Lutherehrung 2017

IMG_3224.jpegIm Fol­gen­den eini­ge kur­ze Anmer­kun­gen in 13 The­sen. Sie ent­stan­den zur eige­nen Vor­be­rei­tung im Vor­feld des Podi­ums „Luther und der Huma­nis­mus“ auf dem „Huma­nis­ten­tag“ am 17. Juni 2017 in der Nürn­ber­ger „Meis­ter­sin­ger­hal­le“. Das Foto (von Joa­chim Gre­be) zeigt die Teil­neh­mer der Podi­ums­de­bat­te von rechts nach links: Dr. Andre­as Fin­cke, Prof. Dr. Armin Pfahl-Traugh­ber, Dr. Frank Schul­ze und Dr. Horst Groschopp.

1. In der gan­zen Geschich­te des Luthe­ris­mus sind bei ihrer Betrach­tung min­des­tens drei Ebe­nen zu unter­schei­den: Luther in sei­ner Zeit, Luther­bil­der in den ver­schie­de­nen Epo­chen und der Streit um Luthers heu­ti­ge Bedeu­tung. Dabei sind auch die ver­schie­de­nen Sub­jek­te zu unter­schei­den, die Luther folg­ten oder ihn bekämpf­ten, die Luther inter­pre­tier­ten in ihrem Für und Wider bis heu­te. Ähn­li­ches gilt für den Huma­nis­mus, der zur Zeit Luthers ein ande­rer ist als in der Gegen­wart, zumal es auch hier ein Für und Wider gibt.

Die­sem frü­hen Huma­nis­mus fol­gen sol­che unter­schied­li­che Strö­mun­gen nach wie der Neu­hu­ma­nis­mus des 18. Jahr­hun­derts, mit der Wie­der­ent­de­ckung der Huma­ni­tät durch Her­der, mit der „frei­geis­ti­gen“ Kunst Les­sings usw.; der kon­ser­va­ti­ve Huma­nis­mus Ende des 19. Jahr­hun­derts mit der Nach­fol­ge des „Drit­ten Huma­nis­mus“ im Natio­nal­so­zia­lis­mus; der Huma­nis­mus des Wider­stands in „Volks­front“ 1935 und nach dem Zwei­ten Welt­krieg; den unter­schied­li­chen Auf­fas­sun­gen in der DDR und in der BRD und der aktu­el­le „säku­la­re Humanismus“.

2. So ist sicher auch fest­zu­hal­ten: „Die“ Refor­ma­ti­on hat es nicht gege­ben (Stich­wor­te: Zwing­li; Wie­der­täu­fer; Münt­zer), son­dern es gab vor und nach Luther ver­schie­de­ne geis­ti­ge und sozia­le Strö­mun­gen, von denen sich die luthe­ri­sche als neue Kir­che durch­setz­te, weil sie bestimm­ten Fürs­ten­in­ter­es­sen zupass kam, mit enor­men Fol­gen für die ent­ste­hen­de pro­tes­tan­ti­sche Kir­che, die erst mit und beson­ders nach dem spä­ten Luther ent­steht, als die Refor­ma­ti­on der gro­ßen Römi­schen Ein­heits­kir­che und des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches Deut­scher Nati­on scheiterten.

Aber es gab eine zwei­te Refor­ma­ti­on, etwas zeit­ver­scho­ben zum Neu­hu­ma­nis­mus, den Pie­tis­mus mit der Erkennt­nis einer ganz per­sön­li­chen Fröm­mig­keit, aber auch Sozi­al­ver­ant­wor­tung. Und es begann noch zu Leb­zei­ten Luthers eine Refor­ma­ti­on der Papst­kir­che, meist reflek­tiert als „Gegen­re­for­ma­ti­on“.

Es wird meist, berech­tigt, Luthers Leis­tung bei der Aus­bil­dung einer deut­schen Natio­nal­spra­che betont. Hier ist zu ergän­zen: Es han­del­te sich um die „säch­si­sche Kanz­lei­spra­che“, die zur deut­schen wurde.

3. Aus Anlass des Luther­jah­res sind sei­tens der kir­chen­freund­li­chen Medi­en wie von frei­den­ke­ri­schen Kir­chen­kri­ti­kern vie­le Legen­den gepflegt wor­den, die der his­to­ri­schen Wahr­heit wider­spre­chen. Das betrifft vor allem das Datum 31. Okto­ber 1517 als den angeb­li­chen Anschlag von 95 The­sen. Dafür gibt es kei­nen Beleg. Der ältes­te Druck stammt aus dem Jahr 1545.

Die Wit­ten­ber­ger Schloss­kir­chen­tür war tat­säch­lich eine Art „Schwar­zes Brett“. Tat­sa­che ist, dass Luther eine wis­sen­schaft­li­che Dis­pu­ta­ti­on über den Ablass­han­del geschrie­ben hat­te und die­se am 31. Okto­ber 1517 zwei Brie­fen bei­leg­te, die an Joa­chim I. von Bran­den­burg und an des­sen Bru­der Albrecht IV. (zugleich V.), Erz­bi­schof von Mainz und Mag­de­burg, sandte.

Da Albrecht nicht ant­wor­te­te, son­dern belei­digt war, denn er brauch­te das Geld drin­gend, gab Luther sei­ne The­sen an eini­ge Freun­de wei­ter. Die­se ver­öf­fent­lich­ten sei­ne The­sen gegen sei­nen Wil­len, wor­auf die öffent­li­che Debat­te über eine inne­re Kir­chen­re­form begann und sich der Mönch Luder nun Luther nannte.

Den ers­ten Bericht über die­sen angeb­li­chen The­sen­an­schlag gab es erst zwan­zig Jah­re spä­ter. Luthers Sekre­tär Georg Rörer erwähnt die­sen Anschlag in einer erst 2006 gefun­de­nen Bear­bei­tungs­no­tiz zum „Neu­en Tes­ta­ment“ im Rah­men der Arbeit an der Luther-Bibel. Er war kein Augen­zeu­ge, berich­tet aber von meh­re­ren Kir­chen­tü­ren. Auch Melan­chthon erzählt nach Luthers Tod 1546 von einem The­sen­an­schlag, war aber 1517 eben­falls nicht in Wittenberg.

4. Ursa­che für Luthers Pro­test war der wach­sen­de Geld­ver­kehr gegen Ende des 15. Jahr­hun­derts. Der Natu­ral­zins wur­de zuneh­mend durch den Geld­zins abge­löst. Reich­tum ließ sich bes­ser bewe­gen und anhäu­fen. In der dadurch aus­ge­lös­ten Gier nach Geld stand auch der Kle­rus nicht zurück.

Bald kam er auf die Idee, einen siche­ren Platz im himm­li­schen Jen­seits zu ver­kau­fen. Das wur­de streng ver­wal­tet und je nach Finanz­la­ge leg­te der Papst dafür einen „Ablass“ auf.

Zunächst regier­te im Bran­den­bur­gi­schen der Kur­fürst Joa­chim I., anfangs zusam­men mit sei­nem fünf Jah­re jün­ge­ren Bru­der Albrecht. Als Albrecht erwach­sen war, kauf­ten sie ihm die Bis­tü­mer Mag­de­burg und Mainz, aber er mach­te auch Schul­den des­we­gen. Das war etwa drei Jah­re vor Refor­ma­ti­ons­be­ginn. Weil Albrecht enor­me Ver­bind­lich­kei­ten drück­ten, wur­de er in Rom vor­stel­lig und konn­te den Papst dafür gewin­nen, einen neu­en Ablass auf­zu­le­gen, bei dem sie halbe/halbe machen. Das gelang ihm, weil auch der Papst drin­gend Mit­tel nötig hat­te, war doch der Bau des Peters­doms in Rom ins Sto­cken gera­ten. So kam der Abt Johann Tet­zel in sei­ne Funk­ti­on als Ablass­ver­käu­fer. Weil sich Luther gegen Albrecht stell­te, schütz­te und pro­te­gier­te ihn der säch­si­sche Kur­fürst Fried­rich (III.) „der Weise“.

Es waren also öko­no­mi­sche Inter­es­sen, die die Geschich­te in Rich­tung Refor­ma­ti­on drückten.

5. Erst mit der Luther-Ehrung als Per­so­nen­kult im begin­nen­den 19. Jahr­hun­dert wur­de aus dem The­sen-Vor­gang von 1517 ein his­to­ri­scher Ham­mer­an­schlag. Der Preu­ßen­kö­nig Fried­rich Wil­helm, obers­ter pro­tes­tan­ti­scher Kir­chen­ver­tre­ter in sei­nem Land und Dienst­herr aller Pfar­rer und Bischö­fe, ord­ne­te 1817 (300 Jah­re Refor­ma­ti­on) per Kabi­netts­be­schluss die Pfle­ge des Luther’schen Erbes in der nun preu­ßi­schen Pro­vinz Sach­sen an, heu­te Sach­sen-Anhalt – und zwar als Staats­an­ge­le­gen­heit. Damit wur­de unzwei­fel­haft das Erbe des Refor­ma­tors eng mit der Geschich­te des reak­tio­nä­ren Preu­ßen­tums ver­bun­den. Zu sei­ner Ideo­lo­gie gehör­te die Glo­ri­fi­zie­rung Luthers: Luther als Preu­ße; als Deut­scher; und (Deut­sche Chris­ten) als deut­sches­ter aller Deutschen.

Was an der aktu­el­len Luther­eh­rung auf­fällt, ist die weit­ge­hen­de Geschichts­ver­ges­sen­heit rech­ter bis natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Strö­mun­gen. Dass die Luther­fi­gur der „Reli­giö­sen Sozia­lis­ten“ in den offi­zi­el­len Erin­ne­run­gen auch nicht auf­taucht, macht die gan­ze His­to­rie sehr steril.

6. Den Ehrun­gen ab 1817 vor­aus ging das Eta­blie­ren des Pro­tes­tan­tis­mus als Staats­re­li­gi­on, d.h. eigent­lich: meh­re­rer Staats­re­li­gio­nen, denn jedes pro­tes­tan­ti­sche Land im „Deut­schen Bund“ hat­te sei­nen eige­nen. Luther selbst hat­te noch zu sei­nen Leb­zei­ten die Kir­chen­spal­tung als poli­ti­sches Kon­kur­rie­ren betrie­ben oder min­des­tens ermöglicht.

Seit­dem gibt es für Chris­ten nicht nur kon­kur­rie­ren­de Heils­an­ge­bo­te, son­dern ver­schie­de­ne Staats­re­li­gio­nen, die sich in Mit­tel­eu­ro­pa und beson­ders in Deutsch­land in zwei Grup­pen tei­len: Pro­tes­tan­ten und Katho­li­ken. Da sich hier­zu­lan­de die Chris­ten inzwi­schen grund­sätz­lich einig sind (ein Streit zwi­schen, nen­nen wir mal so, „poli­ti­schen Fürs­ten“ See­ho­fer und Mer­kel bringt sie nicht aus der öku­me­ni­schen Fas­sung). Die­se Kon­fes­sio­nen und die Kon­fes­si­ons­frei­en bli­cken mit Unver­ständ­nis auf den heu­ti­gen mili­tan­ten Streit zwi­schen Sun­ni­ten und Schii­ten um die rich­ti­ge Aus­le­gung der Wor­te des Pro­phe­ten, ver­ges­sen aber in der Regel den Gro­ßen Drei­ßig­jäh­ri­gen Reli­gi­ons­krieg von 1618–1648, wo es nicht anders zuging.

7. Die durch Luther aus­ge­lös­te Refor­ma­ti­on brach­te mit den Bau­ern­krie­gen (um 1525), dem Schmal­kal­di­schen Krieg (1546/1547), dem Augs­bur­ger Reli­gi­ons­frie­den (1555) beson­ders im frü­hen 17. Jahr­hun­dert Not und Elend über die Deut­schen. Maro­die­ren­de Söld­ner, Flucht­be­we­gun­gen und Ver­trei­bun­gen, star­ker Bevöl­ke­rungs­schwund (ein Drit­tel weni­ger – auch Fol­gen der Pest) –, zer­stör­te Städ­te und dörf­li­che Wüs­tun­gen … Das nicht mit der Refor­ma­ti­on zusam­men zu den­ken ist Geschichtsklitterung.

Ein eher düs­te­res Jahr­hun­dert folg­te der Hun­dert­jahr­fei­er der Refor­ma­ti­on 1617, wenn man die­se gefei­ert hätte.

Bei den his­to­ri­schen Inter­pre­ta­tio­nen die­ses gro­ßen Ader­las­ses wird in his­to­ri­schen Schrif­ten die Rol­le Luthers als uner­bitt­li­cher Mit-Ver­ur­sa­cher meist gar nicht mehr erwähnt. Poli­tisch hielt sich Luther zeit­le­bens an die Mäch­ti­gen (ließ sich vom säch­si­schen Kur­fürs­ten pro­te­gie­ren), war Fürs­ten­knecht und Bau­ern­ver­rä­ter. Er ver­ur­teil­te die auf­stän­di­schen Bau­ern unter Tho­mas Mün­zer eben­so wie den auf­mu­cken­den Klein­adel unter Ulrich von Hut­ten und Franz von Sickingen.

Die Refor­ma­ti­on selbst war eine Reak­ti­on auf ver­än­der­te „gesell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se“. Die begin­nen­de „Kapi­ta­li­sie­rung“ der Gesell­schaft ver­än­der­te rela­tiv schnell die Lebens­be­din­gun­gen aller sozia­len Grup­pen und nega­ti­ve sozia­le Fol­gen schlu­gen, wie meist in der Geschich­te, nach ganz unten durch.

Die wach­sen­de Bedeu­tung der Geld­ren­te (oben schon erwähnt) und die zuneh­men­den Markt­ver­bin­dun­gen ver­än­der­ten das Gefü­ge der stän­di­schen Gesell­schaft. Der Über­gang von den Natu­ral­ab­ga­ben zur Geld­zah­lung stei­ger­te die Begehr­lich­keit aller Pri­vi­le­gier­ten (also auch der Kir­chen­leu­te) und erhöh­te ihren Druck auf die Pflich­ti­gen. Grö­ße­rer Land­be­sitz wur­de erstre­bens­wert, der Kampf um „Hoheits­ge­bie­te“ bekam einen neu­en Sinn und Auftrieb.

Ob Adel, Bau­ern oder Hand­wer­ker – sie alle erleb­ten eine sozia­le Dif­fe­ren­zie­rung, aber auch die ers­ten gro­ßen Indi­vi­dua­li­sie­run­gen – und die Abstei­ger ver­such­ten sich zu weh­ren. Der reli­giö­se Streit der Kir­chen­leu­te war eben­so Reflex wie Aus­lö­ser die­ses Wan­dels und hat­te kaum Ein­fluss auf das Leben der übri­gen Bevöl­ke­rung, sieht man von den pflich­ti­gen Ritua­len ab. Des­halb ist ja auch Luther gezwun­gen, nicht alle katho­li­schen Bräu­che zu kap­pen, son­dern sie zu überführen.

Ganz anders die durch das reli­giö­se Bekennt­nis legi­ti­mier­ten poli­ti­schen Macht­kämp­fe der Obe­ren: Mit der Refor­ma­ti­on und dem Schmal­kal­di­schen Krieg begann ein Jahr­hun­dert soge­nann­ter Glau­bens­krie­ge – ein­ge­lei­tet vom gro­ßen Bau­ern­krieg und Sickin­gens Rit­ter­krieg – bis zum West­fä­li­schen Frie­den, der 1648 den „Drei­ßig­jäh­ri­gen“ beendete.

8. Im frü­hen Huma­nis­mus (Petrar­ca, Miran­do­la, Reuch­lin …) wird die Indi­vi­dua­li­tät und per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung und Ent­schei­dungs­fä­hig­keit ent­deckt und es ent­steht das Pro­blem, wie sich dies alles zur „Heil­ge­mein­schaft“ ver­hält. Die Eta­blie­rung des moder­nen Pie­tis­mus (Stich­wor­te: Volks­fröm­mig­keit, Arbeit­sam­keit, Nächs­ten­lie­be usw.) war eine Reak­ti­on dar­auf und für das heu­ti­ge Chris­ten­tum eine bedeut­sa­me Refor­ma­ti­on der Refor­ma­ti­on. Sie wird in der Regel eben­so his­to­risch unge­nü­gend gewür­digt wie die katho­li­sche Gegen­re­for­ma­ti­on, die den Katho­li­zis­mus modernisierte.

Bei­de Refor­ma­tio­nen hat­ten den his­to­ri­schen Huma­nis­mus zu ihren erklär­ten Fein­den. Es gelang Luther nicht nur das Ende der „Huma­nis­ten­päps­te“ in Rom ein­zu­lei­ten und zu beför­dern, son­dern auch die Inte­gra­ti­on der huma­nis­ti­schen Strö­mun­gen vor und wäh­rend der ers­ten Refor­ma­ti­ons­zeit in sei­ne neue fun­da­men­ta­lis­ti­sche Kir­che zu über­füh­ren. Das bes­te Bei­spiel ist Melan­chthon, der alles dar­an­setz­te, Luthers Kir­chen­idee umzu­set­zen, ihr Res­te des Huma­nis­mus anzu­pas­sen. In die­ser neu­en Kir­che hat­te der Zwei­fel kei­nen Platz.

So kann man sagen, dass bestimm­te huma­nis­ti­sche Metho­den, etwa den grie­chi­schen (und hebräi­schen) Ori­gi­nal­tex­ten zu ver­trau­en, aber auch Quel­len­kri­tik, Mehr­spra­chig­keit usw., zuguns­ten der Refor­ma­ti­on ein­ge­setzt, ein­ge­eb­net wur­den. Ganz deut­lich wird dies anhand der Lutherbibel.

Mit all dem gelingt es Luther, dass der ita­lie­ni­sche Huma­nis­mus nicht über die Alpen kommt und dass die Hol­län­der, die sich wie Eras­mus kos­mo­po­li­tisch ver­ste­hen, durch­aus mit poli­ti­schem Druck und mit Ver­leum­dun­gen iso­liert wer­den, sich anpas­sen. Luther gibt durch­aus öfters den „Polit­kom­mis­sar“, bekämpft die „Sek­ten“ usw.

Die Refor­ma­ti­on brach­te eine epo­cha­le Nie­der­la­ge des dama­li­gen Huma­nis­mus. Man kann sogar sagen: Die pro­tes­tan­ti­sche Kir­chen­bil­dung gewann eine bis heu­te fort­wir­ken­de, gera­de­zu anti­hu­ma­nis­ti­sche Nach­hal­tig­keit, eine fun­da­men­ta­lis­ti­sche Aus­rich­tung, an der Luther nicht unwe­sent­lich betei­ligt war.

9. Luther und die Refor­ma­ti­on rich­te­ten sich nicht nur gegen die Römi­sche Kurie, gegen Gemein­den, die dann acht Jah­re spä­ter im Bau­ern­krieg auf­be­gehr­ten, und gegen die Juden, son­dern auch gegen die unbe­ding­te Auf­ge­schlos­sen­heit des Huma­nis­mus für die Phi­lo­so­phie der Anti­ke, etwa schon in Luthers Kampf gegen die „Schlan­ge” Aris­to­te­les in der „Hei­del­ber­ger Dis­pu­ta­ti­on“ von 1518, und beson­ders gegen die huma­nis­ti­sche Ver­tei­di­gung der indi­vi­du­el­len Ent­schei­dungs­frei­heit durch Eras­mus von Rot­ter­dam. Im Dezem­ber 1525 ver­öf­fent­lich­te Luther sei­ne sich gegen das Wahl­ver­mö­gen der Men­schen rich­ten­de Schrift „Über den geknech­te­ten Wil­len“. Der Wil­le ist für ihn nur frei, wenn er der Wahr­heit Got­tes folgt. Von poli­ti­scher Frei­heit ist kei­ne Rede.

Was in der Luther­zeit unter Huma­nis­mus ver­stan­den wur­de steht in einem kla­ren Kon­trast zum moder­nen Huma­nis­mus, das in die­sem eine kul­tur­his­to­ri­sche Bewe­gung sieht, die im anti­ken Grie­chen­land ihre Ursa­che hat und eine Aneig­nung der schon im alten Rom von der katho­li­schen Staats­re­li­gi­on unter­drück­ten heid­ni­schen Anti­ke dar­stellt. In der Renais­sance wird das freie Indi­vi­du­um und die Wür­de des Men­schen ent­deckt. Es gehen Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten, Lyze­en, Aka­de­mien, das Sym­po­si­on, Olym­pia, Tra­gö­die und Komö­die, epi­sche Rezi­ta­ti­on, Gesang und öffent­li­che Rede aus die­ser Aneig­nung in der Renais­sance her­vor, die in der luthe­ri­schen Kir­che kirch­lich geformt werden.

10. Zu Luther und den Juden ist in der letz­ten Zeit berech­tigt viel publi­ziert wor­den, beson­ders, weil sei­ne Aus­sa­gen im Natio­nal­so­zia­lis­mus ras­sis­tisch benutzt wur­den, wer­den konn­ten. Der Ras­sis­mus ist aber eine Erfin­dung des 19. Jahr­hun­derts und dama­li­ge Frei­den­ker waren dar­an nicht unbe­tei­ligt („Ras­se­hy­gie­ne“). Ohne Luthers Aus­sa­ge zu rela­ti­vie­ren, muss aber erwähnt wer­den, dass es auch im dama­li­gen Huma­nis­mus anti­ju­däi­sche Auf­fas­sun­gen gab, auch bei Erasmus.

Eras­mus sah – wie sei­ne Zeit­ge­nos­sen – die Juden als Kol­lek­tiv, als Geld­wechs­ler und ‑ver­lei­her. Er beschul­dig­te sie, die Bau­ern­krie­ge ange­zet­telt zu haben.

Eras­mus preist in einem frü­hen Brief Frank­reich als den „makel­lo­ses­ten und blü­hends­ten Ort des Chris­ten­tums, weil es allein frei sei von Häre­ti­kern und böh­mi­schen Schis­ma­ti­kern, von Juden und halb­jü­di­schen Mar­ra­nen und weil es nicht an die Tür­kei grenze.“

Er teilt die Besorg­nis Luthers, durch die Wie­der­be­le­bung der hebräi­schen Stu­di­en kön­ne auch das Juden­tum wiederaufleben.

Es scheint aber in sei­nen Äuße­run­gen eine ande­re, freie­re Refor­ma­ti­ons­idee durch, vor allem eine Idee der huma­ni­tas, die die luthe­ri­sche Refor­ma­ti­on eli­mi­niert. Zitat aus den „Col­lo­quia fami­lia­ria“ (Gesprä­che im ver­trau­ten Fami­li­en­kreis; 1518): „Opfer, mei­ne ich, wird alles das genannt, was sich auf die kon­kre­ten Bräu­che bezieht und dem Juda­is­mus ver­wandt ist, wie die Aus­wahl der Spei­sen, die Klei­der­vor­schrif­ten, das Fas­ten, das Opfern, die wie eine Auf­ga­be erle­dig­ten Gebe­te, die Fest­tags­ru­he. Denn wie die­se Din­ge unter Umstän­den nicht ganz ver­nach­läs­sigt wer­den dür­fen, so miss­fal­len sie Gott, wenn jemand auf ihre Beob­ach­tung der­art ver­traut und die Barm­her­zig­keit hint­an­setzt, so oft die Not des Bru­ders einen Lie­bes­dienst erfordert.“

Das gilt auch für sei­ne berühm­te Schrift „Enco­mi­um moriae“ (Lob der Tor­heit; 1509 oder 1510). Hier spot­tet Eras­mus: „Die Juden war­ten auch jetzt noch unent­wegt auf ihren Mes­si­as und hal­ten an ihrem Moses bis heu­te krampf­haft fest.“

11. Es hat nach dem Zwei­ten Welt­krieg kei­ne Ent­na­zi­fi­zie­rung der Evan­ge­li­schen Kir­che gege­ben (auch nicht der Katho­li­schen, auch nicht der Ärz­te). Die meis­ten Kir­chen­füh­rer blie­ben in ihren Ämtern. Das behin­dert bis heu­te eine Auf­ar­bei­tung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Poli­tik der Protestanten.

Hit­ler sagt in sei­nem Buch „Mein Kampf“ (S. 127): „Dem poli­ti­schen Füh­rer haben reli­giö­se Leh­ren und Ein­rich­tun­gen sei­nes Vol­kes immer unan­tast­bar zu sein, sonst darf er nicht Poli­ti­ker sein, son­dern soll Refor­ma­tor wer­den, wenn er das Zeug hier­zu besitzt!“. Zwar unter­schei­det er die­se zwei Füh­rer­ar­ten. Bei­de sind aber einig in der Les­art, dass es dar­um gehe, das deut­sche Volk zu retten.

Flug­blatt zum „Deut­schen Luther­tag“ 1933: „Hit­lers Kampf und Luthers Lehr / des deut­schen Vol­kes gute Wehr“. Die­ser „Deutsch Luther­tag“ 1933 zum 450. Geburts­tag des Refor­ma­tors wur­de mit kirch­li­chem Segen der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ideo­lo­gie und Gewalt­herr­schaft dienst­bar gemacht. So erklär­te Her­mann Wolf­gang Bey­er (1898 bis 1942), dama­li­ger Pro­fes­sor für Kir­chen­ge­schich­te in Greifs­wald: „Das Jahr 1933 ist nicht nur ein Jahr der Erin­ne­rung an ihn [Luther], son­dern ein Jahr der Erfül­lung des­sen, was er gewollt“ hat.

Ursprüng­lich war der „Deut­sche Luther­tag“ auf den 10. Novem­ber 1933, also den Geburts­tag Luthers ter­mi­niert. Da jedoch Hit­ler kurz­fris­tig für den 12. Novem­ber Reichs­tags­wah­len und eine „Volks­ab­stim­mung“ über den Aus­tritt aus dem Völ­ker­bund ange­setzt hat­te, wur­de der Luther­tag auf den 19. Novem­ber verschoben.

Die­sem ging am 13. Novem­ber ein Gau­tag der „Deut­schen Chris­ten“ vor­aus, kei­ne Erfin­dung der Nazis, son­dern in der Kir­che in den 1920ern gewach­sen („Alten­bur­ger Land“), der eine ein­heit­li­che deut­sche Reichs­kir­che (unmög­lich, weil schon 20. Juli 1933 Reichs­kon­kor­dat), eine zwei­te deut­sche Refor­ma­ti­on sowie Treue gegen­über Volks­tum und Ras­se unter dem Ban­ner der „völ­ki­schen Sen­dung Luthers“ for­der­te. Das wur­de dann zum Pro­gramm inner­halb der Evan­ge­li­schen Kir­che und Luther galt als der „deut­sches­te aller Deutschen“.

12. Der Umgang mit Luther in der DDR folg­te bis Ende der 1970er Jah­re Wil­helm Zim­mer­manns „Geschich­te des gro­ßen Bau­ern­kriegs“ und vor allem Fried­rich Engels und Franz Meh­ring, Alex­an­der Abuschs „Irr­weg einer Nati­on“ und dem Münt­zer-Bild von Alfred Meu­sel. Die Ansich­ten waren beherrscht vom Kal­ten Krieg, beson­ders von der Abwehr von The­sen von Deutsch­land als „christ­li­chem Abend­land“. Münt­zer thron­te dort oben, weil er der sowje­ti­schen His­to­rio­gra­phie der Nach­kriegs­zeit als der ein­zi­ge akzep­tier­te Deut­sche galt.

Die Rus­sen – immer­hin Besat­zungs­macht – konn­ten mit Luther und dem gesam­ten Pro­tes­tan­tis­mus in ihrer christ­lich-ortho­do­xen Tra­di­ti­on (was sie davon „geerbt“ hat­ten) nicht viel anfan­gen. Die DDR ver­such­te in den 1950ern eine all­mäh­li­che Locke­rung und dif­fe­ren­zier­te­re Ein­ord­nung. Luther erschien nun als Held eines pri­mär anti­ka­tho­li­schen Natio­nal­ge­fühls, wur­de aber auch als Aus­lö­ser der deut­schen Mise­re dar­ge­stellt, die zu Hit­ler hin­führt. Vie­le der dama­li­gen Urtei­le haben ihr aktu­el­les Pen­dant in frei­den­ke­ri­schen Kri­ti­kern der aktu­el­len Luther-Deka­de. Das wis­sen die Akteu­re nur lei­der nicht.

Spä­ter gab es etli­che Grün­de für eine dif­fe­ren­zier­te­re Sicht. Erst­mals konn­te man in der DDR 1960 beim Melan­chthon-Jubi­lä­um 1960 auf Ergeb­nis­se einer eige­nen Refor­ma­ti­ons­ge­schichts­schrei­bung zurück­grei­fen. Eine wei­te­re Stu­fe sach­li­cher Geschichts­dar­stel­lung wur­de im Zusam­men­hang mit der Vor­be­rei­tung zum Refor­ma­ti­ons­ju­bi­lä­um 1967 erreicht.

Mit dem Luther­ge­den­ken 1983 (500. Geburts­tag; im „Marx-Jahr“!) trat dann eine Wen­de ein. Vor­bild war hier, dass 1982 Goe­the auf ähn­li­che Wei­se geehrt wor­den war. Doch setz­te die Luther-Ehrung neue Maß­stä­be, inhalt­lich, kul­tu­rell, finan­zi­ell und poli­tisch. Die DDR zele­brier­te sich als der wah­re Erbe auch die­ses guten Deut­schen. Vie­le erin­nert an die aktu­el­le Lutherehrung.

13. Jeder Gegen­stand der Geschichts­wis­sen­schaft und staat­li­cher Erin­ne­rungs­po­li­tik folg­te bis 1989 dem jewei­li­gen Stand der deutsch-deut­schen Affä­ren. Im Wes­ten wur­de prak­tisch jede Arbeit, die in der DDR zum „his­to­ri­schen Erbe“ publi­ziert wur­de, zuerst und vor allem unter deutsch­land­po­li­ti­schen Gesichts­punk­ten ana­ly­siert. Auch wur­den die wis­sen­schaft­li­chen Argu­men­te ost­deut­scher His­to­ri­ker im Lich­te poli­ti­scher Zweck­mä­ßig­keits­er­wä­gun­gen gedeu­tet. So wur­de z. B. das Kon­zept der „früh­bür­ger­li­chen Revo­lu­ti­on“ nicht als neu­er wis­sen­schaft­li­cher Ansatz gewür­digt, son­dern irgend­wie als Pro­vin­zidee abgetan.

Die­ses neue Bild der Ein­ord­nung des Renais­sance-Huma­nis­mus, Luthers Refor­ma­ti­on und Münt­zers Ein­tre­ten für die Bau­ern in die kul­tu­rel­le Zeit­strö­mung „früh­bür­ger­li­che Revo­lu­ti­on“ war auch auf die Ein­füh­rung stren­ge­rer wis­sen­schaft­li­cher Kri­te­ri­en und die Nut­zung neu­er Quel­len zurückzuführen.

Die SED-Füh­rung hat­te für 1983 zwei Jah­res­ta­ge gleich­zei­tig zur fei­er­li­chen Pfle­ge der Erin­ne­rungs­kul­tur aus­ge­ru­fen, näm­lich Karl Marx‘ 100. Todes­tag und Mar­tin Luthers 500. Geburts­tag, wozu schon drei Jah­re zuvor – 1980 – ein Komi­tee zur Vor­be­rei­tung nie­der­ge­setzt wur­de – unter Lei­tung von Erich Hon­ecker –, einem klu­gen Schach­zug der Außen­po­li­ti­ker in der DDR. 1981 erschie­nen 15 The­sen zur „Mar­tin Luther Ehrung 1983“, erar­bei­tet wesent­lich von His­to­ri­kern der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten. Von einem „Luther­jahr“ war aller­dings nie die Rede.

Am 4. Mai 1983 wur­de der Eröff­nungs­got­tes­dienst zum Luther­jahr live in Ost und West über­tra­gen. Das geschah bewusst an dem Tag, an dem Mar­tin Luther auf der Wart­burg ankam. Das „Muse­um für Deut­sche Geschich­te“ prä­sen­tier­te eine Son­der­aus­stel­lung zum The­ma „Mar­tin Luther und sei­ne Zeit“. Es erschie­nen eine Son­der­brief­mar­ke zu 20 Pfen­nig und eine Luther-Gedenk­mün­ze zu 20 Mark der DDR. Schall­plat­ten mit Luther-Bezug waren käuf­lich. Das Fern­se­hen pro­du­zier­te eine 5‑teilige Luther-Serie. Schaut man ins Inter­net, so besitzt die­ser Film bis heu­te eine gro­ße „Fan­ge­mein­de“. In Erfurt fand ein gro­ßer Luther­kon­gress statt.

Den Höhe­punkt bil­de­te schließ­lich ein Staats­akt. Das Geden­ken an den bis­he­ri­gen Hel­den des Bau­ern­krie­ges, Tho­mas Münt­zer als Luthers Gegen­spie­ler wur­de im Gegen­zug suk­zes­si­ve zurück­ge­fah­ren, jeden­falls relativiert.

Im Thü­rin­gi­schen Bad Fran­ken­hau­sen war 1976 ein Pan­ora­ma-Denk­mal zu bau­en begon­nen wor­den, das der Leip­zi­ger Künst­ler Wer­ner Tüb­ke auf dem „Schlacht­berg“ (auch „Blut­berg“; hier wur­den die Res­te der auf­stän­di­schen Bau­ern nie­der­ge­met­zelt) errich­te­te. Es war zunächst gedacht als Denk­mal zu Ehren des Deut­schen Bau­ern­krie­ges und des Bau­ern­füh­rers Tho­mas Münt­zer, der hier gefan­gen genom­men und dann auf der nahen Was­ser­burg Hel­d­run­gen nach Fol­te­run­gen hin­ge­rich­tet wur­de. Das Denk­mal gerann Anfang der 1980er Jah­re zu einem gro­ßen Bild der früh­bür­ger­li­chen Revo­lu­ti­on (Eröff­nung 1987).

Alles im allem ist es doch erstaun­lich, mit wel­cher Lei­den­schaft sich beken­nen­de Athe­is­ten in der DDR Luthers Werk als einer kul­tu­rel­len Visi­on einer „früh­bür­ger­li­chen Revo­lu­ti­on“ wid­me­ten, die­se mit Münt­zer zu ver­glei­chen began­nen – wo doch Revo­lu­ti­ons­theo­rie gar nicht ihre Auf­ga­be war.

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