.
Unold, Johannes (1924): Weisheit des Germanen. Leipzig.
Voelkel, Titus (1894): Sollen Dissidentenkinder gezwungen werden, am Schul-Religionsunterricht teilzunehmen? Berlin.
Wermke, Michael (Hrsg.) (2010): Brüche, Kontinuitäten, Neuanfänge. Religionspädagogik und Reformpädagogik. Jena.
Fußnoten
[1] Zu diesem Zeitpunkt hatten die deutschen Freidenker den Humanismus noch nicht „entdeckt“, es ging vielmehr noch um eine „freidenkerische Weltanschauung“, die sich als wissenschaftlich fundiert verstand in starker Anlehnung an die verbandstradierte Religionskritik und die dabei gewonnenen Positionen seit den 1920er Jahren.
[2] Ein kurzer Überblick hinsichtlich der „Ersatzfächer“ in Deutschland für Anfang der 1990er Jahre, bisher wenig verändert, findet sich bei Bode 1993, S. 11–13.
[3] Ab Herbst 2015 ist der Zuschuss für alle Anbieter aufgestockt worden. Damit sandte der Berliner Senat ein politisches Signal der Gleichbehandlung von Religion und Weltanschauung in den Schulen.
[4] Wahrscheinlich waren sie die Ideengeber für die im Grundgesetz der Bundesrepublik Artikel 7,3 von den Verfassern vorgesehenen „bekenntnisfreien Schulen“ ohne Religionsunterricht, für die es in der Realität aber keine Entsprechungen gibt.
Quelle:
Horst Groschopp: Humanismusunterricht/Lebenskunde. In: Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf (Hrsg.): Humanismus: Grundbegriffe. Berlin/Boston 2016, S. 215–225.
Zum Titelbild:
Der Philanthrop Johann Bernhard Basedow (1724–1790) hat 1764 ein Buch mit folgendem Titel herausgegeben: Methodischer Unterricht der Jugend in der Religion und Sittenlehre der Vernunft nach dem in der Philalethie angegebenen Plane. Unter diesem Titel ist eine Zeichnung zu sehen, auf der eine die Vernunft darstellende Frau mit erhobenem Arm zwei Kinder belehrt. Unter der Zeichnung ist das Motto platziert: Denket selbst. Diese Aufforderung gab dann im Jahr 2000 einer Ausstellung aus Anlass von 80 Jahre Lebenskunde in Berlin-Johannisthal den Titel.
Bild 1: Berliner Schuldemonstration Anfang der 1920er Jahre für weltliche Schulen. Hintergrund: Im Jahre 1920 und 1921 forderten Eltern wie Kinder die weltlichen Schulen. Vor allem um die Einsetzung des Dissidenten und sozialdemokratischen Schulreformers Kurt Löwenstein (1885–1939) als Stadtschulrat von Neukölln war eine lange und heftige Auseinandersetzung entbrannt. Der Elternbeirat des Staatlichen Gymnasiums bezog gegen ihn Stellung: »Er ist Atheist, und dadurch, wie auch durch seine jüdische Abstammung für den Posten des Oberschulrats an hauptsächlich christlichen Schulen vollkommen ungeeignet.« (Neuköllner Tageblatt vom 23. September 1920). Löwenstein wurde am 14. Februar 1921 von den sozialdemokratischen und kommunistischen Bezirksverordneten der Neuköllner Bezirksversammlung auf zwölf Jahre zum besoldeten Stadtrat gewählt.
Quelle Bild: Kulturhistorisches Archiv des HVD BB
Quelle “Hintergrund”: Dokumentation der Ausstellung
Bild 2: Einschulung an der weltlichen Schule Halle [Saale]-Nord zweite Hälfte 1920er Jahre
Quelle: Kulturhistorisches Archiv des HVD BB