Kulturelle Ächtung – eine Rezension

Ausgrenzende politische Ideologien

In nahe­zu allen Rega­len mit Lebens­mit­teln liegt ein Brot mit dem Namen „Lie­ken Urkorn“. Es han­delt sich dabei um ein ver­bes­ser­tes „Sie­mens­brot“. Die­ses wie­der­um ist nicht nur Teil der deut­schen Lebens­re­form­ge­schich­te an der Wen­de vom 19. zum 20. Jahr­hun­dert. Sei­ne His­to­rie ist über­sät­tigt mit völ­ki­schem Anti­se­mi­tis­mus, wie Gre­gor Hufen­reu­ter in sei­nem Bei­trag zum Sam­mel­band anschau­lich zeigt.

Die Erfin­dung moder­ner Rake­ten­an­trie­be geht zurück auf Her­mann Oberth. Er wur­de lan­ge Zeit von füh­ren­den Flug­zeug­ex­per­ten für einen Schar­la­tan gehal­ten, wohl auch eini­ge Zeit von sei­nem Ver­le­ger Wil­helm Olden­bourg. Denn die­ser ver­öf­fent­lich­te sei­ne ers­ten Bücher, er druck­te sie daher im Ver­bund mit Schrif­ten von Edgar Dac­qué, dem Erfin­der der Gla­cial­kosmo­go­nie, einer zeit­wei­se popu­lä­ren völ­ki­schen Welt­erklä­rung aus der Ver­ei­sung der Welt vor der mensch­li­chen Kul­tur­bil­dung. Til­mann Weso­low­ski erzählt die Geschich­te, war­um es viel­leicht ohne die Gla­cial­kosmo­go­nie Pee­ne­mün­de und die dor­ti­gen Rak­ten­ver­su­che nie gege­ben hätte.

Hubert Can­cik ana­ly­siert ein Trost­ge­dicht des römi­schen Dich­ters Sta­ti­us aus dem 1. Jahr­hun­dert u.Z. für Fla­vi­us Ursus, der sei­nem Lieb­lings­skla­ven nach­trau­ert. Er belegt, dass es sich hier nicht um ein „leuch­ten­des Zeug­nis römi­scher Huma­ni­tät han­delt“. „Viel­mehr offen­bart die­ses Trost­ge­dicht die tie­fen Ver­wer­fun­gen, die das Sys­tem von Unfrei­heit, Dis­kri­mi­nie­rung und Gewalt auch im per­sön­li­chen Leben der Bevor­rech­te­ten anrich­te­te, und die gerin­ge Wir­kung phi­lo­so­pho­scher Leh­ren.“ (S. 75) Die­ses Gedicht, so die Bot­schaft, recht­fer­tigt letzt­lich die Skla­ve­rei und gehört zu den aus­gren­zen­den Ideologien.

Die­se sind Gegen­stand der vor­lie­gen­den Publi­ka­ti­on. Den Haupt­ar­beits­ge­bie­ten des mit dem Buch anläss­lich sei­nes 65. Geburts­ta­ges lau­dier­ten His­to­ri­kers an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin Uwe Pusch­ner ent­spre­chend, wid­men sich die 21 Bei­trä­ge nicht allen aus­gren­zen­den Ideo­lo­gien, son­dern wesent­lich Natio­na­lis­mus, Ras­sis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und den völ­ki­schen Bewe­gun­gen und hier wie­der Vor­zugs­wei­se den deut­schen. Chris­ti­an Köh­ler gibt eine Kurz­biog­ra­hie (S. 403–408); er, David Bord­iehn und Hen­ning Hols­ten haben die Biblio­gra­phie ver­fasst (S. 409–425). Außer­dem publi­ziert das Werk eine Lis­te der Gra­tu­la­to­ren und einen hilf­rei­chen Index (Per­so­nen, Grund­be­grif­fe, Orga­ni­sa­tio­nen, Zeit­schrif­ten). Tama­ra Or und Felix Wie­demann füh­ren in den Band ein.

Das Ange­neh­me an dem ins­ge­samt gut les­ba­ren Buch sind die inter­dis­zi­pli­nä­ren Per­spek­ti­ven, die die Bei­trä­ge eröff­nen. Dazu zäh­len auch ästhe­ti­sche Stu­di­en, so die von Richard Faber, wie „besorg­te“ Bür­ger in Theo­dor Fon­ta­nes Roman „Kopf­tuch­mä­del“ Gre­te Min­de in einen infer­na­li­schen Amok­lauf trei­ben. Ste­fa­nie von Schnur­bein ver­knüpft die Ana­chro­nis­men in Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“ von 1876 mit der Serie „Nor­se­men“ von 2016. Win­fried Mog­ge führt in das geschei­ter­te völ­ki­sche Pro­jekt eines Ger­ma­nen­tem­pels, eines deut­schen Domes, in Wit­zen­hau­sen ein. G. Ulrich Groß­mann infor­miert über Bur­gen und Natio­nal­so­zia­lis­mus. Beson­ders erhel­lend sind hier zwei Momen­te, näm­lich ers­tens, wie völ­ki­sche Tra­di­tio­nen in der Bur­gen­for­schung der Bun­des­re­pu­blik bis nahe­zu in die Gegen­wart fort­be­stan­den; aber er geht auf die maka­bre Bau­wei­se des KZ Maut­hau­sen ein, einer Art Burg mit Wall.

Das Lese­inter­es­se beför­dernd ist auch, dass die Autoren aktu­el­le Vor­gän­ge – wie man so sagt – im Hin­ter­kopf haben, auch wenn sehr ver­gan­ge­ne Zei­ten behan­delt wer­den, etwa wenn Ernst Baltrusch Spar­ta als Uto­pie eines Staa­tes ohne Frem­de behan­delt, und dabei her­aus­ar­bei­tet, dass die ange­streb­te Exklu­si­vi­tät schon rein bevöl­ke­rungs­po­li­tisch zu sei­nem Ende bei­trug. Chris­ti­an Wendt ver­or­tet eine Quel­le anti­de­mo­kra­ti­schen Gedan­ken­gu­tes in Pseu­do-Xeno­phons Mar­gi­na­li­sie­rung der Eliten.

Aus der euro­päi­schen Geschich­te bekannt sind die Reli­gi­ons­kämp­fe der bei­den christ­li­chen Kir­chen mit den Ver­hee­run­gen des 30-jäh­ri­gen Krie­ges als Höhe­punkt. Wie nach die­sem kon­fes­sio­nel­len Gemet­zel Pro­tes­tan­ten und Katho­li­ken in Augs­burg von 1648 bis 1806 ihr weit­ge­hend fried­li­ches Zusam­men­le­ben orga­ni­sier­ten, das ist weni­ger bekannt. Éti­en­ne Fran­çois zeigt, wie die bei­den Abgren­zungs­kul­tu­ren die Stadt­be­woh­ner zu gegen­sei­ti­gen Abkup­fe­run­gen und Nach­ah­mun­gen führ­ten. Das könn­te moti­vie­ren, die Kul­tur­ge­schich­te bei­der Deutsch­län­der ein­mal dar­auf­hin zu betrachten.

Olaf Blasch­kes Bele­ge dafür, dass der Katho­li­zis­mus des 19. Jahr­hun­derts als aus­gren­zen­de poli­ti­sche Ideo­lo­gie funk­tio­nier­te, macht die kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Reak­tio­nen auf der Gegen­sei­te ver­ständ­li­cher, etwa den staat­li­chen (pro­tes­tan­tisch moti­vier­ten) preu­ßi­schen „Kul­tur­kampf“ 1872 bis 1888, aber auch die lan­ge Fort­wir­kung anti­ka­tho­li­scher Res­sen­ti­ments in der euro­päi­schen Freidenkerbewegung.

Oli­ver Janz betrach­tet Nati­on und Fami­lie im 19. Jahr­hun­dert am Bei­spiel der ita­lie­ni­schen Kul­tur. Mit die­sem Arti­kel beginnt die Über­lei­tung des Sam­mel­ban­des hin zum Haupt­the­ma des 20. Jahr­hun­derts, dem immer mili­tan­ter wer­den­den Anti­se­mi­tis­mus und der schließ­lich ras­sis­tisch begrün­de­ten indus­tri­el­len Ver­nich­tung der euro­päi­schen Juden und ande­rer „nicht­ari­scher“ Bevöl­ke­rung durch den Nationalsozialismus.

Völ­lig berech­tigt setzt hier der Auf­satz von Michel Gru­ne­wald über die Rezep­ti­on von Fich­tes „Reden an die deut­sche Nati­on“ durch die „Action fran­çai­se“ (1895–1944) mit dem Unter­ti­tel „Bemer­kun­gen zu einem Trans­fer“ den Beginn. Er zeigt, wie sich ein anfäng­li­ches deut­sches Feind­bild wan­deln kann in ein Mus­ter, das dazu die­nen soll, fran­zö­si­schen Natio­na­lis­mus zu beför­dern, in dem man aus Fich­te und den Fol­gen sei­ner Rede für die deut­sche Nati­on lernt, wie man das macht.

Wer­ner Treß knüpft hier inso­fern an, als er die Her­aus­bil­dung des deut­schen Natio­na­lis­mus in einen unmit­tel­ba­ren Zusam­men­hang bringt mit dem Beginn einer moder­nen Juden­feind­schaft im Zeit­um­bruch der Jah­re 1814 bis 1819. Das Moder­ne an der neu­en Kon­struk­ti­on des Anti­se­mi­tis­mus ist – am Bei­spiel von Fried­rich Rühs und Jakob Fried­rich Fries – die Anhe­bung der Begrün­dung auf die Nati­on und deren all­mäh­li­che Ent­fer­nung von theo­lo­gi­schen Ablei­tun­gen. Das ver­tieft dann der Bei­trag von Ulrich Wyr­wa von der „Gegen­sei­te“ aus gese­hen, näm­lich ein vor­stell­ba­res Deutsch­land mit Juden, aus­ge­hend von deut­schen Juden, die sich als posi­ti­ve Akteu­re zwi­schen 1858 und 1878 auf dem natio­na­len Feld ver­or­ten, dort inte­griert sein wol­len. Dass dies vor Ort nahe­zu unmög­lich war, schil­dert Ulrich Pfeil, der das Ver­bands­we­sen in Hei­de (Hol­stein) wäh­rend des Deut­schen Kai­ser­rei­ches als eine Lokal­stu­die zum völ­kisch-natio­na­lis­ti­schen Nähr­bo­den untersucht.

Zwi­schen dem Anti­se­mi­tis­mus vor dem Ers­ten Welt­krieg und dem, der in den 1920er Jah­ren die Ober­hand gewinnt, besteht ein wesent­li­cher Unter­schied. Die­ser liegt im Vor­marsch eines angeb­lich wis­sen­schaft­lich begrün­de­ten Ras­sis­mus. Gro­ße Impul­se erhält die­ser Wan­del in der Dis­kus­si­on über die „Ost­ju­den“ durch die ent­spre­chen­den Zuwan­de­run­gen nach Deutsch­land. Wer­ner Berg­mann ent­fal­tet die Ver­bin­dun­gen zwi­schen Anti­se­mi­tis­mus und „Aus­län­der­het­ze“ in den frü­hen Jah­ren der Wei­ma­rer Repu­blik. Kann man mit Ein­schrän­kun­gen im 19. Jahr­hun­dert noch von einem anti­jü­di­schen Eli­ten­dis­kurs spre­chen, so ent­ste­hen nun Mas­sen­be­we­gun­gen, die von der NSDAP auf­ge­grif­fen, zuge­spitzt, benutzt und schließ­lich gelenkt werden.

Den Text von Björn Hof­meis­ter über die All­deut­schen im Ers­ten Welt­krieg kann man in die­sem Sin­ne als Umden­kungs­pro­zess in den natio­na­lis­ti­schen Eli­ten lesen. Der Auf­satz von Arnd Bau­er­käm­per wid­met sich sozia­len Kon­flik­ten und Aus­gren­zun­gen im länd­li­chen Raum. Er geht auf den Zusam­men­hang von Bewirt­schaf­tungs­po­li­tik und Infla­ti­on in der Wei­ma­rer Repu­blik bis 1923 ein. Durch die Lek­tü­re erschließt sich das Pen­dant zu den Vor­gän­gen in den Eli­ten im Wach­sen des Wun­sches, ein Füh­rer soll es richten.

Auf zwei Tex­te soll abschlie­ßend beson­ders hin­ge­wie­sen wer­den. Bar­ba­ra von Hin­den­burg dis­ku­tiert das deut­sche Frau­en­wahl­recht. Sie stellt Posi­tio­nen, Gegen­po­si­tio­nen und poli­ti­sche Pra­xis vor, die dazu geführt habe, dass zu den ers­ten Par­la­men­ta­rie­rin­nen auch sol­che gehör­ten, die anti­de­mo­kra­tisch han­del­ten, wie auch Wäh­le­rin­nen unter­schied­li­che Prio­ri­tä­ten setzten.

Jens Flem­ming beleuch­tet Jus­tiz und Rich­ter­schaft zwi­schen Kai­ser­reich und Natio­nal­so­zia­lis­mus mit dem Ergeb­nis, dass es der Repu­blik nicht gelang, aus die­ser ent­schei­den­den Grup­pe ein Boll­werk zur Ver­tei­di­gung der Demo­kra­tie zu for­men. In ihrer Mehr­heit stand die Rich­ter­schaft letzt­lich auf der Sei­te des Nationalsozialismus.

Bleibt eine Abschluss­be­mer­kung: Die Autoren des Sam­mel­ban­des gehen nicht pejo­ra­tiv, son­dern prag­ma­tisch und sozi­al­his­to­risch mit dem Ideo­lo­gie­be­griff um, wenn sie ihn über­haupt ver­wen­den, um ihr Anlie­gen vor­zu­tra­gen. Sie lösen sich von des­sen Gebrauch als „fal­sches Bewusst­sein“, weil die­ses Her­an­ge­hen ja immer dazu zwingt, ein „rich­ti­ges“ zu for­mu­lie­ren, also auf der­sel­ben Ebe­ne von Welt­an­schau­un­gen zu argu­men­tie­ren. Ideo­lo­gien sind aller­dings mehr als Ideen. Sie sind umfas­sen­der, for­mu­lie­ren Über­zeu­gun­gen von Per­so­nen­grup­pen, die ihre Hand­lun­gen moti­vie­ren, vor­schla­gen, wie gehan­delt wer­den soll, und dabei ande­re „Gewiss­hei­ten“, Grund­sät­ze, Ansich­ten, Aus­le­gun­gen und gan­ze Leh­ren in Zwei­fel zie­hen, meist sogar ableh­nen. Man kann in ihnen Kul­tur­an­schau­un­gen (Sinn­deu­tungs­sys­te­me) sehen, in denen für Wahr­heit genom­men wird, was die eige­ne Grup­pe glaubt oder glau­ben soll­te, die aber ande­re ausgrenzt.

So lese ich Olaf Blasch­ke, der als nahe­zu ein­zi­ger im Band zum Begriff „Ideo­lo­gie“ argu­men­tiert, Richard F. Cos­tig­an fol­gend. „Die ‘Ideo­lo­gie des Ultra­mon­ta­nisms’, wol­le man sie vom from­men Sen­ti­ment ein­fa­cher Gläu­bi­ger unter­schei­den, bestehe aus dem gesam­ten Satz von Ideen, die die­se Dok­trin bejah­ten und von Büchern und Arti­keln beför­dert wur­den.“ (S. 94)

Aus­gren­zen­de poli­ti­sche Ideo­lo­gien. Akteu­re, Orga­ni­sa­tio­nen und Pro­gram­ma­ti­ken. Fest­schrift zu Ehren von Uwe Pusch­ner. Hrsg. von David Bord­iehn, Chris­ti­an Köh­ler, Ste­fan Noack und Susan­ne Wein. Berlin/Bern/Brüssel/New York/Oxford/Warschau: Peter Lang Ver­lag 2020, 454 S., 74,80 €, ISBN: 978–3‑631–81307‑2

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