Der Humanismus und das Schwein

Brief an die Stu­den­tin Chris­ti­ne L. (Ber­lin) vom 27. April 2010.

Die Stu­den­tin hat­te eine Anfra­ge, betref­fend das aktu­el­le Mensch-Tier-Ver­hält­nis. Sie sei auf einem klei­nen Bau­ern­hof auf­ge­wach­sen. Dort habe sie ein bestimm­tes Ver­hält­nis zu den Tie­ren erlernt.

Das sei tra­di­tio­nell, da es zu den Haus- und Nutz­tie­ren ein inten­si­ves Ver­hält­nis gab, beson­ders zu den Schwei­nen – von der Auf­zucht mit der Fla­sche, da sie oft von der Mut­ter­sau ver­sto­ßen wur­den, bis hin zum Tag, als der Schlach­ter oder der Tier­trans­por­ter kam und sie abhol­ten. Schwei­ne als tie­ri­sche Wesen hät­ten etwas Wit­zi­ges und Lus­ti­ges, sie tei­len ihre Gefüh­le mit, da sie auch sozia­le Wesen seien.

Die Tier­hal­tung der Nutz­tie­re habe sich seit den 1970er Jah­ren stark ver­än­dert, das zei­ge sich am Bei­spiel der Schwei­ne ganz beson­ders. Wie­sen und Sulen für Schwei­ne ken­ne kein Kind mehr. Doch Heut­zu­ta­ge ist es nicht nur die Sau­en­hal­tung und die Mast­tier­hal­tung, die bedenk­lich erschei­nen. Die Gen­for­schung hat in den 1990er Jah­ren die gene­ti­sche Ver­wandt­schaft zu uns Men­schen auf­ge­deckt, somit ist das Schwein – mit huma­nem Gen­ma­te­ri­al bestückt – auch zu einem leben­den Ersatz­teil­la­ger für den Men­schen gewor­den. Das betrifft nicht nur das Insu­lin für Dia­be­ti­ker, son­dern auch Herz, Nie­re und ande­re Orga­ne wer­den mit­tels der Schwei­ne für den Men­schen gezüchtet.

Ist die­ser For­schungs- und Ent­wick­lungs­zweig für uns Men­schen wirk­lich erstre­bens­wert und not­wen­dig? Oder lässt sich das unter huma­nis­ti­schen Gesichts­punk­ten auch anders betrach­ten? Nun, viel­leicht ist die Betrach­tung der „Schwei­ne­rei“ ein mög­li­ches The­men­ge­biet für Prü­fun­gen im Fach Lebenskunde.

Es gibt da doch span­nen­de Ansät­ze wie „Der Huma­nis­mus und die Haus­tier­hal­tung – Bei­spie­le aus der Tier­hal­tung am Bei­spiel des Schweins und deren huma­nis­ti­sche Bewer­tung (Sau­en­zucht / Mast­tier­hal­tung / Ersatz­teil­la­ger Schwein).“ „Soll Tier­zucht heu­te das Schwei­ne­le­ben als Wild­schwein­le­ben anstre­ben?“ „Soll­ten Stadt­kin­der sys­te­ma­tisch zum Besuch von Kin­der­bau­ern­hö­fen und zu Tier-Beob­ach­tun­gen zu den Grund­la­gen domes­ti­zier­ten Schwei­ne­le­ben ani­miert wer­den?“ „Kann die Nähe zum Tier und Wis­sen über das Tier huma­nis­ti­sche Hal­tun­gen beför­dern?“ „Bedarf es nicht in den Schu­len der Auf­klä­rung über christ­li­che, mus­li­mi­sche, jüdi­sche Hal­tun­gen zum Tier und spe­zi­ell zum ‘dre­cki­gen’ Schwein und über Rede­wen­dun­gen wie Dreck­sau oder Fer­kel, aber auch Glücks­schwein und ‘Schwein gehabt’?“

Oder mal ganz anders, auf Gesell­schaft bezo­gen: „Wann darf man eigent­lich ein Schwein sein?“

Lie­be Kollegin,

das ist ein wei­tes Feld und sehr span­nend, denn weder das Schwein, noch der Mensch sind die, die sie mal waren. Obwohl sie gene­tisch weit­ge­hend iden­tisch geblie­ben sind, so ist doch ihre Kul­tur-Sym­bio­se eine ande­re gewor­den, wenn auch die Wer­tun­gen der Men­schen, soweit die Öffent­lich­keit sie erreicht, so tun, als sei das noch irgend­wie so wie damals auf dem Bau­ern­hof. Inter­es­sant in die­sem Gefü­ge ist, dass „grün-beweg­te“ Men­schen begin­nen, sich Schwei­ne in der Woh­nung zu hal­ten, eben wegen der gesel­li­gen Art, als Spiel­ge­fähr­ten für die Kids. Doch Bors­ten­trä­ger schei­ßen alles voll (sind ja kei­ne Hun­de), und dann will sie nie­mand schlach­ten (Kanz­ler Schrö­der muss­te auch sei­ne Weih­nachts­gans leben lassen).

Auf dem Bau­ern­hof ist alles noch in einem Kreis­lauf. Der Bau­er hat ein ach­ten­des Ver­hält­nis zum Schwein, weil er es für des­sen End­be­stim­mung braucht. Er will die Vie­cher nicht aus­wil­dern, was gegen deren und sei­ne Natur wäre. Das ist doch fast wie mit den Kühen, die, wenn man ihnen ihre Milch lässt, elend kre­pie­ren. Die Hüh­ner wie­der­um wür­den ihre Eier sogar aus­brü­ten – aber wohin mit den gan­zen Hühnern?

Weder das Huhn, das Schwein, die Haus­ka­nin­chen, noch die Kuh „den­ken“ sich ihr trau­ri­ges Ende oder den Dieb­stahl an ihnen, von denen her (Fleisch wie Milch) nun plötz­lich (Post­mo­der­ne) ein mora­li­scher Druck auf uns aus­ge­hen soll, kei­nen Käse mehr zu essen und das Steak zu lassen.

Beim Pferd hat das kul­tu­rell funk­tio­niert. Das Pferd, mehr noch das ansons­ten  hier­zu­lan­de unnüt­ze Pon­ny, ste­hen uns seit „Fury“, einem Kin­der­buch, das mich aus dem Wes­ten im Osten erreich­te, bevor wir einen Fern­se­her mit West­fern­se­hen hat­ten und ich die gleich­na­mi­ge Serie sah plus Fil­me über „Mis­ter Ed“, das spre­chen­de Pferd. Seit es kei­ne Acker­gäu­le mehr gibt, ken­nen wir Pfer­de nur noch als lie­be Tie­re in den vie­len Tier­par­ken, auf denen mei­ne Enke­lin­nen gegen Geld rei­ten. Nur böse Pfer­de tre­ten Phi­lo­so­phen wie Nietz­sche tot, das ist vor­bei … vom Auto über­fah­ren zu wer­den, macht das Auto nicht böse.

Klar, dass wir Pfer­de­fleisch äch­ten und der Pfer­de­schläch­ter erst zur Unper­son wur­de und dann sei­nen Job ver­lor. Ich selbst habe Pfer­de­würs­te als Kind – die Land­wirt­schaft der DDR wur­de indus­tria­li­siert und das Ange­bot war bil­lig, gut und groß – so lan­ge gern Pferd geges­sen, bis ich rea­li­sier­te, dass das Fleisch vom Pferd war … gro­ßes Kot­zen, seit­dem Hase, Rind, Geflü­gel … und eben Schwein. Eine gro­ße mensch­heits­ge­schicht­li­che Erzäh­lung „beweist“ neu­er­dings, z. B. umwelt­po­li­tisch und Ome­ga-3-Fett-Theo­rie gestützt, dass wir zurück müs­sen zum Getrei­de und zur Möhre.

Der Huma­nis­mus geht vom Men­schen­in­ter­es­se aus. Dien­te das Schwein einst dem Essen, war das gut, weil vie­le Pro­le­ta­ri­er durch Mas­sen­zucht (sie­he Brechts Johan­na der Schlacht­hö­fe) Fleisch auf den Tisch beka­men, wozu die Hüh­ner nicht aus­reich­ten oder der Fisch – der ja bekannt­lich kein Fleisch ist – eben­falls nicht, auch wenn es ihn nur frei­tags gab. Fleisch essen und das zu beför­dern war zu der Zeit humanistisch.

Wenn das Schwein dem Men­schen nun dient beim Insu­lin, dann soll­te das Schwein, wenn es nix and­res als Ersatz gibt, dem durch­aus die­nen, wenn das Schwein dadurch nicht sei­nen Sta­tus als zu ach­ten­des Lebe­we­sen ver­liert. Es bleibt Nutz­tier. Es ist die unper­sön­li­che Indus­trie (schö­ne Grü­ße vom alten Marx), die alles zur Ware macht, und Tier und Mensch glei­cher­wei­se „ver­nutzt“. Schwein und Mensch sind als sol­che unwich­tig, als Nutz­tier und Arbei­ter bekom­men sie Bedeutung.

Ob man so weit gehen soll­te, das Schwein auf den Sta­tus eines „Wir­tes“ zu redu­zie­ren, obwohl es dies im Tier­reich auch gibt, wäre zu dis­ku­tie­ren. Wenn sich aber der Sta­tus des Schweins zum einen auf­wer­tet (schützt das Schwein vor dem Schäch­ten!), zum and­ren abwer­tet (Schwein auf Fließ­band, vor der Öffent­lich­keit in sei­nem opti­mier­ten Kreis­lauf!), könn­te man es ja so hal­ten: die einen wer­den gleich umge­bracht, die and­ren „dür­fen“ Expe­ri­men­ten dienen.

Aber was fand denn hier statt? Men­schen haben mit Men­schen das gemacht, was sie zuvor mit den Schwei­nen begon­nen hat­ten. Das zeigt, dass es huma­nis­tisch wäre, zual­ler­erst die aktu­el­len Bezie­hun­gen auf­zu­de­cken, bevor defi­niert wird, wor­an man sich hal­ten soll­te. Also: Der Huma­nis­mus ist zudem mit einem Pro­blem kon­fron­tiert, das er zunächst ein­mal hin­sicht­lich sei­ner Geschich­te und Kon­se­quen­zen zu dis­ku­tie­ren hat, ehe kon­kre­te Anwen­dun­gen in Umlauf gehen, zumal sich die „For­schungs­frei­heit“ klar äußert. Kern­fra­ge ist, wie gilt hier das Prin­zip der „Men­schen­wür­de“? Was ist dem Men­schen wür­dig im Umgang mit dem Schwein, das es ja kei­ne Schwei­ne­wür­de gibt. Aber wie­so eigent­lich nicht? Doch wo wür­de dies hin­füh­ren, zur „Mücken­wür­de“?

Abschlie­ßend noch dies: Das Schwein ist welt­lich, indi­vi­du­ell, tole­rant, aber lei­der nicht kri­tisch zu uns oder gar soli­da­risch mit Sei­nes­glei­chen, dadurch ist es kul­tur­los und kein Sub­jekt, so dass wir uns um die Schwei­ne sor­gen müs­sen. Hier beginnt Huma­nis­mus, bezo­gen aufs Schwein.

Sie­he hier­zu auch mei­nen Text von 2004
Papa­gei­en­pla­ge in England

Kul­tur­ana­ly­sen

Ire­ne Leh­mann / pixelio.de