Humanismus als kulturelle Weltanschauung

humanismusperspektiven.jpgWeltanschauungen „leben“ in Kulturen

Der fol­gen­de Text will zei­gen, dass sich der Welt­an­schau­ungs­be­griff seit sei­nem Ent­ste­hen an der Wen­de zum 19. Jahr­hun­dert nicht grund­sätz­lich geän­dert hat. Er ist noch immer gebräuch­lich als Ver­ständ­nis von der „Gesamt­sicht von Gott, Welt und Men­schen“[1], wird als „see­lisch-geis­ti­ge Grund­hal­tung und Ein­stel­lung“[2] genom­men und ging nach 1900 in die Wör­ter­bü­cher ein, so in Meyer’s Kon­ver­sa­ti­ons­le­xi­kon von 1909 (Band 20). Der Begriff (und was er abbil­det) hat aber meh­re­re Meta­mor­pho­sen durch­ge­macht und vie­les von dem, was er einst mein­te, bezeich­nen wir heu­te mit Kulturwörtern.

Noch immer ist „Welt­an­schau­ung“ ein Ober­be­griff für eine jewei­li­ge Gesamt­heit von Auf­fas­sun­gen über den Auf­bau, den Ursprung und Ziel, Sinn und Wert der Welt und des Lebens. So fin­det er sich in ent­spre­chen­der phi­lo­so­phi­scher und theo­lo­gi­scher Lite­ra­tur. Welt­an­schau­un­gen sind dann reli­giö­se und – wenn man so will – welt­li­che Über­zeu­gun­gen. Eine ande­re, enge­re Fas­sung von Welt­an­schau­ung meint nur die letz­te­ren, sozu­sa­gen „welt­li­che Weltanschauungen“.

Zugleich ist Welt­an­schau­ung „kul­tu­rel­ler“ (brei­ter, sinn­hal­ti­ger, wer­ten­der …) gewor­den. Das hängt mit der soeben ange­deu­te­ten Ein­gren­zung zusam­men. Der Begriff meint inzwi­schen vor­wie­gend säku­la­re Sicht­wei­sen und bezieht die­se auf Gemein­schaf­ten, in denen sie geteilt wer­den. Auch Huma­nis­mus ist in die­sem Kon­text eine Welt­an­schau­ung und damit ein Bekennt­nis. Dies wie­der­um ist aber ein neue­res Pro­dukt sozi­al­kul­tu­rel­ler Ent­wick­lun­gen, das sei­ne Bestän­dig­keit erst bewei­sen muss.

Unter Huma­nis­mus wird im Fol­gen­den eine his­to­risch gewor­de­ne Auf­fas­sung von Barm­her­zig­keit, Bil­dung und Mensch­lich­keit ver­stan­den, die welt­an­schau­li­che Rich­tun­gen bün­delt, die von Men­schen, die die­se Ansich­ten tei­len und fort­ent­wi­ckeln, in lebens­welt­li­che Struk­tu­ren umge­setzt wer­den. Die huma­nis­ti­schen Über­zeu­gun­gen sind dadurch cha­rak­te­ri­siert, dass sie Wür­de mit einem ratio­na­len Her­an­ge­hen zu defi­nie­ren ver­su­chen, in dem sie nach­voll­zieh­ba­re Grün­de dafür ange­ben, war­um die sich äußern­den mensch­li­chen Sub­jek­te dar­in Ant­wor­ten auf Fra­gen nach den Ursa­chen und dem Sinn des Daseins in der Welt sehen. Fra­gen und Ant­wor­ten sind dabei anthro­po­zen­trisch ori­en­tiert – auf Men­schen bezo­gen und von ihnen ausgehend.

Die Fra­ge nach dem Huma­nis­mus als einer Welt­an­schau­ung ist viel enger als die Fra­ge nach Huma­nis­mus all­ge­mein oder einer huma­nis­ti­schen Kul­tur. Wer sich aber als „Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaft“ dar­stel­len will, muss die­se Enge ver­mei­den und glaub­haft Kul­tur­or­ga­ni­sa­ti­on sein.

Dazu gehört auch, sich in der huma­nis­ti­schen Welt­an­schau­ung als Men­schen­welt gegen­über der Natur­welt, ein­ge­schlos­sen die der Tie­re, zu ver­or­ten. Bei aller „gene­ti­schen Ver­wandt­schaft“ mit höher ent­wi­ckel­ten Tie­ren, bei allen posi­ti­ven Bezü­gen auf die gemein­sa­me Evo­lu­ti­ons­ge­schich­te und bei allen Leh­ren aus kul­tu­rel­len Über­spit­zun­gen der Tier-Mensch-Unter­schie­de in der Ver­gan­gen­heit (Mensch als „Kro­ne der Schöp­fung“) – Huma­nis­mus bezieht sich aus­schließ­lich auf Men­schen. Nur sie sind in der Lage, sich selbst und ande­ren Lebe­we­sen Wür­de zu „ver­lei­hen“. Tie­re, selbst hoch ent­wi­ckel­te Affen, sind weder Brü­der oder Schwes­tern der Men­schen, noch sind sie deren Freun­de, son­dern Lebe­we­sen, die gene­tisch und kul­tur­ge­schicht­lich dif­fe­ren­ziert (Wild­tie­re / Heim­tie­re / Zucht­tie­re / Zoo-Tie­re …) den Men­schen nahe ste­hen, wes­halb Men­schen zu ihnen „Ver­hält­nis­se“ ausbilden.

Schon die­se Andeu­tun­gen füh­ren zu der The­se, dass Huma­nis­mus eine kul­tu­rel­le Welt­an­schau­ung ist. Letz­te­res bedeu­tet, dass es auch natu­ra­lis­ti­sche Welt­an­schau­un­gen und huma­nis­ti­sche Phi­lo­so­phien gibt. Immer dann, wenn Welt­an­schau­un­gen und Phi­lo­so­phien in Argu­men­ta­tio­nen ver­wech­selt wer­den, etwa wenn Huma­nis­mus als eine auf Wis­sen­schaft basie­ren­de „Nicht­re­li­gi­on“ dis­ku­tiert wird (Natu­ra­lis­mus ver­sus Krea­tio­nis­mus), gibt es gedank­li­che Über­gän­ge und theo­re­ti­sche Ver­bin­dun­gen zwi­schen Welt­an­schau­ung und Phi­lo­so­phie, beson­ders wenn Wer­tun­gen vor­ge­nom­men wer­den. Stets sind Welt­an­schau­un­gen viel sub­jek­ti­ver als Phi­lo­so­phien jemals sein wollen.

In bei­den Sphä­ren, der der Welt­an­schau­un­gen und der der Phi­lo­so­phie, kommt Kul­tur – die mehr ist als Kunst – zum Aus­druck nicht nur in der Hin­sicht, dass sich empi­risch zu bele­gen­de Kul­tur­an­schau­un­gen von Kul­tur­phi­lo­so­phien oder ‑theo­rien unter­schei­den.[3] Das wären nur Dif­fe­ren­zen in der „Welt des Geis­tes“. Kul­tu­ren geben viel­mehr den lebens­welt­li­chen wie insti­tu­tio­nel­len Rah­men vor, in dem sich Welt­an­schau­un­gen und Phi­lo­so­phien entfalten.

Der Ein­fluss von Kul­tur ist dort am Größ­ten, wo er gar nicht mehr hin­ter­fragt wird, son­dern als selbst­ver­ständ­li­che „Men­schen­bil­der“, Ein­rich­tun­gen, Nor­men, Ideen, Spra­che, Urtei­le, Ritua­le usw. das Leben prä­gen. Wo Reli­gio­nen vor­herr­schen, sind Kul­tu­ren reli­gi­ös. Es gibt Kul­tu­ren mit hohem und mit nied­ri­gem Reli­gi­ons­an­teil. Und es gibt reli­gi­ons­lo­se Kul­tu­ren, wie der „ost­deut­sche Volks­athe­is­mus“ zeigt. Wis­sen­schaft­lich zu unter­su­chen wäre, wie viel Huma­nis­mus in geleb­ten Kul­tu­ren vor­kommt, als Ver­hal­tens­wei­sen und Wertvorstellungen.

Men­schen „glau­ben“ an die Prin­zi­pi­en, Ansich­ten und Über­zeu­gun­gen ihrer Kul­tur (sonst wäre es ja nicht die ihre) und gren­zen sich von ande­ren ab.[4] Es kom­men in Kul­tu­ren – und dies mehr oder weni­ger domi­nant – reli­giö­se als auch welt­an­schau­li­che Ele­men­te vor. So ist die Ansicht, wir leb­ten im „Abend­land“, durch­aus christ­lich geprägt, aber nicht gänz­lich christ­lich, schon wegen der anti­ken Bezü­ge. „Sozia­lis­mus“ wie­der­um ist mehr oder min­der an Marx oder den Mar­xis­mus ori­en­tiert, aber es gibt einen reli­giö­sen Sozia­lis­mus usw.

Es ist für den aktu­el­len Dis­kurs über Huma­nis­mus bedeut­sam, dass sich die Fra­ge nach der über Reli­gi­on hin­aus­rei­chen­den, der kul­tu­rel­len Beschaf­fen­heit Deutsch­lands stell­te, als neben den christ­li­chen Kon­fes­sio­nen und in ihnen die kon­fes­si­ons­freie Bevöl­ke­rung zunahm und wei­te Berei­che des Zusam­men­le­bens sich kirch­li­chem Ein­fluss ent­zo­gen. Es war ange­sichts die­ser Ver­än­de­run­gen auch logisch, dass sich in den 1980er Jah­ren, als die Fol­gen der über zwei­hun­dert­jäh­ri­gen Säku­la­ri­sie­rung offen­sicht­lich waren, füh­ren­de Juris­ten dem Kul­tur­pro­blem zuwand­ten, z.B. Peter Häber­le.[5] Damals ging es um Debat­ten über den „Kul­tur­staat“. Die­se Dis­kus­sio­nen wur­den nach 2005 wie­der auf­ge­grif­fen. Der Deut­sche Bun­des­tag ver­ab­schie­de­te 2008 sogar eine Kul­tur-Enquete.

Eine wei­te­re Dis­kurs­ebe­ne war – eben­falls die­ser Lage ent­sprin­gend und zusätz­lich moti­viert durch mus­li­mi­sche Zuwan­de­run­gen – die Reli­gi­ons­ver­fas­sung in Deutsch­land und der Platz, den Welt­an­schau­un­gen dar­in haben oder haben soll­ten. Huma­nis­mus wird, den Schwä­chen der ent­spre­chen­den Orga­ni­sa­tio­nen und dem Rück­gang von intel­lek­tu­el­len Antik­ede­bat­ten geschul­det, heu­te eher zag­haft als Welt­an­schau­ung, fast gar nicht als Kul­tur wahr­ge­nom­men. Damit stellt sich die Fra­ge nach einer huma­nis­tisch en Per­spek­ti­ve grund­sätz­lich. Aber Reli­gi­on kommt in vie­len Lebens­be­rei­chen eben­falls nicht mehr vor. Der Kul­tur­be­griff muss die­sen Wan­del verarbeiten.

Der Ver­fas­sungs­recht­ler Die­ter Grimm defi­nier­te in den spä­ten 1980ern Kul­tur als ein letzt­lich vom Indi­vi­du­um aus gese­hen „über­per­so­na­les Sys­tem von Inter­pre­ta­tio­nen, Wer­ten und Aus­drucks­for­men”. Es stel­le „bestimm­te Deu­tungs­mus­ter und Sinn­ent­wür­fe für die Welt und sei­ne eige­ne Befind­lich­keit in ihr zur Ver­fü­gung und ver­mit­telt ihm damit zugleich Ori­en­tie­rungs­wei­sen und Vor­zugs­re­geln, auf die er in Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Ent­schei­dungs­si­tua­tio­nen zurück­grei­fen kann.”[6] Reli­gio­nen sind in die­ser Defi­ni­ti­on in Kul­tu­ren ein­ge­ord­ne­te Phänomene.

Auch die Eth­no­lo­gie sieht Reli­gio­nen als Berei­che oder Tei­le von Kul­tu­ren. Wer nach Kul­tur forscht, so Clif­ford Geertz, bekommt es immer mit Glau­bens­ele­men­ten zu tun, an denen man selbst hängt, die ande­ren wich­tig sind, die in einer Gemein­schaft als „nor­mal”, ein­zig rich­tig und all­ge­mein gül­tig erschei­nen, mit­un­ter als „ewig” oder zumin­dest von lan­ger Dau­er. Kul­tu­ren „leben” durch die­se Gewiss­hei­ten.[7] Die „Hei­lig­keit“ der eige­nen Anschau­un­gen in den eige­nen Kul­tu­ren gegen­über den „Hei­lig­kei­ten“ in ande­ren und deren wis­sen­schaft­li­che Nicht­ver­gleich­bar­keit beschrieb schon Max Weber.[8]

Men­schen „glau­ben“ an die Prin­zi­pi­en, Ansich­ten und Über­zeu­gun­gen ihrer Kul­tur (sonst wäre es ja nicht die ihre) und gren­zen sich von ande­ren ab.[9] Es kom­men in Kul­tu­ren – und dies mehr oder weni­ger domi­nant – reli­giö­se als auch welt­an­schau­li­che Ele­men­te vor. So ist die Ansicht, wir leb­ten im „Abend­land“, durch­aus christ­lich geprägt, aber nicht gänz­lich christ­lich, schon wegen der anti­ken Bezü­ge. „Sozia­lis­mus“ wie­der­um ist mehr oder min­der an Marx oder den Mar­xis­mus ori­en­tiert, aber es gibt einen reli­giö­sen Sozia­lis­mus usw.

Die wich­tigs­te Gemein­sam­keit von Kul­tu­ren und Reli­gio­nen / Welt­an­schau­un­gen ist, dass sie sozia­ler Sub­jek­te bedür­fen, die sie tei­len, tra­gen und leben; zuge­spitzt gesagt: Phi­lo­so­phien „leben“ in Büchern, Reli­gio­nen in Kir­chen oder ent­spre­chen­den Ritua­len. Welt­an­schau­un­gen „leben“ im Leben. Sie sind Bestand­teil von Kul­tu­ren, die sie wesent­lich mit­be­stim­men kön­nen. Das gilt auch für Humanismus.

Die Fra­ge nach dem Huma­nis­mus als einer Welt­an­schau­ung in die­sem Sin­ne meint die­je­ni­gen Tei­le und Rich­tun­gen der Geis­tes- und Orga­ni­sa­ti­ons­ge­schich­te, die zum einen zwi­schen Kunst, Reli­gi­on und Phi­lo­so­phie in den Rea­li­en des Lebens und den Theo­rien dar­über ange­sie­delt sind und zum ande­ren, was davon bekennt­nis­prä­gend, hand­lungs­lei­tend, wer­tend und gemein­schafts­bil­dend ist. Welt­an­schau­un­gen sind im heu­ti­gen Ver­ständ­nis, jeden­falls in Poli­tik und Recht, säku­la­re – im Gegen­satz zu reli­giö­sen – Erklä­run­gen von Welt­all, Erde und Mensch.

Begriffsgeschichte von „Weltanschauung“

Die enge­re Welt­an­schau­ungs­de­fi­ni­ti­on ist his­to­risch bedingt und Pro­dukt kon­fes­si­ons­frei­er Kul­tur­be­we­gun­gen. Das lässt sich an der Begriffs­ge­schich­te zeigen.

Es han­delt sich ers­tens um einen deutsch­spra­chi­gen Begriff, der kei­ne adäqua­te Ent­spre­chung in ande­ren euro­päi­schen Spra­chen besitzt, wes­halb nach den beson­de­ren deut­schen Ver­hält­nis­sen zu fra­gen ist, die eine apar­te Denk­wei­se zwi­schen Theo­lo­gie und Phi­lo­so­phie erzeug­te und fort­be­stehen ließ. Die­ses Bedürf­nis nach einem beson­de­ren Begriff der Welt­an­schau­ung, ange­sie­delt im Raum zwi­schen Wis­sen und Glau­ben, hängt mit den hie­si­gen beson­de­ren Reli­gi­ons­ver­hält­nis­sen zusam­men und der Bin­dung der Kir­chen an den Staat (Ein­heit von Thron und Altar), was wie­der­um „Kon­fes­sio­nen“ erzeugte.

Zwei­tens – und vor allem – wird hier­zu­lan­de „Welt­an­schau­ung“ ver­wen­det im Zusam­men­hang mit „Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaft“ (im Sin­ne des Grund­ge­set­zes). Das erfasst dann – wenn man so will – eine welt­li­che „Glau­bens­form“.

Drit­tens ist „Welt­an­schau­ung“ kein aktu­ell in der Phi­lo­so­phie oder in den Sozi­al­wis­sen­schaf­ten gebrauch­ter ana­ly­ti­scher Begriff, son­dern eher ein Sam­mel­na­me für ver­schie­de­ne Blick­wei­sen auf das Dasein.

Noch ganz wört­lich genom­men fin­det sich „Welt­an­schau­ung“ bei Imma­nu­el Kant 1790 in sei­ner Kri­tik der Urteils­kraft, dann in Johann Gott­lieb Fich­tes 1792 erschie­ne­nem Ver­such einer Kri­tik aller Offen­ba­rung. Hier drück­te „Welt­an­schau­ung“ erst­mals eine Zusam­men­schau der Welt aus. Der Begriff der „Welt­an­schau­ung“ – H. G. Mei­er und ande­ren hier fol­gend[10] – ent­stand Ende des 18. Jahr­hun­derts in Deutsch­land, zunächst in der tran­szen­den­ta­len Phi­lo­so­phie. Er ging von der Fach­spra­che der Phi­lo­so­phie aus. Zeit­ge­nös­si­schen Phi­lo­so­phen kam anfangs des 19. Jahr­hun­derts in den Blick, dass zuneh­mend Sinn­fra­gen außer­halb reli­gi­ös-kirch­li­cher Zusam­men­hän­ge – den Kon­fes­sio­nen – gesucht und gefun­den wur­den.[11]

Fried­rich D. E. Schlei­er­ma­cher fass­te dar­un­ter schließ­lich alle Ideen außer­halb reli­giö­ser Erklä­run­gen und gab dem Begriff „Welt­an­schau­ung“ die Funk­ti­on eines Gegen­be­griffs zu der in den ver­schie­de­nen Glau­bens­wei­sen erfass­ba­ren Got­tes­idee. Das war die Geburts­stun­de von „Welt­an­schau­ung“ als Gegen­be­griff zu Reli­gi­on, wie er sich schließ­lich in der Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung und von aus­ge­hend im Grund­ge­setz findet.

Die­se Unter­schei­dung Schlei­er­ma­chers gab dann Georg Wil­helm Fried­rich Hegel die Mög­lich­keit (nach 1818), „Welt­an­schau­ung“ in den Rang einer phi­lo­so­phi­schen Kate­go­rie zu erhe­ben, bezeich­nen­der­wei­se in sei­ner Ästhe­tik, um Kunst mit Reli­gi­on und Phi­lo­so­phie zu ver­glei­chen. Er leg­te dabei eine Stu­fen­fol­ge der Welt­an­schau­un­gen fest, die in der Geschich­te der Völ­ker jeweils Ver­kör­pe­run­gen des Zeit­geis­tes dar­stel­len, die bis zu ihrer Inte­gra­ti­on in die Phi­lo­so­phie durch­aus plu­ra­lis­tisch neben­ein­an­der existieren.

Im Vor­märz der Revo­lu­ti­on von 1848/49, als ers­te frei­re­li­giö­se Gemein­den ent­stan­den – Gemein­schaf­ten außer­halb der Kon­fes­sio­nen –, die frei sein woll­ten in ihrer Reli­gi­on (noch nicht frei von Reli­gi­on), wur­de der Begriff fast ein „Aus­druck der ästhe­ti­schen Kunst­spra­che“, ein „Ersatz­wort für Ästhe­tik“. Sei­ne Benut­zer, die Pres­se- und Mei­nungs­frei­heit woll­ten – Geis­tes­frei­heit –, benutz­ten ihn, um Thron, Altar und Uni­ver­si­täts­phi­lo­so­phie zu pro­vo­zie­ren. Neu­es Den­ken gehe nicht aus der Phi­lo­so­phie oder der Theo­lo­gie her­vor, son­dern aus den Küns­ten und wer­de von Lai­en außer­halb der eta­blier­ten und ver­be­am­te­ten Phi­lo­so­phie und Theo­lo­gie getragen.

Der Ger­ma­nist Georg Bol­len­beck begrün­de­te im kul­tur­his­to­ri­schen Rück­blick die­sen Vor­gang so: „Durch einen Zuwachs an Bedeu­tungs­in­halt fin­det ‘Bil­dung’ Anschluß an das Den­ken der deut­schen Auf­klä­rung, ohne daß ein offe­ner Bruch mit der Reli­gi­on statt­fin­det. … Die poe­ti­sche Visi­on auf­ge­klär­ter Reli­gio­si­tät und die Gefühls­mäch­tig­keit der Spra­che fas­zi­nie­ren zunächst das Lese­pu­bli­kum. Man liest den Mes­si­as wie ein Andachts­buch.“[12] Auch in der Fol­ge­zeit war die „Ein­stel­lung zur Kunst als einem Medi­um der ‘Bil­dung’ … qua­si-reli­gi­ös. Sie ist, wie es seit der Früh­ro­man­tik heißt, Gegen­stand von ‘Andacht’ und ‘Wei­he’“. Muse­en, Thea­ter und Kon­zert­sä­le waren bis in den Vor­märz die „’ästhe­ti­schen Kir­chen’“.[13]

Genau die­ser Zusam­men­hang, die Ver­mi­schung von Ästhe­tik, Reli­gi­on und Phi­lo­so­phie, mach­te den Kul­tur­be­griff für die­je­ni­gen Frei­geis­ter zwi­schen 1860 und 1900 attrak­tiv, die sich dem Wort „Welt­an­schau­ung“ zuwand­ten, als sie unter dem Ein­druck von Karl Marx und Charles Dar­win eine „wis­sen­schaft­li­che Welt­an­schau­ung“ zu suchen began­nen. Die Bin­dung von Welt­erklä­run­gen an die Spra­che der Küns­te und Künst­ler wie­der­um rück­te das sin­nen­mä­ßi­ge Erfas­sen der Welt – das Anschau­en der Welt – bei den Phi­lo­so­phen und Theo­lo­gen in Reak­ti­on dar­auf in eine nie­de­re, wenn auch akzep­tier­te Form der Erkenntnis.

Lan­ge Zeit wur­de fälsch­lich ange­nom­men, dass Alex­an­der von Hum­boldt mit sei­ner Kos­mos-Theo­rie von 1845 den Begriff „Welt­an­schau­ung“ erfun­den habe. Aber er hat ihm eine natur­wis­sen­schaft­li­che und umfas­sen­de Dimen­si­on gege­ben, die über die Küns­te hin­aus­wies. In den 1880er Jah­ren und danach half die Rezep­ti­on des Dar­win­schen Wer­kes frei- und dann nicht­re­li­giö­se huma­nis­ti­sche Welt­an­schau­un­gen tat­säch­lich zu bil­den – und zwar viele.

In ästhe­ti­schen Äuße­run­gen wie phi­lo­so­phi­schen Trak­ta­ten, die oft wie Dich­tun­gen ver­fasst waren, wur­de zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts mit noch gerin­ger, aber zuneh­men­der Zahl von Kon­fes­si­ons­frei­en, eine neue Adres­sa­ten­schaft ent­deckt, die künf­tig den Ein­satz des Wor­tes „Welt­an­schau­ung“ auf zwei­fa­che Wei­se bestimm­te, näm­lich zum einen als Bezug auf „Ungläu­bi­ge“ und zum ande­ren als Bezug auf Indi­vi­dua­lis­ten. In bei­den Fäl­len kam es zu der Erfah­rung, dass eine indi­vi­du­el­le bzw. grup­pen­be­zo­ge­ne Sicht­wei­se abso­lut und als Seins­norm gesetzt wer­den konn­te. Es voll­zog sich eine regel­rech­te Infla­ti­on in der Erhe­bung von Mei­nun­gen, Nei­gun­gen und des eige­nen Geschmacks in den Rang gel­ten sol­len­der Anschau­un­gen, die dann ande­re anzu­neh­men hät­ten, damit die als rich­tig ange­nom­me­ne Welt­an­schau­ung siegt.

Der Frei­re­li­giö­se Albert Kalt­hoff beschrieb par­al­lel dazu die Reli­gi­on der Moder­nen (1905) als „Poe­ten­phi­lo­so­phie“.[14] Das ver­an­lass­te Fritz Mauth­ner Mit­te der 1920er, nach Vor­la­ge sei­ner Geschich­te des Athe­is­mus[15], zu sagen: „Der müß­te schon ein ganz arm­se­li­ger Tropf sein, wer heut­zu­ta­ge nicht sei­ne eige­ne Welt­an­schau­ung hät­te.“[16]

Welt­an­schau­un­gen als rela­tiv abge­schlos­se­ne Über­zeu­gungs­sys­te­me beka­men durch die kom­mu­nis­ti­schen und natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Bewe­gun­gen zu die­ser Zeit bis in die 1950er Jah­re Kon­junk­tur. Beson­ders der Natio­nal­so­zia­lis­mus benutz­te den Begriff „Welt­an­schau­ung“[17], aber auch der rea­le Sozia­lis­mus, der ihn als „wis­sen­schaft­li­che Welt­an­schau­ung“ gebrauch­te. Hier ist zudem wich­tig, aber noch wenig unter­sucht, dass in der DDR von Wal­ter Ulb­richt und Alfred Kurel­la Sozia­lis­mus und rea­ler Huma­nis­mus iden­tisch gesetzt wurden.

Aktu­ell gilt, schon wegen der Kunst­nä­he des Wor­tes, dass im Begriff „Welt­an­schau­ung“ noch immer „Kul­tur“ mit­schwingt, obwohl sich seit den 1970ern, mit Ent­ste­hung der moder­nen Kul­tur­wis­sen­schaft, die mehr sein woll­te als Geis­tes­wis­sen­schaft, ein sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher und eth­no­lo­gi­scher Kul­tur­be­griff eta­blier­te, der das Welt­an­schau­li­che in sich auf­nahm, ohne den Begriff noch zu benö­ti­gen. Ähn­li­ches voll­zog sich in der Phi­lo­so­phie in dem Maße, wie die Kunst- zu Kul­tur­wis­sen­schaf­ten sich wan­del­ten und die Ergeb­nis­se der Natur­wis­sen­schaf­ten „kul­tu­rel­le Fra­gen“ aufwarfen.

Jeden­falls lös­te der Kul­tur­be­griff den der „Welt­an­schau­ung“ fast gänz­lich ab und auch die frei­den­ke­ri­schen Orga­ni­sa­tio­nen ver­stan­den sich – in Ansät­zen schon in 1920ern, aber ab den 1970ern mit Macht – als Kul­tur­or­ga­ni­sa­tio­nen. In den 1990ern sprach man nicht mehr vom Kampf der Welt­an­schau­un­gen, son­dern vom „Kampf der Kul­tu­ren“ und vom „Kul­tur­kampf um das Kopf­tuch“. Das hing damit zusam­men (Stich­wort Glo­ba­li­sie­rung), dass sozia­lis­ti­sche Pro­gno­sen mit dem Zusam­men­bruch des Ost­blocks in Kon­kurs gin­gen und bestimm­te Kul­tur­an­sich­ten mit Hil­fe von Medi­en und Inter­net System‑, Län­der- und Reli­gi­ons­gren­zen über­schrit­ten, egal ob modern oder vormodern.

Die – wie wir sehen wer­den vor­läu­fi­ge – Abkehr vom Welt­an­schau­ungs­be­griff und die Annah­me kul­tu­rel­ler Sicht­wei­sen ver­stärk­te sich in den 1960ern. Eine wei­te­re Ursa­che für die­sen Wan­del war die Her­aus­lö­sung der Dis­kur­se über ethisch-kul­tu­rel­le Fra­gen aus reli­gi­ös-kirch­li­cher Deu­tungs­ho­heit. Konn­te das Arbeits­ethos in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts durch­aus „pro­tes­tan­tisch“ im Gegen­satz zu „katho­lisch“ gefasst wer­den, fiel die­se Unter­schei­dung weg. Glei­ches betraf ande­re Berei­che, die schon begriff­lich „kul­tu­rell“ gese­hen wur­den, wie schon die Namen zei­gen: Kör­per­kul­tur, Sexu­al­kul­tur, Wohn­kul­tur, Tou­ris­mus­kul­tur usw.

Peter Hof­stät­ter hat­te schon 1959 Kul­tur als der „Sum­me der Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten“ defi­niert. Die­se konn­ten zwar reli­giö­se oder welt­an­schau­li­che Beson­der­hei­ten haben, aber sie waren nicht mehr „kon­fes­sio­nell“. Fried­helm Neid­hardt fass­te 1986 Kul­tur Reli­gio­nen über­grei­fend als die „Mythen, Inter­ak­ti­ons­ri­tua­le, vage(n) Wert­vor­stel­lun­gen, Leer­for­meln, Atti­tü­den und Pres­ti­ge­ver­mu­tun­gen“ ihrer Zeit. Kul­tu­ren sind Sys­te­me „kol­lek­ti­ver Sinn­kon­struk­tio­nen, mit denen Men­schen die Wirk­lich­keit defi­nie­ren“.[18] Das Reli­giö­se wie das Welt­an­schau­li­che war in so ver­stan­de­nen Kul­tu­ren nicht mehr prä­gend, son­dern eher Spu­ren­ele­men­te. Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler began­nen an der Wen­de zum 21. Jahr­hun­derts sogar, sich selbst als Kul­tur­wis­sen­schaft­ler zu ver­ste­hen.[19]

Weltanschauung wird juristischer Begriff

Nun lässt sich die­se Wand­lung im Begriff­li­chen auf ihre Anfän­ge zurück­ver­fol­gen gera­de in der Hin­sicht, dass im Gegen­zug zur Aus­deh­nung auf Kul­tur, das Wort „Welt­an­schau­ung“ ein­ge­engt wird auf das, was er in heu­ti­gen Ver­ständ­nis aus­drückt: Säku­la­re Sicht­wei­sen, die von Men­schen in ent­spre­chen­den Gemein­schaf­ten geteilt und gepflegt wer­den. Das kam Frei­den­kern ent­ge­gen, die den Begriff „Welt­an­schau­ung“ benutz­ten, um ihr Recht auf staat­li­che Aner­ken­nung einer per­sön­li­chen oder kol­lek­ti­ven Welt­sicht anzu­mel­den und durch­zu­set­zen. „Welt­an­schau­ung“ wur­de orga­ni­sa­ti­ons­taug­lich und poli­tisch eingesetzt.

In die­sem beken­nen­den Sin­ne ging das Wort „Welt­an­schau­ung“ 1919 in die Wei­ma­rer Ver­fas­sung und 1949 ins Grund­ge­setz der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ein. Seit dem ist – nach Ger­hard Anschütz – „jede Leh­re, wel­che das Welt­gan­ze uni­ver­sell zu begrei­fen und die Stel­lung des Men­schen in der Welt zu erken­nen und zu bewer­ten sucht“, eine Welt­an­schau­ung.[20] „Welt­an­schau­ungs-“ wer­den von „Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten“ unter­schie­den. Das Grund­ge­setz Arti­kel 4, Abs. 1 fußt auf einer Ent­ge­gen­set­zung, die auf Schlei­er­ma­cher zurück geht: „Die Frei­heit des reli­giö­sen und welt­an­schau­li­chen Bekennt­nis­ses sind unver­letz­lich.“[21]

Die Eigen­tüm­lich­kei­ten der his­to­risch gewach­se­nen deut­schen Reli­gi­ons­ver­fas­sung haben nun in den letz­ten Jah­ren dazu geführt, dass par­al­lel zur Anwen­dung kirch­li­cher Rech­te auf die Orga­ni­sa­tio­nen der Mus­li­me auch die Kon­fes­si­ons­frei­en und ihre Orga­ni­sa­tio­nen stär­ker in den Blick kom­men – eigen­tüm­li­cher­wei­se, machen sie doch inzwi­schen ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung aus. Welt­an­schau­un­gen wer­den nun wie­der ver­stärkt dis­ku­tiert – erneut auch unter Juris­ten. Selbst in der Volks­zäh­lung 2011 wird – ent­spre­chend dem „Zen­sus 2011 Gesetz“ von 2009 nach Welt­an­schau­un­gen gefragt wer­den, näm­lich nach dem „Bekennt­nis zu einer Reli­gi­on, Glau­bens­rich­tung oder Welt­an­schau­ung (sun­ni­ti­scher Islam, schii­ti­scher Islam, ale­vi­ti­scher Islam, Bud­dhis­mus, Hin­du­is­mus und sons­ti­ge Reli­gio­nen, Glau­bens­rich­tun­gen oder Welt­an­schau­un­gen).“ Das hängt auch zusam­men mit Art. 137 der Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung, die den Reli­gi­ons­ge­sell­schaf­ten „die Ver­ei­ni­gun­gen gleich­ge­stellt, die sich die gemein­schaft­li­che Pfle­ge einer Welt­an­schau­ung zur Auf­ga­be machen“.

Die Dis­ser­ta­ti­on Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaf­ten von Chris­ti­ne Mer­tes­dorf ist die wohl umfäng­lichs­te Stu­die zu orga­ni­sier­ten Welt­an­schau­un­gen, die bis­her erschie­nen ist.[22] Ihre Defi­ni­ti­on von Welt­an­schau­ung betont die mög­li­che Bedeu­tung im Rechts­ver­kehr der­je­ni­gen kol­lek­ti­ven Sub­jek­te, die mit dem ver­lie­he­nen oder juris­tisch erstrit­te­nen Titel „Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaft“ mit einem „Pri­vi­le­gi­en­bün­del“ (so Mer­tes­dorf) aus­ge­stat­tet sind, das sie aus der Schar „nor­ma­ler“ Kul­tur­ver­ei­ne ver­fas­sungs­recht­lich her­aus­hebt, eben weil sie mit Kir­chen und nicht mit Gesangs­bün­den ver­gli­chen werden.

Mer­tes­dorf schreibt: „Welt­an­schau­ung ist eine wer­ten­de Stel­lung­nah­me zum Welt­gan­zen, wel­che allein unter imma­nen­ten Aspek­ten Ant­wort auf die letz­ten Fra­gen nach Ursprung, Sinn und Ziel der Welt und des mensch­li­chen Lebens zu geben sucht. Eine sol­che Leh­re muss mit der aktu­el­len Lebens­wirk­lich­keit, der Kul­tur­tra­di­ti­on, sowie dem all­ge­mei­nen und reli­gi­ons­wis­sen­schaft­li­chen Ver­ständ­nis ver­ein­bar sein. Maß­ge­bend für die Fra­ge, ob eine Welt­an­schau­ung vor­liegt sind pri­mär objek­ti­ve Kri­te­ri­en.“[23]

Eine Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaft ist in die­sem Sin­ne „ein Zusam­men­schluss von Per­so­nen, der ein Mini­mum an orga­ni­sa­to­ri­scher Bin­nen­struk­tur auf­weist, im Sin­ne der Gewähr der Ernst­haf­tig­keit auf Dau­er ange­legt ist und von einem sich nach außen mani­fes­tie­ren­den gemein­sa­men und umfas­sen­den welt­an­schau­li­chen Kon­sens der Mit­glie­der getra­gen und die­ser Kon­sens – soweit es um die Gemein­schaft als sol­che geht – nach außen bezeugt wird.“[24]– Huma­nis­mus als Bekennt­nis (und Welt­an­schau­ung) ist der Autorin selbst­ver­ständ­lich mög­lich und z.B. beim Huma­nis­ti­schen Ver­band Deutsch­lands (HVD) vorhanden.

Hier schließt sich der ein­gangs eröff­ne­te Kreis, denn die auf „huma­nis­ti­schen Prin­zi­pi­en“ bau­en­de „Welt­an­schau­ung“ des HVD nennt v.a. kul­tu­rel­le Kri­te­ri­en zu ihren Maß­stä­ben: Indi­vi­dua­li­tät, Selbst­be­stim­mung, Welt­lich­keit, Tole­ranz, Soli­da­ri­tät, Kri­tik­fä­hig­keit, Barm­her­zig­keit und Bil­dung in Ver­bin­dung mit der The­se, dass alle Men­schen sich als Men­schen gleich sind. Die dar­aus fol­gen­de Pra­xis zielt auf das Han­deln von Men­schen, die sich die­ser Pro­gram­ma­tik als Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaft aus­drück­lich ver­schrie­ben haben.

Kult- oder Kulturprivilegierung

Die Ver­wen­dung des Begriff Huma­nis­mus in einer kul­tu­rel­len Pra­xis und im Rah­men einer Kul­tur­be­we­gung, die im Namen einer Welt­an­schau­ung prak­tisch und poli­tisch han­delt, bringt – kon­se­quent gedacht – eine beson­de­re Dyna­mik nicht nur in das Staat-Kir­che-Ver­hält­nis, son­dern in das his­to­risch gewach­se­ne Ziel-Den­ken in Gesell­schaft und Staat gene­rell. Wären alle reli­giö­sen und welt­an­schau­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen mit ande­ren Kul­tur­ver­ei­nen im Prin­zip gleich, wür­de dies letzt­lich zwar die Reli­gi­ons- wie die Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaf­ten nicht obso­let machen, aber deren Sta­tus als beson­ders pri­vi­le­gier­te Kör­per­schaf­ten abschaf­fen. Die­se Sach­la­ge garan­tiert ihnen bis jetzt, über den „nor­ma­len“ (ande­ren) Kul­tur­ver­ei­nen zu stehen.

Das wur­de 2008 im Rah­men der Debat­ten um die Kul­tur-Enquete des Deut­schen Bun­des­ta­ges klar sicht­bar. Den Kir­chen gelang es, sich stär­ker als bis­her als auch „nor­ma­le“ Kul­tur­ein­rich­tun­gen dar­zu­stel­len. Die Umset­zung die­ses Kon­zep­tes berei­tet den Kir­chen aber durch­aus stra­te­gi­sche Probleme.

Ers­tens ergibt sich aus dem Kon­zept ganz grund­sätz­lich die Fra­ge nach der Zukunft der (his­to­risch beding­ten) Pri­vi­le­gie­rung von Kult- gegen­über Kul­tur­ein­rich­tun­gen. Wenn sich Kir­chen ins kul­tu­rel­le Fahr­was­ser bege­ben, säku­la­ri­sie­ren sie sich nicht nur wei­ter. Sie wer­den noch stär­ker als Kul­tur­ver­ei­ni­gung wahr­ge­nom­men wie ande­re Kul­tur­bün­de und ‑ver­ei­ne auch. War­um soll­ten sie dann nicht wie sol­che behan­delt werden?

Das wür­de zwei­tens die prin­zi­pi­el­le Gleich­be­hand­lung aller kul­tu­rel­len Orga­ni­sa­tio­nen bedeu­ten – unab­hän­gig von Mit­glie­der­zah­len. Oder bekom­men deut­sche Opern und Thea­ter ihr Geld nach Mit­glie­dern ihrer Freun­des­krei­se? Und was den christ­li­chen Kul­tur­ver­ei­nen gege­ben wird, das wol­len auch die mus­li­mi­schen und huma­nis­ti­schen. Was unter­schei­det schließ­lich die Insze­nie­rung eines Kir­chen­ta­ges von einem Pop­fes­ti­val, einen Got­tes­dienst von einem Ritu­al auf einer ande­ren Büh­ne, eine Kon­fir­ma­ti­on von einer Jugend­wei­he? Wer bekommt wie viel für was?

Innen­kirch­lich – drit­tens – wird sich die evan­ge­li­ka­le Kri­tik an bei­den Kir­chen mit ihren Beam­ten­ap­pa­ra­ten ver­stär­ken. Kann noch dem Kult die­nen, was die All­ge­mein­heit bezahlt und damit „ent­hei­ligt“ hat? Ist es noch ein Got­tes­dienst, wenn man dort Schla­ger singt? Wem gehört eigent­lich die­se oder jene Madon­na? Und gehö­ren nicht die Muse­en ent­sä­ku­la­ri­siert nach dem Motto: Gebt uns unse­re Hei­li­gen­bil­der wieder!

Da der orga­ni­sier­te Huma­nis­mus als kul­tu­rel­le Welt­an­schau­ung nicht in die­sen Wider­sprü­chen leben muss, eröff­nen sich für ihn und für alle huma­nis­ti­schen Grund­rich­tun­gen und Orga­ni­sa­tio­nen neue Chan­cen. Das his­to­risch gewach­se­ne Pri­vi­le­gi­en­sys­tem der Welt­an­schau­un­gen und Reli­gio­nen könn­te ad absur­dum geführt wer­den. Doch hat das „Säu­len­mo­dell“ wahr­schein­lich noch län­ge­re Zeit Funk­tio­nen in die­sem Über­gang zur Gleich­heit aller Kul­tur­or­ga­ni­sa­tio­nen. Die­se Gleich­heit wer­den die Kir­chen mit aller Macht ver­hin­dern wol­len und lie­ber einer Gleich­be­hand­lung von Reli­gi­ons- und Welt­an­schau­ungs­ver­bän­den zustim­men. Es ergä­be dies ein letzt­lich insta­bi­les kul­tu­rel­les Bau­werk, gestützt auf ungleich star­ke Säu­len, die der Anthro­po­so­phen, Chris­ten, Huma­nis­ten, Juden, Mus­li­men, Zeu­gen Jehovas …

  1. F. Kirchner’s Wör­ter­buch der phi­lo­so­phi­schen Grund­be­grif­fe. 6. Aufl. Leip­zig 1911, S.1093.
  2. Deut­sches Wör­ter­buch von Jacob und Wil­helm Grimm. Leip­zig 1854–1960. Bd. 28, Sp.1536/37.
  3. Vgl. Diet­rich Mühl­berg: Woher wir wis­sen, was Kul­tur ist. Gedan­ken zur geschicht­li­chen Aus­bil­dung der aktu­el­len Kul­tur­auf­fas­sung. Ber­lin 1983.
  4. Vgl. Det­lev Ipsen: Regio­na­le Iden­ti­tät. Über­le­gun­gen zum poli­ti­schen Cha­rak­ter einer psy­cho­so­zia­len Raum­ka­te­go­rie. In: Die Wie­der­kehr des Regio­na­len, Über neue For­men kul­tu­rel­ler Iden­ti­tät, hg. v. Rolf Lind­ner, Frank­furt a.M., New York 1994.
  5. Vgl. Peter Häber­le: Ver­fas­sungs­leh­re als Kul­tur­wis­sen­schaft. Ber­lin 1982.
  6. Die­ter Grimm: Recht und Staat in der bür­ger­li­chen Gesell­schaft. Frank­furt a.M. 1987, S.119.
  7. Clif­ford Geertz: Com­mon Sen­se als Kul­tur­sys­tem. In: Ders., Dich­te Beschrei­bung, Bei­trä­ge zum Ver­ste­hen kul­tu­rel­ler Sys­te­me, Frank­furt a.M. 1983, S.261–288.
  8. Vgl. Max Weber: Die „Objek­ti­vi­tät“ sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher und sozi­al­po­li­ti­scher Erkennt­nis (1904). In: Max Weber, Gesam­mel­te Auf­sät­ze zur Wis­sen­schafts­leh­re, Tübin­gen 1922. – Ders.: Die „Objek­ti­vi­tät“ sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher und sozi­al­po­li­ti­scher Erkennt­nis (1904). In: Max Weber, Gesam­mel­te Auf­sät­ze zur Wis­sen­schafts­leh­re, Tübin­gen 1922.
  9. Vgl. Det­lev Ipsen: Regio­na­le Iden­ti­tät. Über­le­gun­gen zum poli­ti­schen Cha­rak­ter einer psy­cho­so­zia­len Raum­ka­te­go­rie. In: Die Wie­der­kehr des Regio­na­len, Über neue For­men kul­tu­rel­ler Iden­ti­tät, hg. v. Rolf Lind­ner, Frank­furt a.M., New York 1994.
  10. Vgl. Hel­mut Gün­ter Mei­er: „Welt­an­schau­ung“. Stu­di­en zu einer Geschich­te und Theo­rie des Begriffs. Inaug.-Diss., Müns­ter 1967. – Wer­ner Betz: Zur Geschich­te des Wor­tes „Welt­an­schau­ung“. In: Kurs­buch der Welt­an­schau­un­gen, Schrif­ten der Carl Fried­rich von Sie­mens Stif­tung, hg. v. Anton Persl u. Armin Moh­ler, Bd.4, Frank­furt a.M., Ber­lin, Wien 1981, S.18–28.
  11. Umfäng­li­cher aus­ge­führt in: Horst Gro­schopp: Dis­si­den­ten. Kul­tur und Frei­den­ke­rei in Deutsch­land. Ber­lin 1997.
  12. Vgl. Georg Bol­len­beck: Bil­dung und Kul­tur. Glanz und Elend eines deut­schen Deu­tungs­mus­ters. Frank­furt a.M., Leip­zig 1994, S.105.
  13. Bol­len­beck: Bil­dung, S.214.
  14. Vgl. Albert Kalt­hoff: Die Reli­gi­on der Moder­nen. Jena, Leip­zig 1905.
  15. Fritz Mauth­ner: Der Athe­is­mus und sei­ne Geschich­te im Abend­lan­de. 4 Bde. Stutt­gart u. Ber­lin 1920–1923.
  16. Fritz Mauth­ner: Wör­ter­buch der Phi­lo­so­phie. Neue Bei­trä­ge zu einer Kri­tik der Spra­che. 2., verm. Aufl., Drit­ter Bd., Leip­zig 1924
  17. Vgl. Armin Moh­ler: Die Kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on in Deutsch­land 1918–1932. Ein Hand­buch. 2., völ­lig neu bearb. u. erw. Fas­sung. Darm­stadt 1972.
  18. Vgl. Peter R. Hof­stät­ter: Ein­füh­rung in die Sozi­al­psy­cho­lo­gie. 2. Aufl., Stutt­gart 1959. – Fried­helm Neid­hardt: Kul­tur und Gesell­schaft. Eini­ge Anmer­kun­gen zum Son­der­heft. In: Kul­tur und Gesell­schaft, Fest­schrift René König, hg. v. Fried­helm Neid­hardt, M. Rai­ner Lep­si­us u. Johan­nes Weiss, Opla­den 1986.
  19. Vgl. Burk­hard Gla­di­gow: Reli­gi­ons­wis­sen­schaft als Kul­tur­wis­sen­schaft. Hg. v. Chris­toph Auf­fahrt und Jörg Rüp­ke. Frank­furt a.M. 2005.
  20. Vgl. Ger­hard Anschütz: Die Ver­fas­sung des Deut­schen Rei­ches vom 11.8.1919. Bad Hom­burg 1960 (zuerst 1921), S.649.
  21. Ähn­lich Arti­kel 33, Abs. 3.
  22. Chris­ti­ne Mer­tes­dorf: Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaf­ten. Eine ver­fas­sungs­recht­li­che Betrach­tung mit Dar­stel­lung ein­zel­ner Gemein­schaf­ten. Frank­furt a.M. u.a. 2008.
  23. Mer­tes­dorf: Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaf­ten, S.129.
  24. Mer­tes­dorf: Welt­an­schau­ungs­ge­mein­schaf­ten, S.243.

Quel­le: Horst Gro­schopp: Huma­nis­mus als kul­tu­rel­le Welt­an­schau­ung. In: Ders. (Hrsg.): Huma­nis­mus­per­spek­ti­ven. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2010, S. 68–80 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Deutsch­land, Bd. 1).

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