Das „säkulare Spektrum“
Der Begriff “säkulares Spektrum”
Andreas Fincke legt mit seinem Buch Mit Gott fertig? die erste kultursoziologische Gesamtbetrachtung der „säkularen Szene“ in Deutschland vor. Er beschreibt die dort handelnden atheistischen, freigeistigen und humanistischen Organisationen und deren Strukturen, Ziele und Programme. Seine Studie geht von der zunehmenden Zahl von Konfessionsfreien in der Bevölkerung aus. Die Analyse erfolgt aus kirchennaher Sicht. Zugleich kritisiert Fincke die oftmals beschönigende Binnenperspektive der Kirchen und appelliert an die Verantwortlichen in Kirche und Politik, die Zeichen der Veränderung ernster zu nehmen. Der Autor schließt sein Werk mit acht Thesen in Richtung auf die Programmatik und Realpolitik der Kirchen. Das sind Folgerungen aus seiner Sicht auf die Konfessionsfreien und dort tätige betont „säkulare Verbände“.
Diese Ableitungen sind für die betreffenden Verbände nicht einfach von Interesse, wie man so dahinsagt. Sie spiegeln vielmehr wie durch ein Brennglas, was ein seit Jahren aufmerksamer Beobachter der Konfessionsfreienvereine sieht und wie er urteilt – und dies kompakt. Die Lektüre ist umso gewinnbringender, weil solche Untersuchungen aus der „Szene“ selbst heraus nicht vorliegen. Der Gründe dafür gibt es sich einige, vor allem, das entsprechende „Analysten“ fehlen. Aber die Ursachen liegen tiefer: Wer würde es schon auf sich nehmen, etwa als bekanntes Mitglied im Humanistischen Verband Deutschlands (HVD), eine Tiefenstudie der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) oder des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) öffentlich vorzulegen – oder umgekehrt? Die Geschichte des nie zustandegekommenen Projektes vom Frühjahr 2000, ein gemeinsames „Handbuch“ der betreffenden Organisationen herauszugeben, ist der Beleg dafür,[1] obwohl der historische Vorläufer ein gutes Beispiel hätte sein können.[2]
Die Probleme einer solchen Darstellung beginnen schon mit der Benennung. Fincke nennt in seinem Untertitel Themen Konfessionslosigkeit, Atheismus und säkularer Humanismus in Deutschland, zählt aber dann im Text in verschiedenen Kombinationen auf: laizistische, kirchenkritische, freigeistige, freidenkerische, humanistische, atheistische Organisationen. Mit der Bezeichnung „säkulares Spektrum“ (etwa Fußnote 126) ist er sehr sparsam, benutzt eher die Kombination „säkulare Szene“, um die weltanschauliche, politische und organisatorische Vielgestaltigkeit zu betonen.
„Säkulares Spektrum“ ist der ältere Begriff, eine feststehende, allerdings sehr pragmatische Bezeichnung, eine Wortbildung von denjenigen, die selbst zur „säkularen Szene“ gehören und deswegen wissen, wer das ist. Andere, außerhalb davon, sind immer wieder über die Namensgebung verwundert, besonders über die Engführung von „säkular“.[3]
Der Vorsitzende des Koordinierungsrates säkularer Organisationen (KORSO), Helmut Fink, definiert: „Unter ‘säkularen Organisationen’ werden … solche verstanden, die ein distanziertes oder ablehnendes Verhältnis zu religiösen Wahrheitsansprüchen oder kirchlichen Sonderrechten als bewussten Teil ihrer Identität aufweisen.“ Es handele sich hierbei „um die ‘säkulare Szene’ im engeren Sinn …, um den organisatorischen Ausdruck nichtreligiöser Weltbilder und gottloser Kulturbestrebungen, um die Interessen konfessionsfreier Menschen und die Trennung von Kirche und Staat.“[4]
„Säkulares Spektrum“ bzw. „säkulare Szene“ sind letztlich Selbst- und Sammelbezeichnungen für sich als verwandt betrachtende „Körperschaften“, bei der nur in Betracht gezogen wird, was sich „organisiert“ zeigt und sich selbst mit sozialkulturellen und politischen Berührungspunkten ausstattet und gegenseitig erkennt und wozu auch diverse Fachverbände, Stiftungen und Initiativen gehören, die in diesem Buch ebenfalls vorgestellt werden.
Beide Bezeichnungen, zuerst das Wort vom „Spektrum“, etwas später das von der „Szene“ wurden ab 2000 als politisch-pragmatischer Notbehelfe vom Hamburger Unitarier Helmut Kramer vorgeschlagen, um das Verbindende der in der „Sichtungskommission“ der Humanistischen Akademie Berlin sich versammelnden Organisationen auszudrücken und sie wieder miteinander in Kommunikation zu bringen. Und obwohl sich die Humanistische Union von Beginn an nicht an diesen Organisationsbemügungen beteiligte, wie zunächst auch nicht die Jugendweihevereine, zählten sie zu den „Säkularen“ im Sinne der beiden Begriffe – nicht aber solche eindeutig säkularen Einrichtungen wie Gewerkschaften, Parteien und viele Dienstleister.
Auf eine tabellarische Darstellung dieser „säkularen Szene“ und damit des Gegenstandes des Buches von Fincke wurde in diesem Band verzichtet, zum einen, weil der Band 1 dieser Reihe Pro Humanismus in Dokument 1 diese Tabellen mit Erklärungen enthält;[5] zum anderen, weil diese Liste (leicht ergänzt) bei der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) seit Ende März 2017 öffentlich zugänglich ist.[6]
Vorläufer dieser Tabellen waren die im Jahr 2000 gesammelten Projektdaten, die laufend präzisiert wurden und dann Fincke mit meinem Einverständnis in einer EZW-Broschüre publizierte.[7] Danach wurde die Liste 2007 für eine eigene Publikation stark ergänzt und überarbeitet.[8]
Eine weitere umfängliche Liste, erstellt nach anderen Kriterien und auch religiöse Organisationen aufführend, ist im Buch von Christine Mertesdorf aufzufinden.[9] Sie fragt nach der jeweiligen Eigenschaft „Weltanschauungsgemeinschaft“ nach Artikel 137, Absatz 7 der Weimarer Reichsverfassung, inkorporiert ins Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit Artikel 140.
Alle bisher Die vorliegenden Tabellen gestatten keine Schlüsse auf mögliche Mitgliederzahlen. Fincke unternimmt in seiner nun vorliegenden Studie nach eigenen Recherchen und kritischer Berufung auf neueste Daten des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes (REMID) den Versuch einer zahlenmäßigen Bestandaufnahme.[10] Der Herausgeber wiederum bleibt bis zur Vorlage einer verifizierbaren Datenbasis bei seiner auf jahrelanger teilnehmender Beobachtung fußenden Angabe, das organisierte „säkulare Spektrum“ habe gegenwärtig die gleiche Mitgliederstärke wie 1914 – etwa 25.000–30.000 Personen.
Ein Dialogangebot
Die Publikation der Analyse in einem Verlag wie Alibri, der durch seine kirchen- und religionskritischen Publikationen, darunter das von Fincke umfänglich angeführte „Ferkelbuch“ von Michael Schmidt-Salomon, über die Grenzen der „säkularen Szene“ hinaus sich bekannt gemacht hat, ist nicht selbstverständlich. Das wird sicher Kritik auslösen – von kirchlicher Seite wie von den im Buch porträtierten Verbänden. Das kann heilsam sein. Aber wie anders soll Dialog aussehen: Wer austeilt, muss auch einstecken können – aber wieso in der Reihe Humanismusperspektiven?
Die „säkulare Szene“ legt großen Wert auf ihre Wertschätzung von Wissenschaft. Fincke legt einen kultursoziologischen Text vor, keinen theologischen, obwohl dies sein Beruf ist. Er unterbreitet Argumente und nennt Gründe für seine Urteile. Ein solches Herangehen ist in meinen Augen nahe am Humanismus.[11] Vor allem pflegt Fincke den Zweifel, nicht an seinem Glauben (der ist, wie meine Weltanschauung, nicht verhandelbar, weil nicht vergleichbar), sondern anhand empirischer, überprüfbarer Feststellungen.
Atheismus/Theismus
Das ein Theologe, ein Theist, der die „säkulare Szene“ untersucht, vor allem am Atheismus dort interessiert ist, versteht sich von selbst. Das ist ein anderer Schwerpunkt als z.B. ein mögliches Fragen nach dem Humanismus dort. Finckes Studie führt nun vor Augen, dass im „säkularen Spektrum“ selbst das Interesse am Atheismus abnimmt, andere Aspekte in den Vordergrund rücken, etwa Fragen des Humanismus oder der Kirchenpolitik oder der eigenen Sozialarbeit usw.
Diese abnehmende Wissbegierde hängt eng, wie Fincke zeigt, mit der Zunahme der Zahl der Konfessionsfreien, verbunden mit dem großen Disinteresse der Kirchenoberen daran, der Öffnung der Kirchen zu mehr Pluralität und dem Nachlassen eines direkten Missionsbedüfnisnisses, in dem eine Bekehrung zum christlichen Glauben offen mit „Gott“ argumentiert. Alle Religionen, so weit sie öffentlich auftreten, zeigen Distanz zu Fundamentalismen in ihren Reihen. Es sind aber gerade diese, bei denen die Gottesfrage den Kern ausmacht. Dagegen werden immer mehr Fragen der Moral, des ethischen Entscheidens in den Mittelpunkt gestellt. Belege dafür finden sich der Praxis des Religionsunterrichts.[12]
In einer solchen Situation geht parallel zu einem „Christentum light“ auf der anderen Seite das Interesse am Atheismus zurück, zumal dieser das Problem hat, keine Weltanschauung, sondern eine philosophische Position gegen Theismen und ihre Theologien zu sein. Auf dieser Basis der Verneinung einer Überperson oder eines Über-Prinzips sind mehrere Weltanschauungen möglich mit diversen politischen und praktischen Folgerungen zwischen ultralinks bis bis ganz rechts. Es ergibt sich hier ein ähnliches Problem wie bei „säkular“. Es gibt konservative, kommunistische, völkische und viele andre Atheismen.
In einer vergangenen Zeit, als Thron und Altar noch engstens verbunden waren und Staatspolitik eine göttliche Begründung hatte, war jeder Atheismus zugleich ein radikaler Angriff auf die konkrete Herrschaftsform; und als es noch üblich war, Religion und Wissenschaft gegenüberzustellen (bis sie sich in den letzten hundert Jahren endgültig trennten und sich nicht mehr viel zu sagen haben), war Atheismus Teil jeder wissenschaftlichen Wahrheit. Noch gibt es einige Überbleibsel, aber im Großen und Ganzen ist die historische Rolle des Atheismus rückläufig, zumindest hierzulande.
Terrorismus (z.B.) kann zwar theistisch begründet, aber nicht atheistisch erklärt werden. Solche Sachen sind viel zu komplex. Das bedeutet, dass es eine fortwirkende, zu überwindende, aufzuklärende, intellektuelle Abstinenz und grundsätzliche Distanz derjenigen, die sich als Atheisten organisieren, zu Weltanschauungen gibt, besonders dem Humanismus. Das wiederum, Fincke zeigt es, führt bei organisierten Humanisten, etwa im HVD, zu einem Desinteresse am Atheismus.
Im ausführlichen Interview der beiden Hauptverfasser des HVD-Selbstverständnisses von 2015,[13] Alexander Bischkopf und Ralf Schöppner im Februar 2016 wird das Fehlen dieser Kategorie in einen ganz anderen Kontext gestellt. Eine Frage sei gewesen: „Soll das Selbstverständnis dementsprechend ein dezidiert ‘atheistisches Bekenntnis’ formulieren (auch wenn ‘Atheismus’ als Wort nicht mehr explizit genannt wird)“.[14]
Noch bei der Gründung des HVD 1993 rief der Verband noch „alle Konfessionslosen, Atheistinnen und Atheisten, Agnostikerinnen und Agnostiker, Freidenkerinnen und Freidenker sowie freigeistigen Menschen“ zur Gemeinsamkeit auf. Er wolle die Interessen der „Konfessionslosen“ vertreten, „egal ob sie sich als Freidenker, Humanisten oder Atheisten bezeichnen“. Er bot ihnen sein „Bekenntnis zu einer weltlich humanistischen Lebensauffassung“ an.
Was ist Kirche?
Fincke stellt uns im Buch seine Kirche und die katholische vorwiegend als Heilsgemeinschaft vor und sowohl Caritas, Diakonie und andere unmittelbare Einrichtungen als auch die „säkulare Szene“ dazu in Beziehung. Aber die zunehmenden Probleme im Staat-Kirche-Verhältnis, die in der Gesellschaft artikuliert werden besitzen viel größere Dimensionen, denn die Kirchen sind nicht nur Heilsgemeinschaften, sondern auch Interessenorganisationen, Steuerverbände, Arbeitgeber, Großgrundbesitzer und Kulturbetriebe. Sie haben Verlage, Brauereien, Bauernhöfe, Stiftungen, Krankenhäuser, Kindergärten, Hospize und Seniorenresidenzen. Die Kirchen sind auch ganz normale Wirtschaftsunternehmen, die entsprechend kommerziell und säkular handeln und sich aus eigenen Banken, privaten und öffentlichen Mitteln, aber auch diversen Kassen finanzieren, darunter jene der Krankenversicherung.
Es ist ihnen mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts gelungen, einen Großteil ihrer entsprechenden Tätigkeiten als „verkündigungsnah“ zu verteidigen. Dies aber dient nicht nur der Durchsetzung spezieller Moralvorstellungen in diesen Tätigkeitsfeldern, sondern auch der Anwendung eines besonderen Kündigungsrechts, das etwa die Entlassung Wiederverheirateter wegen des Bruchs des Sakraments der Ehe in katholischen Einrichtungen erlaubt. Wer Lumpen sammelt oder Bier braut, muss Steuern zahlen; wer dies als Kirchenbetrieb macht, genießt Privilegien.[15]
Dabei ist die Herleitung kirchlicher Sonderrechte neueren Datums – und damit gerade keine reine Fortschreibung alter Vorrechte des 19. Jahrhunderts.[16] Vielmehr ist sie das Ergebnis kirchlicher Lobbyarbeit und in christlicher Sorge befangener Richter in Zeiten fortgesetzter Säkularisierungen der gesellschaftlichen Rechtsverhältnisse. Insbesondere die Bundesverfassungsrichter haben Neuschöpfungen eingeführt, die das Grundgesetz nicht vorsieht. Dass diese einseitigen Unterstützungen der christlichen Religionen selbstredend künftig auch der Islam in Anspruch nehmen kann, macht kommende religionspolitische Konflikte interessant und verpflichtet zu besonderer Aufmerksamkeit.[17]
Einige weitere Politikfelder im Staat-Kirchen-Weltanschauungs- und Religionsbereich dürften künftig ebenfalls spannend werden. Zwei sollen abschließend herausgehoben werden, eben weil sie Fincke in seinem Buch behandelt: die vom Grundgesetz geforderte Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen einerseits, das Problem des Religionsunterrichts andererseits.
Ein einfacher und doch komplizierter Fall sind die abzulösenden „Staatsleistungen“ der Länder an die Kirchen.[18] Nach übereinstimmenden Ansichten werden mit diesem Begriff im engeren Sinne die nach dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 als Entschädigungen für Enteignungen während der napoleonischen Kriege gewährten und in der Geschichte seither angewachsenen Zahlungen bezeichnet.[19]
Diese umfassen über 500 Millionen Euro, sie machen aber nur einen Teil der aktuellen Staatsleistungen insgesamt aus,[20] rechnet man hierunter das komplette System öffentlicher Förderungen und Subventionen. Diverse staatliche Gesetze regeln heute die Leistungen, die Kirchen und andere freie Träger aus diversen öffentlichen Kassen erhalten. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bewegen sich nicht nur innerhalb eines „Kulturmarktes“, in dem Sinnangebote und Rituale käuflich erwerbbar sind, sondern in einem komplexen Geflecht öffentlicher Zuwendungen, in dem die Kirchen auf ihrem „Privilegienbündel“ beharren.
Wie in dieser Gemengelage eine „Ablösung“ erfolgen soll, die dem Grundgesetz, den Intentionen von 1919, aber auch der heutigen ökonomischen und sozialen Wirklichkeit entspricht, und ob die „Ablösung“ gewissermaßen mit Ablösungen zu honorieren wäre – das sind offene Probleme, in denen Rechtsfragen eher abgeleitete als strukturierende Komponenten sind.
Für die Kirchen vorteilhaft ist erstens, dass sich in keiner politischen Partei für diese Ablösungen einflussreiche politische Kräfte formieren; man hält zu diesen Millionenausgaben stille Distanz. Zweitens sind diejenigen, die sich für eine Ablösung stark machen, konzeptionell über die einzuschlagende „Aufbau- und Abbaustrategie“, beziehungsweise, anders ausgedrückt: die Gleichbehandlung Aller oder den Laizismus zerstritten.[21]
Gleiches gilt beim Thema Religionsunterricht: Kritiker sehen dieses Schulangebot in erster Linie als besonderes Kirchenprivileg, die christliche Religion auch in Zeiten der Säkularisierung in der Gesellschaft durchzusetzen. Ein historischer Irrtum. Schließlich war es der Staat, der mit dem staatlichen Religionsunterricht den Kirchen, statt ihnen ein Privileg einzuräumen, den Auftrag gab, die erforderlich gehaltene, allgemeine moralische Erziehung der Staatsbürger zu garantieren.
Wenn der heutige Staat der neuen pluralen Situation gerecht werden will, dann hat er für das Ende des christlich-kirchlichen Monopols zu sorgen, denn die Kirchen sind aktuell keinesfalls mehr in der Lage, eine allgemeine Moral zu garantieren.
Fazit
Sieht man die Welt von den Konfessionsfreien aus, kann man zugespitzt sagen, Kirche und Religion sind derart belanglos, dass sich kaum jemand dagegen positionieren möchte. Aber andererseits sind sie enorm erfolgreich und haben dort ein hohes Ansehen, wo sie – man könnte sagen verkündigungsfern – „Dienstleistungen“ anbieten, seien es Diakonie oder Caritas, aber auch durch Schulen und Kunstdarbietungen in Kirchen.
Genau darin liegt ein Kernproblem der „säkularen Szene“: Was sollen Konfessionsfreie dagegen haben, wo sie doch als Kunden ernst genommen und in der Regel gut bedient werden? So akzeptieren sie nebenbei, weil es dazugehört, auch das, was den Gläubigen „Heilsgemeinschaft” ist. Wo soll da ein Verband der „säkularen Szene“, etwa der HVD, in dieser Situation ansetzen – zumal die Kirche sich selbst durch ihre entsprechenden Angebote immer weiter säkularisiert.
Fincke meint, bezogen auf die erfolglose Kampagne der Kirchen in Berlin „Pro Reli“ 2009: „Die Kirchen könnten aus dieser Niederlage lernen, dass sie sich über ihren Rückhalt im Volk Illusionen machen.“ Ich würde das verallgemeinern, auf die „säkulare Szene“ ausdehnen und sagen, dass sie sich über ihren Rückhalt bei den Konfessionsfreien keine Illusionen machen sollte. Vielleicht verhilft das vorliegende Buch zu Erkenntnisfortschritten über die eigene Lage.
Zum Schluss eine Anmerkung: Andreas Fincke und ich kennen uns seit vielen Jahren und haben aus vielen Anlässen heraus und an verschiedenen Orten, wenn auch meist in Ostdeutschland, auf verschiedenen Podien, Kirchentagen und Konferenzen und jeweils in verschiedenen Funktionen öffentlich Dialog geführt. Erstmals fand das Unternehmen unter dem Titel „Gibt es eine humanistische Konfession?“ auf einem Podium in der Marktkirche Halle/Saale am 31. Oktober 2002 zum Reformationstag nach einem Gottesdienst statt.[22] Mehrfach lautete später das Thema: „Woran glaubt, wer nicht glaubt?“ Ohne diese regelmäßigen Streitgespräche hätte es nicht diverse Lernprozesse gegeben, wäre nicht das Vertrauen entstanden, das nun vorliegende Buch zu produzieren.
Fußnoten
- Vgl. Handbuch der freigeistigen Organisationen und Personen in Deutschland. Ein Projekt der Humanistischen Akademie. Herausgeber: Renate Bauer, Dr. Horst Groschopp (Koordination), Manfred Isemeyer, Dr. Volker Mueller, Norbert Pech unter Mitarbeit von Daniel Küchenmeister und Dr. Eckhard Müller (Kulturhistorisches Archiv). In: humanismus aktuell, H. 6, 2000, S. 102–107. ↑
- Vgl. Max Henning im Auftrage des Weimarer Kartells (Hrsg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Jahrbuch des Weimarer Kartells 1914. Mit einer Übersichtskarte. Frankfurt a.M. 1914. ↑
- Zum freidenkerischen Säkularisierungsbegriff und zu den Adjektiven „säkular“ bzw. „weltlich“ in der betreffenden „Szene“ vgl. Horst Groschopp: Pro Humanismus. Eine zeitgeschichtliche Kulturstudie. Mit einer Dokumentation. Aschaffenburg 2016, S. 53–59, 97–109. ↑
- Helmut Fink: Säkulare Organisationen in Deutschland. Traditionen, Positionen, Perspektiven. In: Aufklärung und Kritik. H. 43, Nürnberg, Juli 2012, S. 27–47, hier S. 27. – Fink hat dies neulich erneut auf diese Weise begründet und dadurch einige kritische Kommentare herausgefordert. Vgl. Evelin Frerk: Säkulare sind sichtbarer geworden. Interview mit Helmut Fink, https://hpd.de/artikel/saekulare-sind-sichtbarer-geworden-14191 (abgerufen am 18.3.2017). ↑
- Vgl. Groschopp: Pro Humanismus, Dokument 1, S. 171–182. – Dieses Vorwort greift einige Passagen aus diesem Text auf. ↑
- Vgl. https://fowid.de/meldung/saekulares-spektrum-deutschland-2017 (abgerufen am 23.3.2017). ↑
- Vgl. Andreas Fincke: Freidenker-Freigeister-Freireligiöse. Kirchenkritische Organisationen in Deutschland seit 1989. Berlin 2000, S. 53 ff. (EZW-Text Nr. 162). ↑
- Vgl. Horst Groschopp: Säkulare und freigeistige Organisationen in Deutschland 2007. In: humanismus aktuell, H. 20, 2007, S.123–127. ↑
- Vgl. Christine Mertesdorf: Weltanschauungsgemeinschaften. Eine verfassungsrechtliche Betrachtung mit Darstellung einzelner Gemeinschaften. Frankfurt a.M. 2008. ↑
- Vgl. http://remid.de/neue-datenblaetter-organisierte-konfessionsfreie-und-yeziden-als-eigene-kategorien – http://remid.de/info_zahlen/konfessionsfreie (beide abgerufen am 18.3.2017). ↑
- Vgl. die entsprechenden Lemmata in: Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf: Humanismus: Grundbegriffe. Berlin/Boston 2016. ↑
- Eine gute Bekannte, die bekennendes Kirchenmitglied ist, teilte mir neulich erfreut mit, im Religionsunterricht ihres Sohnes in der 8. Klasse gehe es derzeit um Humanismus und ob ich da nicht etwas verständliche Literatur hätte, denn schließlich gehe es um Aufklärung. Man könne ja nicht immer die gleiche Jesusgeschichte erzählen, dass würde die Kinder langweilen. ↑
- HVD (Hrsg.): Humanistisches Selbstverständnis 2015. Beschluss des Präsidiums des Bundesverbandes vom 19. September 2015. vgl. http://www.humanismus.de/sites/humanismus.de/files/Humanistisches_Selbstverstaendnis_2015-web.pdf (abgerufen am 1.3.2016). ↑
- Was uns verbindet. Interview [mit Alexander Bischkopf und Ralf Schöppner, den Hauptverfassern des HSV 2015]. Homepage des HVD-Bundesverbandes, 25. Februar 2016, vgl. http://www.humanismus.de/aktuelles/was-uns-verbindet (abgerufen am 26.2.2016). ↑
- Vgl. dazu umfänglich den Band 2 in dieser Reihe von Thomas Heinrichs: Religion und Weltanschauung im Recht. Problemfälle am Ende der Kirchendominanz. Aschaffenburg 2017. ↑
- Noch mit einer weitgehenden Kontinuität argumentiert Johannes Neumann: Für eine – neue – humanistische Sozialpolitik. In: humanismus aktuell, H. 3, 1998, S. 20–28. ↑
- Das Folgende ist einem Text von mir entnommen, der in der Zeitschrift INDES erscheint: Verkünder einer allgemeinen Moral? Über den Bedeututngsverlust der Kirchen und seine gesellschaftlichen sowie rechtlichen Folgen. ↑
- Nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 138, Satz 1 WRV per Gesetz des Reichstages. „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“ ↑
- Zum Reichsdeputationshauptschluss vgl. humanismus aktuell, H. 10, 2002 und H. 12, 2003. ↑
- Vgl. Carsten Frerk, Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland. Aschaffenburg 2002. ↑
- Vgl. Horst Groschopp (Hrsg.): Humanismus – Laizismus – Geschichtskultur. Aschaffenburg 2013. ↑
- Meinen damaligen Redetext habe ich dokumentiert, vgl. http://www.horst-groschopp.de/content/woran-glaubt-glaubt (abgerufen am 30.3.2017). ↑
Quelle: Horst Groschopp: Das “säkulare Spektrum”. Vorwort des Herausgebers. In: Andreas Fincke: Mit Gott fertig? Konfessionslosigkeit, Atheismus und säkularer Humanismus in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme aus kirchennaher Sicht. Hrsg. von Horst Groschopp. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2017, S. 7–16 (Humanismusperspektiven, Bd. 3)