Es soll einen Fußballgott geben, sagen sogar Menschen, denen es nach ihrem Glauben verboten ist, einen anderen Gott neben dem ihrer Hauptreligion zu haben. Andere wiederum sagen, Fußball sei eine Religion und heute mächtiger in ihrem Gebrauch als Islam und Christentum zusammen. Einige organisierte Konfessionsfreie wiederum meinen, diese neue Weltanschauung mit ihren Aufmärschen, Ritualen, Fahnen und Gesängen lenke von der Aufklärung ab. Hat der Siegeszug und der Spitzenplatz dieses Spiels gar etwas mit Humanismus zu tun? Das jedenfalls bejahe ich und behaupte, Fußball ist Teil der humanistischen Kultur.
Persönlich bin ich eher Anhänger des american football und als ich noch in der Hauptstadt lebte der Berlin Adler und im Fernsehen der Green Bay Packers (auch weil dort die Fankultur viel toleranter ist und die Fans durcheinander sitzen und nicht gezündelt wird). Aber schon immer interessierte mich auch beruflich die Ritual- und Fankultur des hierzulande allgegenwärtigen Mannschaftssports: Ein wichtiger Sieg ist eine große Nachricht wert. Tausende Begeisterte putzen sich heraus, selbst Atheisten- und Humanistenhäuptlinge unterbrechen deswegen strategische Beratungen.
Männer und immer mehr auch Frauen aus allen Schichten und politischen Richtungen, nahezu jeden Alters geraten in Verzückung, schließen Wetten ab. Selbst Akademiker, sonst eher distinguiert im Verhalten, verkleiden sich und malen ihre Gesichter in den Landesfarben. „Volk“ versammelt sich öffentlich auf Straßen und Plätzen, in Stadien, vor Leinwänden oder in Kneipen, in Oberwesel, des Weitblicks wegen, vor einer Breitwand, um einer ziemlich unnormalen, oft sehr zufälligen, deshalb sehr trainingsbedürftigen Körperbenutzung zuzuschauen.
Seltsam dieses Spiel: Man benutzt hier die Füße, den Oberkörper, den Kopf, nur der Torwart die Hände oder wenn Einwurf ist, auch mal ein Feldspieler. Es entscheidet, wie oft im wirklichen Leben das Glück, wer triumphiert oder leidet. Wer sich für so etwas begeistert und hofft, dass wir Frankreich schlagen, benutzt, trotz mancher sozial bedingter Ausfälle, keine Flinte. Man steht da in diesem Stadion und nebenan ein Holzfäller oder ein Ingenieur oder ein Berufshumanist. Wo gibt es noch dieses Gefühl der (zeitlich endlichen, aber doch erlebten) Gleichheit, auch der Toleranz, verbunden mit dem Gefühl dazuzugehören oder, wie Martin Buber schrieb: Gemeinschaft ist, wo Gemeinschaft stattfindet.
Eine der Voraussetzungen, dass Fußball machbar wurde, war erstens (ein Zeichen von Humanismus?) die Veränderung der Kriegstechnik. Exerzierplätze in den Städten wurden nutzlos. Den Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in Berlin nannten meine Kinder noch „Exer“.
Dann war zweitens Proletariat nötig, Lohnarbeiter, wie jeder bessere Fußballer. Man konnte so der Klasse entfliehen. Der Adel reitete und ruderte, das Bürgertum turnte, der Prolet drosch den Ball – aus Spaß oder für Geld.
Kirchen schauen heute neidisch auf diese andächtigen oder rasenden Massen, mit ihren freiwilligen, selbst erfundenen Choralgesängen, ihren „Sichtelementen“, Fahnen, Fanfaren, Transparenten, Verkleidungen, Faschingsmasken, Aufmärschen und Blicken zum Himmel, bei Heil oder Unheil. Es gelingt aber keiner „Religion“, das Geschehen zu vereinnahmen: „Schalke ist unsere Religion“ hieß es vor einigen Jahren in einem Fan-Flugblatt.
Zwar nehmen inzwischen religiöse Bekundungen zu, doch jeder Theologe weiß: Das ist eine Kultur des Aberglaubens. Gott wird den Ball nicht lenken. Er kann doch nicht auch noch Fußball spielen oder durch eine Madonna Anweisungen übermitteln. Özils Gott ist zu allem Unglück auch noch ein anderer als der von … tja, wer outet sich schon als Christ? Lahm ist nicht mehr dabei. Die Stadien heißen „Dome“ und sehen auch immer mehr so aus. Was ist eine Kirche doch für ein eindimensionales Bauwerk! Wie langweilig ist doch die Inszenierung, wie eine Humanistenvereinsversammlung.
Zu Sonstigem ist eine Kirche nicht viel nütze, kein Kulturhaus, kein Marktplatz oder in welcher Kirche singt Madonna? Viel zu klein, selbst der Petersdom. Wohl deshalb benutzen Päpste wie Udo Lindenberg oder Helene die gleichen Stadien, da passen mehr rein, das kennen die Leute. Das reduziert den Gottesdienst aber auf eine Art Fußball, lässt vergleichen, weil jeder, der will, vergleichen kann, ob er der Oberpriester besser ist als der übliche Stadionsprecher.
Doch all dies macht Fußball nicht humanistisch. Es handelt sich um ein Spiel, für viele die herrlichste Nebensache des Lebens. Dieses Spiel symbolisiert jedoch, akzeptiert und führt vor – unsere gesellschaftlichen Grundtatsachen: Arbeitsteilung, Schicksalsungewissheit, Status- und Positionswechsel, Solidarität und Konkurrenz. Immer wartet ein Ersatzspieler, man will die Unterklassigkeit vermeiden, will aufsteigen, muss dafür im Team arbeiten, aber selbst sehr individuell, einmalig sein.
Man lernt den Auftritt vom Leben zu unterscheiden, kurz: Wir finden hier Demokratie und Befehl, sozialen Kampf und Gleichheit in der Gruppe, aber auch Jüngerschaft, und Heldengedanken und Heiligenverehrung – als ob dies Humanisten fremd wäre. Es gibt Liebhabereien außerhalb schöner Grundsätze. Und: Beim Fußball gibt es noch die Freiheit zum alkoholgestützten, kollektiven Rausch, auch wenn man neuerdings das Rauchverbot durchsetzen will (klar, damit die Bande nicht mit dem Feuerzeug schmeißt, wenn die da unten Scheiße spielen). Jepp: Beim Fußball ist da Abrotzen vor Millionen auf dem Rasen (von der Kamera beobachtet) erlaubt, erwünscht, zeugt von Aufopferung. Man zeigt die schweißtriefenden Leistungsträger.
Vor aller Augen ist es kein Makel zu weinen oder zu schreien. Da verblasst jeder Karneval, jede Wallfahrt. Wir sehen den letzten Rest vorzeigbaren Ausscheidens von Körperflüssigkeiten. Unser Trainer, ein Guru, fasst sich in den Schritt und riecht. Wir erinnern uns, das soll aufputschen, bestimmte Hormone, Testosteron in ihrer Wirkung beschleunigen. Das macht den Typ menschlich, Frauen grinsen, erkennen in dem Trainer, was sie an dem ihren zu Hause auch mitunter beobachten. Erlaubte Animalität ist sonst in unserer Kultur des Körperdressings, der Kleidervorschriften und der Geruchsdiktatur bei Strafe verbotenen öffentlichen Ansehens tabu.
Das Wichtigste aber, was wir sehen, ist der Sieg der Rationalität und der Regelhaftigkeit im Umgang miteinander. Kein Priester achtet auf Moral und Glauben. Es gibt den Schiedsrichter. Dieser ist, wie der Name schon sagt, eine Art herumrennender Jurist, der auf die Einhaltung der Spielgesetze achtet, der Urteile spricht und sofort vollstreckt, der Betrügereien und Fouls bestraft, ganz schnell, sobald er sie erkennt, selbst Berufungsgerichte gibt es, und Fehlurteile allemal. Es sind auch diese Regeln, auf denen die Rituale aufbauen, nicht das Spiel an sich. So müsst Ihr spielen, so nicht! „Wir woll‘n euch kämpfen seh’n“ – für das viele Eintrittsgeld. Alle reden mit, jeder kann das heilige Abseits erklären, auf seine Art.
Selbstredend weiß ich auch Negatives zu berichten und kann lange schwätzen über Fußball als Opium des Volkes, seine Verschleierungsfunktionen, seinen (schwindenden) Macho-Wahn, seine Homophobien, Politikeranbiederungen, die Zerstörung der Kreativität durch Merchandising und Sky, die Unterdrückung der Protestkultur, die Macht der Brauereien … Doch da ich neuerdings als Pessimist gelte, will ich mich auf das Positive beschränken.
Zu den Hooligans will ich abschließend das zitieren, was derjenige Humanist über diese „Halbstarken“ geschrieben hat, der das Wort 1906 nach Deutschland einführte, übrigens als „russisches“ Phänomen (russ. chuligan). Das war Arthur Pfungst, auf den auch die Idee Humanistischer Akademien zurückgeht. Er nahm Bezug auf die damaligen russischen „Schwarzhunderter“, proletarische, uniformierte, präfaschistische Schwadronen Jugendlicher, die über Arme, Juden und Ausländer herfielen.
Pfungst sagte, diese Radaubrüder, Raufbolde und Rohlinge sind „das Erziehungsdefizit der Völker“ und nur „durch Erziehung und soziale Fürsorge … zu beseitigen“. Der von ihm gezeigte Ausweg bestand in kultureller Bildung. Nur sie könne Gewaltangriffe verhindern, denn ein Hooligan sei ein nicht genügend gebildeter Mensch. Wenigstens das ist doch dann ein ziemlich direkt humanistischer Abgesang in diesem Text.
(Zuerst 2012 auf diesseits.de, dort nicht mehr verfügbar, in dieser Fassung beim hpd)