Martin Schaad, Historiker und Philosoph, stellvertretender Direktor des Einstein Forums in Potsdam, hat im Februar 2013 einen Vortrag gehalten mit dem Titel »Wie wird man eigentlich Stalinist?« Dazu hat er nun ein Buch veröffentlicht. Es handelt über den Schriftsteller, Kulturfunktionär und Theoretiker des Humanismus Alfred Kurella (1895–1975), dem wohl wichtigsten Kulturfunktionär und ‑theoretiker der Ulbricht-Zeit.
Genau genommen ist das Buch von Schaad fokussiert auf das Jahr 1936 in Moskau und den zu dieser Zeit entstandenen Roman Gronauer Akten von Kurella. Dieser Text war nach Ansicht Schaads als Beispielwerk des sozialistischen Realismus gedacht, dessen Kanon, wie Schaad entschlüsselt, Kurella selbst kurz zuvor unter dem Pseudonym Heinrich Binder in Moskau formulierte.
Der Roman wurde erst 1954 publiziert, als der ehemalige Komintern-Funktionär, der 1934/35 persönlicher Sekretär Georgi Dimitroffs war, nach Deutschland zurückkehren durfte, um das Leipziger Literaturinstitut zu übernehmen, das eine neue Schriftstellergeneration hervorzubringen den Auftrag hatte. Im Folgenden stützte er Walter Ulbricht und entwickelte das Konzept der „sozialistischen Kulturrevolution“ und des „sozialistischen Humanismus“ in der DDR an vorderster Front, wie man wohl treffend sagt. Pikant an dieser Konstellation war, dass Ulbricht 1932 an der MASCH, der Marxistischen Arbeiterschule, in Berlin noch Vorlesungen über „Sozialfaschismus“ hielt während Kurella dort bereits über Humanismus sprach und, als er schon die „Volksfront“-Idee begriff, die KPD (erneut Ulbricht) noch an der „Einheitsfront“ festhielt.
Als Schaad in Potsdam seinen Vortrag hielt, wollte er sein Werk noch richtiger Kurella. Eine philologische Ermittlung nennen. Doch überhöhte der Verfasser seine Befunde zu einer Studie, die, wie er meint, die „Persönlichkeitsspaltung” (S. 151; S. 116: „pathologisch”) von Kurella aufdeckt, in dem er einen zeitlich auf 1936 begrenzten Vorgang, den der Roman-Produktion, entschlüsselt, in dem sich der Berufsrevolutionär, nach Auffassung Schaads, endgültig von seinen freigeistigen Ambitionen der Jugendzeit und von Ideen des „Wandervogel” verabschiedete, um für die Partei, von der er gerade gemaßregelt worden war, und um für Dimitroff persönlich wieder verwendungsfähig zu werden. Kurella hatte zu einem Zeitpunkt Dimitroffs Strategie der „Volksfront” unterstützt als die Partei noch der „Einheitsfront” verhaftet war (Schaad bleibt bei letzterem Begriff, vgl. S. 53).
Der Roman, der zeitgleich im NS-Deutschland spielt, sollte Kurellas Wiedereintrittsbillet werden, so Schaad. Er wurde aber damals nicht gedruckt (vgl. S. 158), wobei Kurella wohl noch großes Glück hatte, nicht in die große Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie zu geraten wegen seiner Heranziehung von Akten der mittelalterlichen Hexenverfolgung im besagten Roman (was sowohl als tapfere Tollkühnheit wie als gefährliche Naivität gesehen werden kann). Dimitroff hielt wohl die rettende Hand über ihn. So kam Kurella in einer Bibliothek unter. Wie eng es dabei zuging, wie knapp er am Abgrund stand, das merkt Wladislaw Hedeler in
seiner Rezension des Schaad-Buches (im Neuen Deutschland, 20.6.2014) an und verweist darauf, dass Kurella seine Akten dieser Zeit fledderte und auch Dimitroff Angst haben musste und entsprechende Seiten seines Tagebuches sicherheitshalber vernichtete.
Schaad arbeitet die Entstehungsgeschichte des Romans spannend geschrieben und detailliert belegt anhand bisher nicht ausgewerteter Akten heraus (eine Quellenliste hätte gut getan). Er tut dies bis in versteckte Anspielungen hinein, die er dechiffriert (vgl. S. 152 ff.). Die beiden Haupthelden in den Gronauer Akten, ein Kommunist und ein Faschist, die sich in einem Kriminalfall begegnen, sind beide wie Kurella hoch und klassisch gebildete Leute. Als literarische Gestalten sind sie in ihren Charakteren wie in ihrem Äußeren die Person Kurella, zum einen wie er gesehen werden wollte, sich als Kommunist rechtfertigt und wieder „aufzuerstehen“ gedenkt, zum anderen wie er biographisch als Bürgersohn und George-Anhänger hätte werden können, wäre er nicht in den Wirren des Kriegsendes und der Revolution 1918/19 ein intellektueller Parteisoldat geworden, der noch Lenin begegnete.
Das Buch von Schaad ist vor allem als sehr profunde literaturwissenschaftliche Analyse eines nicht sehr guten Romans zu lesen, als Dekodierung der Absichten des Schriftstellers, wie sie Schaad interpretiert. Doch greift Schaad weiter, denn Kurella war sein Leben lang in große Spiele politischer Kräfte parteiisch eingebunden. Das wirft die Frage auf, ob Schaads Buch einen Beitrag zur Aufklärung der Frage leistet, was bürgerliche Intellektuelle, ein anderes Beispiel wäre Wolfgang Langhoff, wo Esther Slevogt kürzlich eine gründliche Untersuchung vorgelegt hat, aber auch viele andere, zum Kommunismus und zur Parteidisziplin hinzog, als diese noch nicht mit dem Namen Stalin verbunden, aber gleichwohl streng war – eine Kampfpartei eben.
Schaad stellt diese Frage nur indirekt und verstellt mögliche Antworten durch das Totschlagverdikt des „Stalinismus“. Darauf verweist Stefan Kurella, Alfred Kurellas Sohn, berechtigt in seiner Replik auf die Rezension von Hedeler. Er geht aber zu weit und nennt das Buch von Schaad (ND, 1.7.2014) verallgemeinernd ein opportunistisches, konformistisches Machwerk. Er liegt aber richtig in seinem Urteil, dass das Werk im Geiste des Antikommunismus geschrieben ist. Dieser Zugang verstellt die Aufklärung jeder ungeraden Dialektik in den entsprechenden Lebensläufen und Werken, übersieht die Umstände und Gegnerschaften, spitzt die subjektive Sicht über Gebühr zu.
Eine viel kritischere Sicht auf den organisierten Kommunismus legt doch vielmehr nahe zu sagen, dass diese Selbsterziehung schon vorher stattfand bei nahezu allen, die sich dem Kommunismus mit Leidenschaft hingaben. Diese eiserne Disziplin war ein Produkt des Weltkrieges, der Zwischenkriegszeit und der politischen Umstände. So hatte jede politische Bewegung in den 1920ern in der Weimarer Republik und auch in anderen europäischen Ländern eigene Kampfgruppen, Geheimdienste, Märtyrer und Verräter. Das ist, wenn man auf die Kommunisten schaut, nicht allein als „Stalinismus“ zu erklären. Spannend ist jedoch, was dadurch hinzukam. Es stimmt wohl nicht ganz, trifft es nur halb, wenn Schaad in den Gronauer Akten „einen vom Terror erzwungenen Akt der Selbsterziehung“ (S. 162) Kurellas zu erkennen meint.
Man kann das Problem des historischen Kommunismus natürlich auch zu einem religiösen Phänomen umdeuten und auf diese Weise ebenfalls engführen, wie Schaad es hier und da versucht. Doch auch damit wird der Reiz, den der Kommunismus auf „ungläubige“ bürgerliche Intellektuelle ausübte, deren Philosophie und Kunst (etwa Bloch und Brecht) noch heute fasziniert, nicht erklären können.
„Ich habe mich gefragt”, so Schaad in einem Interview mit den Potsdamer Neuesten Nachrichten, „wie man zu einer solchen, fast schon irren Haltung gelangt”, wie sie Kurella praktizierte, ein durchaus dogmatischer Kulturfunktionär in der DDR, aber gebildeter als die allermeisten um ihn herum. Naja, so kann man Schaad lesen, sie scheinen alle irgendwie verrückt, diese Kommunisten. Jedenfalls hat er das Problem, wie man „Stalinist” wird, nicht hinreichend aufklären können, aber einen interessanten und lesenswerten Beitrag dazu geliefert. Ob das Verdikt „Stalinist“ überhaupt hinreichend ist, die Leistung Kurellas und die Hinwendung vieler Intellektueller in der „Zwischenkriegszeit“ nach den Revolutionen 1917/19 zum historischen Kommunismus zu erklären, muss weiterhin bezweifelt werden.
Horst Groschopp
Martin Schaad: Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella. Eine biografische Spurensuche. Hamburg: Hamburger Edition 2014, 182 S.
ISBN 978–3‑86854–275‑2