Weltanschauungen „leben“ in Kulturen
Der folgende Text will zeigen, dass sich der Weltanschauungsbegriff seit seinem Entstehen an der Wende zum 19. Jahrhundert nicht grundsätzlich geändert hat. Er ist noch immer gebräuchlich als Verständnis von der „Gesamtsicht von Gott, Welt und Menschen“[1], wird als „seelisch-geistige Grundhaltung und Einstellung“[2] genommen und ging nach 1900 in die Wörterbücher ein, so in Meyer’s Konversationslexikon von 1909 (Band 20). Der Begriff (und was er abbildet) hat aber mehrere Metamorphosen durchgemacht und vieles von dem, was er einst meinte, bezeichnen wir heute mit Kulturwörtern.
Noch immer ist „Weltanschauung“ ein Oberbegriff für eine jeweilige Gesamtheit von Auffassungen über den Aufbau, den Ursprung und Ziel, Sinn und Wert der Welt und des Lebens. So findet er sich in entsprechender philosophischer und theologischer Literatur. Weltanschauungen sind dann religiöse und – wenn man so will – weltliche Überzeugungen. Eine andere, engere Fassung von Weltanschauung meint nur die letzteren, sozusagen „weltliche Weltanschauungen“.
Zugleich ist Weltanschauung „kultureller“ (breiter, sinnhaltiger, wertender …) geworden. Das hängt mit der soeben angedeuteten Eingrenzung zusammen. Der Begriff meint inzwischen vorwiegend säkulare Sichtweisen und bezieht diese auf Gemeinschaften, in denen sie geteilt werden. Auch Humanismus ist in diesem Kontext eine Weltanschauung und damit ein Bekenntnis. Dies wiederum ist aber ein neueres Produkt sozialkultureller Entwicklungen, das seine Beständigkeit erst beweisen muss.
Unter Humanismus wird im Folgenden eine historisch gewordene Auffassung von Barmherzigkeit, Bildung und Menschlichkeit verstanden, die weltanschauliche Richtungen bündelt, die von Menschen, die diese Ansichten teilen und fortentwickeln, in lebensweltliche Strukturen umgesetzt werden. Die humanistischen Überzeugungen sind dadurch charakterisiert, dass sie Würde mit einem rationalen Herangehen zu definieren versuchen, in dem sie nachvollziehbare Gründe dafür angeben, warum die sich äußernden menschlichen Subjekte darin Antworten auf Fragen nach den Ursachen und dem Sinn des Daseins in der Welt sehen. Fragen und Antworten sind dabei anthropozentrisch orientiert – auf Menschen bezogen und von ihnen ausgehend.
Die Frage nach dem Humanismus als einer Weltanschauung ist viel enger als die Frage nach Humanismus allgemein oder einer humanistischen Kultur. Wer sich aber als „Weltanschauungsgemeinschaft“ darstellen will, muss diese Enge vermeiden und glaubhaft Kulturorganisation sein.
Dazu gehört auch, sich in der humanistischen Weltanschauung als Menschenwelt gegenüber der Naturwelt, eingeschlossen die der Tiere, zu verorten. Bei aller „genetischen Verwandtschaft“ mit höher entwickelten Tieren, bei allen positiven Bezügen auf die gemeinsame Evolutionsgeschichte und bei allen Lehren aus kulturellen Überspitzungen der Tier-Mensch-Unterschiede in der Vergangenheit (Mensch als „Krone der Schöpfung“) – Humanismus bezieht sich ausschließlich auf Menschen. Nur sie sind in der Lage, sich selbst und anderen Lebewesen Würde zu „verleihen“. Tiere, selbst hoch entwickelte Affen, sind weder Brüder oder Schwestern der Menschen, noch sind sie deren Freunde, sondern Lebewesen, die genetisch und kulturgeschichtlich differenziert (Wildtiere / Heimtiere / Zuchttiere / Zoo-Tiere …) den Menschen nahe stehen, weshalb Menschen zu ihnen „Verhältnisse“ ausbilden.
Schon diese Andeutungen führen zu der These, dass Humanismus eine kulturelle Weltanschauung ist. Letzteres bedeutet, dass es auch naturalistische Weltanschauungen und humanistische Philosophien gibt. Immer dann, wenn Weltanschauungen und Philosophien in Argumentationen verwechselt werden, etwa wenn Humanismus als eine auf Wissenschaft basierende „Nichtreligion“ diskutiert wird (Naturalismus versus Kreationismus), gibt es gedankliche Übergänge und theoretische Verbindungen zwischen Weltanschauung und Philosophie, besonders wenn Wertungen vorgenommen werden. Stets sind Weltanschauungen viel subjektiver als Philosophien jemals sein wollen.
In beiden Sphären, der der Weltanschauungen und der der Philosophie, kommt Kultur – die mehr ist als Kunst – zum Ausdruck nicht nur in der Hinsicht, dass sich empirisch zu belegende Kulturanschauungen von Kulturphilosophien oder ‑theorien unterscheiden.[3] Das wären nur Differenzen in der „Welt des Geistes“. Kulturen geben vielmehr den lebensweltlichen wie institutionellen Rahmen vor, in dem sich Weltanschauungen und Philosophien entfalten.
Der Einfluss von Kultur ist dort am Größten, wo er gar nicht mehr hinterfragt wird, sondern als selbstverständliche „Menschenbilder“, Einrichtungen, Normen, Ideen, Sprache, Urteile, Rituale usw. das Leben prägen. Wo Religionen vorherrschen, sind Kulturen religiös. Es gibt Kulturen mit hohem und mit niedrigem Religionsanteil. Und es gibt religionslose Kulturen, wie der „ostdeutsche Volksatheismus“ zeigt. Wissenschaftlich zu untersuchen wäre, wie viel Humanismus in gelebten Kulturen vorkommt, als Verhaltensweisen und Wertvorstellungen.
Menschen „glauben“ an die Prinzipien, Ansichten und Überzeugungen ihrer Kultur (sonst wäre es ja nicht die ihre) und grenzen sich von anderen ab.[4] Es kommen in Kulturen – und dies mehr oder weniger dominant – religiöse als auch weltanschauliche Elemente vor. So ist die Ansicht, wir lebten im „Abendland“, durchaus christlich geprägt, aber nicht gänzlich christlich, schon wegen der antiken Bezüge. „Sozialismus“ wiederum ist mehr oder minder an Marx oder den Marxismus orientiert, aber es gibt einen religiösen Sozialismus usw.
Es ist für den aktuellen Diskurs über Humanismus bedeutsam, dass sich die Frage nach der über Religion hinausreichenden, der kulturellen Beschaffenheit Deutschlands stellte, als neben den christlichen Konfessionen und in ihnen die konfessionsfreie Bevölkerung zunahm und weite Bereiche des Zusammenlebens sich kirchlichem Einfluss entzogen. Es war angesichts dieser Veränderungen auch logisch, dass sich in den 1980er Jahren, als die Folgen der über zweihundertjährigen Säkularisierung offensichtlich waren, führende Juristen dem Kulturproblem zuwandten, z.B. Peter Häberle.[5] Damals ging es um Debatten über den „Kulturstaat“. Diese Diskussionen wurden nach 2005 wieder aufgegriffen. Der Deutsche Bundestag verabschiedete 2008 sogar eine Kultur-Enquete.
Eine weitere Diskursebene war – ebenfalls dieser Lage entspringend und zusätzlich motiviert durch muslimische Zuwanderungen – die Religionsverfassung in Deutschland und der Platz, den Weltanschauungen darin haben oder haben sollten. Humanismus wird, den Schwächen der entsprechenden Organisationen und dem Rückgang von intellektuellen Antikedebatten geschuldet, heute eher zaghaft als Weltanschauung, fast gar nicht als Kultur wahrgenommen. Damit stellt sich die Frage nach einer humanistisch en Perspektive grundsätzlich. Aber Religion kommt in vielen Lebensbereichen ebenfalls nicht mehr vor. Der Kulturbegriff muss diesen Wandel verarbeiten.
Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm definierte in den späten 1980ern Kultur als ein letztlich vom Individuum aus gesehen „überpersonales System von Interpretationen, Werten und Ausdrucksformen”. Es stelle „bestimmte Deutungsmuster und Sinnentwürfe für die Welt und seine eigene Befindlichkeit in ihr zur Verfügung und vermittelt ihm damit zugleich Orientierungsweisen und Vorzugsregeln, auf die er in Kommunikations- und Entscheidungssituationen zurückgreifen kann.”[6] Religionen sind in dieser Definition in Kulturen eingeordnete Phänomene.
Auch die Ethnologie sieht Religionen als Bereiche oder Teile von Kulturen. Wer nach Kultur forscht, so Clifford Geertz, bekommt es immer mit Glaubenselementen zu tun, an denen man selbst hängt, die anderen wichtig sind, die in einer Gemeinschaft als „normal”, einzig richtig und allgemein gültig erscheinen, mitunter als „ewig” oder zumindest von langer Dauer. Kulturen „leben” durch diese Gewissheiten.[7] Die „Heiligkeit“ der eigenen Anschauungen in den eigenen Kulturen gegenüber den „Heiligkeiten“ in anderen und deren wissenschaftliche Nichtvergleichbarkeit beschrieb schon Max Weber.[8]
Menschen „glauben“ an die Prinzipien, Ansichten und Überzeugungen ihrer Kultur (sonst wäre es ja nicht die ihre) und grenzen sich von anderen ab.[9] Es kommen in Kulturen – und dies mehr oder weniger dominant – religiöse als auch weltanschauliche Elemente vor. So ist die Ansicht, wir lebten im „Abendland“, durchaus christlich geprägt, aber nicht gänzlich christlich, schon wegen der antiken Bezüge. „Sozialismus“ wiederum ist mehr oder minder an Marx oder den Marxismus orientiert, aber es gibt einen religiösen Sozialismus usw.
Die wichtigste Gemeinsamkeit von Kulturen und Religionen / Weltanschauungen ist, dass sie sozialer Subjekte bedürfen, die sie teilen, tragen und leben; zugespitzt gesagt: Philosophien „leben“ in Büchern, Religionen in Kirchen oder entsprechenden Ritualen. Weltanschauungen „leben“ im Leben. Sie sind Bestandteil von Kulturen, die sie wesentlich mitbestimmen können. Das gilt auch für Humanismus.
Die Frage nach dem Humanismus als einer Weltanschauung in diesem Sinne meint diejenigen Teile und Richtungen der Geistes- und Organisationsgeschichte, die zum einen zwischen Kunst, Religion und Philosophie in den Realien des Lebens und den Theorien darüber angesiedelt sind und zum anderen, was davon bekenntnisprägend, handlungsleitend, wertend und gemeinschaftsbildend ist. Weltanschauungen sind im heutigen Verständnis, jedenfalls in Politik und Recht, säkulare – im Gegensatz zu religiösen – Erklärungen von Weltall, Erde und Mensch.
Begriffsgeschichte von „Weltanschauung“
Die engere Weltanschauungsdefinition ist historisch bedingt und Produkt konfessionsfreier Kulturbewegungen. Das lässt sich an der Begriffsgeschichte zeigen.
Es handelt sich erstens um einen deutschsprachigen Begriff, der keine adäquate Entsprechung in anderen europäischen Sprachen besitzt, weshalb nach den besonderen deutschen Verhältnissen zu fragen ist, die eine aparte Denkweise zwischen Theologie und Philosophie erzeugte und fortbestehen ließ. Dieses Bedürfnis nach einem besonderen Begriff der Weltanschauung, angesiedelt im Raum zwischen Wissen und Glauben, hängt mit den hiesigen besonderen Religionsverhältnissen zusammen und der Bindung der Kirchen an den Staat (Einheit von Thron und Altar), was wiederum „Konfessionen“ erzeugte.
Zweitens – und vor allem – wird hierzulande „Weltanschauung“ verwendet im Zusammenhang mit „Weltanschauungsgemeinschaft“ (im Sinne des Grundgesetzes). Das erfasst dann – wenn man so will – eine weltliche „Glaubensform“.
Drittens ist „Weltanschauung“ kein aktuell in der Philosophie oder in den Sozialwissenschaften gebrauchter analytischer Begriff, sondern eher ein Sammelname für verschiedene Blickweisen auf das Dasein.
Noch ganz wörtlich genommen findet sich „Weltanschauung“ bei Immanuel Kant 1790 in seiner Kritik der Urteilskraft, dann in Johann Gottlieb Fichtes 1792 erschienenem Versuch einer Kritik aller Offenbarung. Hier drückte „Weltanschauung“ erstmals eine Zusammenschau der Welt aus. Der Begriff der „Weltanschauung“ – H. G. Meier und anderen hier folgend[10] – entstand Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, zunächst in der transzendentalen Philosophie. Er ging von der Fachsprache der Philosophie aus. Zeitgenössischen Philosophen kam anfangs des 19. Jahrhunderts in den Blick, dass zunehmend Sinnfragen außerhalb religiös-kirchlicher Zusammenhänge – den Konfessionen – gesucht und gefunden wurden.[11]
Friedrich D. E. Schleiermacher fasste darunter schließlich alle Ideen außerhalb religiöser Erklärungen und gab dem Begriff „Weltanschauung“ die Funktion eines Gegenbegriffs zu der in den verschiedenen Glaubensweisen erfassbaren Gottesidee. Das war die Geburtsstunde von „Weltanschauung“ als Gegenbegriff zu Religion, wie er sich schließlich in der Weimarer Reichsverfassung und von ausgehend im Grundgesetz findet.
Diese Unterscheidung Schleiermachers gab dann Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Möglichkeit (nach 1818), „Weltanschauung“ in den Rang einer philosophischen Kategorie zu erheben, bezeichnenderweise in seiner Ästhetik, um Kunst mit Religion und Philosophie zu vergleichen. Er legte dabei eine Stufenfolge der Weltanschauungen fest, die in der Geschichte der Völker jeweils Verkörperungen des Zeitgeistes darstellen, die bis zu ihrer Integration in die Philosophie durchaus pluralistisch nebeneinander existieren.
Im Vormärz der Revolution von 1848/49, als erste freireligiöse Gemeinden entstanden – Gemeinschaften außerhalb der Konfessionen –, die frei sein wollten in ihrer Religion (noch nicht frei von Religion), wurde der Begriff fast ein „Ausdruck der ästhetischen Kunstsprache“, ein „Ersatzwort für Ästhetik“. Seine Benutzer, die Presse- und Meinungsfreiheit wollten – Geistesfreiheit –, benutzten ihn, um Thron, Altar und Universitätsphilosophie zu provozieren. Neues Denken gehe nicht aus der Philosophie oder der Theologie hervor, sondern aus den Künsten und werde von Laien außerhalb der etablierten und verbeamteten Philosophie und Theologie getragen.
Der Germanist Georg Bollenbeck begründete im kulturhistorischen Rückblick diesen Vorgang so: „Durch einen Zuwachs an Bedeutungsinhalt findet ‘Bildung’ Anschluß an das Denken der deutschen Aufklärung, ohne daß ein offener Bruch mit der Religion stattfindet. … Die poetische Vision aufgeklärter Religiosität und die Gefühlsmächtigkeit der Sprache faszinieren zunächst das Lesepublikum. Man liest den Messias wie ein Andachtsbuch.“[12] Auch in der Folgezeit war die „Einstellung zur Kunst als einem Medium der ‘Bildung’ … quasi-religiös. Sie ist, wie es seit der Frühromantik heißt, Gegenstand von ‘Andacht’ und ‘Weihe’“. Museen, Theater und Konzertsäle waren bis in den Vormärz die „’ästhetischen Kirchen’“.[13]
Genau dieser Zusammenhang, die Vermischung von Ästhetik, Religion und Philosophie, machte den Kulturbegriff für diejenigen Freigeister zwischen 1860 und 1900 attraktiv, die sich dem Wort „Weltanschauung“ zuwandten, als sie unter dem Eindruck von Karl Marx und Charles Darwin eine „wissenschaftliche Weltanschauung“ zu suchen begannen. Die Bindung von Welterklärungen an die Sprache der Künste und Künstler wiederum rückte das sinnenmäßige Erfassen der Welt – das Anschauen der Welt – bei den Philosophen und Theologen in Reaktion darauf in eine niedere, wenn auch akzeptierte Form der Erkenntnis.
Lange Zeit wurde fälschlich angenommen, dass Alexander von Humboldt mit seiner Kosmos-Theorie von 1845 den Begriff „Weltanschauung“ erfunden habe. Aber er hat ihm eine naturwissenschaftliche und umfassende Dimension gegeben, die über die Künste hinauswies. In den 1880er Jahren und danach half die Rezeption des Darwinschen Werkes frei- und dann nichtreligiöse humanistische Weltanschauungen tatsächlich zu bilden – und zwar viele.
In ästhetischen Äußerungen wie philosophischen Traktaten, die oft wie Dichtungen verfasst waren, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit noch geringer, aber zunehmender Zahl von Konfessionsfreien, eine neue Adressatenschaft entdeckt, die künftig den Einsatz des Wortes „Weltanschauung“ auf zweifache Weise bestimmte, nämlich zum einen als Bezug auf „Ungläubige“ und zum anderen als Bezug auf Individualisten. In beiden Fällen kam es zu der Erfahrung, dass eine individuelle bzw. gruppenbezogene Sichtweise absolut und als Seinsnorm gesetzt werden konnte. Es vollzog sich eine regelrechte Inflation in der Erhebung von Meinungen, Neigungen und des eigenen Geschmacks in den Rang gelten sollender Anschauungen, die dann andere anzunehmen hätten, damit die als richtig angenommene Weltanschauung siegt.
Der Freireligiöse Albert Kalthoff beschrieb parallel dazu die Religion der Modernen (1905) als „Poetenphilosophie“.[14] Das veranlasste Fritz Mauthner Mitte der 1920er, nach Vorlage seiner Geschichte des Atheismus[15], zu sagen: „Der müßte schon ein ganz armseliger Tropf sein, wer heutzutage nicht seine eigene Weltanschauung hätte.“[16]
Weltanschauungen als relativ abgeschlossene Überzeugungssysteme bekamen durch die kommunistischen und nationalsozialistischen Bewegungen zu dieser Zeit bis in die 1950er Jahre Konjunktur. Besonders der Nationalsozialismus benutzte den Begriff „Weltanschauung“[17], aber auch der reale Sozialismus, der ihn als „wissenschaftliche Weltanschauung“ gebrauchte. Hier ist zudem wichtig, aber noch wenig untersucht, dass in der DDR von Walter Ulbricht und Alfred Kurella Sozialismus und realer Humanismus identisch gesetzt wurden.
Aktuell gilt, schon wegen der Kunstnähe des Wortes, dass im Begriff „Weltanschauung“ noch immer „Kultur“ mitschwingt, obwohl sich seit den 1970ern, mit Entstehung der modernen Kulturwissenschaft, die mehr sein wollte als Geisteswissenschaft, ein sozialwissenschaftlicher und ethnologischer Kulturbegriff etablierte, der das Weltanschauliche in sich aufnahm, ohne den Begriff noch zu benötigen. Ähnliches vollzog sich in der Philosophie in dem Maße, wie die Kunst- zu Kulturwissenschaften sich wandelten und die Ergebnisse der Naturwissenschaften „kulturelle Fragen“ aufwarfen.
Jedenfalls löste der Kulturbegriff den der „Weltanschauung“ fast gänzlich ab und auch die freidenkerischen Organisationen verstanden sich – in Ansätzen schon in 1920ern, aber ab den 1970ern mit Macht – als Kulturorganisationen. In den 1990ern sprach man nicht mehr vom Kampf der Weltanschauungen, sondern vom „Kampf der Kulturen“ und vom „Kulturkampf um das Kopftuch“. Das hing damit zusammen (Stichwort Globalisierung), dass sozialistische Prognosen mit dem Zusammenbruch des Ostblocks in Konkurs gingen und bestimmte Kulturansichten mit Hilfe von Medien und Internet System‑, Länder- und Religionsgrenzen überschritten, egal ob modern oder vormodern.
Die – wie wir sehen werden vorläufige – Abkehr vom Weltanschauungsbegriff und die Annahme kultureller Sichtweisen verstärkte sich in den 1960ern. Eine weitere Ursache für diesen Wandel war die Herauslösung der Diskurse über ethisch-kulturelle Fragen aus religiös-kirchlicher Deutungshoheit. Konnte das Arbeitsethos in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus „protestantisch“ im Gegensatz zu „katholisch“ gefasst werden, fiel diese Unterscheidung weg. Gleiches betraf andere Bereiche, die schon begrifflich „kulturell“ gesehen wurden, wie schon die Namen zeigen: Körperkultur, Sexualkultur, Wohnkultur, Tourismuskultur usw.
Peter Hofstätter hatte schon 1959 Kultur als der „Summe der Selbstverständlichkeiten“ definiert. Diese konnten zwar religiöse oder weltanschauliche Besonderheiten haben, aber sie waren nicht mehr „konfessionell“. Friedhelm Neidhardt fasste 1986 Kultur Religionen übergreifend als die „Mythen, Interaktionsrituale, vage(n) Wertvorstellungen, Leerformeln, Attitüden und Prestigevermutungen“ ihrer Zeit. Kulturen sind Systeme „kollektiver Sinnkonstruktionen, mit denen Menschen die Wirklichkeit definieren“.[18] Das Religiöse wie das Weltanschauliche war in so verstandenen Kulturen nicht mehr prägend, sondern eher Spurenelemente. Religionswissenschaftler begannen an der Wende zum 21. Jahrhunderts sogar, sich selbst als Kulturwissenschaftler zu verstehen.[19]
Weltanschauung wird juristischer Begriff
Nun lässt sich diese Wandlung im Begrifflichen auf ihre Anfänge zurückverfolgen gerade in der Hinsicht, dass im Gegenzug zur Ausdehnung auf Kultur, das Wort „Weltanschauung“ eingeengt wird auf das, was er in heutigen Verständnis ausdrückt: Säkulare Sichtweisen, die von Menschen in entsprechenden Gemeinschaften geteilt und gepflegt werden. Das kam Freidenkern entgegen, die den Begriff „Weltanschauung“ benutzten, um ihr Recht auf staatliche Anerkennung einer persönlichen oder kollektiven Weltsicht anzumelden und durchzusetzen. „Weltanschauung“ wurde organisationstauglich und politisch eingesetzt.
In diesem bekennenden Sinne ging das Wort „Weltanschauung“ 1919 in die Weimarer Verfassung und 1949 ins Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ein. Seit dem ist – nach Gerhard Anschütz – „jede Lehre, welche das Weltganze universell zu begreifen und die Stellung des Menschen in der Welt zu erkennen und zu bewerten sucht“, eine Weltanschauung.[20] „Weltanschauungs-“ werden von „Religionsgemeinschaften“ unterschieden. Das Grundgesetz Artikel 4, Abs. 1 fußt auf einer Entgegensetzung, die auf Schleiermacher zurück geht: „Die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“[21]
Die Eigentümlichkeiten der historisch gewachsenen deutschen Religionsverfassung haben nun in den letzten Jahren dazu geführt, dass parallel zur Anwendung kirchlicher Rechte auf die Organisationen der Muslime auch die Konfessionsfreien und ihre Organisationen stärker in den Blick kommen – eigentümlicherweise, machen sie doch inzwischen ein Drittel der Bevölkerung aus. Weltanschauungen werden nun wieder verstärkt diskutiert – erneut auch unter Juristen. Selbst in der Volkszählung 2011 wird – entsprechend dem „Zensus 2011 Gesetz“ von 2009 nach Weltanschauungen gefragt werden, nämlich nach dem „Bekenntnis zu einer Religion, Glaubensrichtung oder Weltanschauung (sunnitischer Islam, schiitischer Islam, alevitischer Islam, Buddhismus, Hinduismus und sonstige Religionen, Glaubensrichtungen oder Weltanschauungen).“ Das hängt auch zusammen mit Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung, die den Religionsgesellschaften „die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen“.
Die Dissertation Weltanschauungsgemeinschaften von Christine Mertesdorf ist die wohl umfänglichste Studie zu organisierten Weltanschauungen, die bisher erschienen ist.[22] Ihre Definition von Weltanschauung betont die mögliche Bedeutung im Rechtsverkehr derjenigen kollektiven Subjekte, die mit dem verliehenen oder juristisch erstrittenen Titel „Weltanschauungsgemeinschaft“ mit einem „Privilegienbündel“ (so Mertesdorf) ausgestattet sind, das sie aus der Schar „normaler“ Kulturvereine verfassungsrechtlich heraushebt, eben weil sie mit Kirchen und nicht mit Gesangsbünden verglichen werden.
Mertesdorf schreibt: „Weltanschauung ist eine wertende Stellungnahme zum Weltganzen, welche allein unter immanenten Aspekten Antwort auf die letzten Fragen nach Ursprung, Sinn und Ziel der Welt und des menschlichen Lebens zu geben sucht. Eine solche Lehre muss mit der aktuellen Lebenswirklichkeit, der Kulturtradition, sowie dem allgemeinen und religionswissenschaftlichen Verständnis vereinbar sein. Maßgebend für die Frage, ob eine Weltanschauung vorliegt sind primär objektive Kriterien.“[23]
Eine Weltanschauungsgemeinschaft ist in diesem Sinne „ein Zusammenschluss von Personen, der ein Minimum an organisatorischer Binnenstruktur aufweist, im Sinne der Gewähr der Ernsthaftigkeit auf Dauer angelegt ist und von einem sich nach außen manifestierenden gemeinsamen und umfassenden weltanschaulichen Konsens der Mitglieder getragen und dieser Konsens – soweit es um die Gemeinschaft als solche geht – nach außen bezeugt wird.“[24]– Humanismus als Bekenntnis (und Weltanschauung) ist der Autorin selbstverständlich möglich und z.B. beim Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) vorhanden.
Hier schließt sich der eingangs eröffnete Kreis, denn die auf „humanistischen Prinzipien“ bauende „Weltanschauung“ des HVD nennt v.a. kulturelle Kriterien zu ihren Maßstäben: Individualität, Selbstbestimmung, Weltlichkeit, Toleranz, Solidarität, Kritikfähigkeit, Barmherzigkeit und Bildung in Verbindung mit der These, dass alle Menschen sich als Menschen gleich sind. Die daraus folgende Praxis zielt auf das Handeln von Menschen, die sich dieser Programmatik als Weltanschauungsgemeinschaft ausdrücklich verschrieben haben.
Kult- oder Kulturprivilegierung
Die Verwendung des Begriff Humanismus in einer kulturellen Praxis und im Rahmen einer Kulturbewegung, die im Namen einer Weltanschauung praktisch und politisch handelt, bringt – konsequent gedacht – eine besondere Dynamik nicht nur in das Staat-Kirche-Verhältnis, sondern in das historisch gewachsene Ziel-Denken in Gesellschaft und Staat generell. Wären alle religiösen und weltanschaulichen Organisationen mit anderen Kulturvereinen im Prinzip gleich, würde dies letztlich zwar die Religions- wie die Weltanschauungsgemeinschaften nicht obsolet machen, aber deren Status als besonders privilegierte Körperschaften abschaffen. Diese Sachlage garantiert ihnen bis jetzt, über den „normalen“ (anderen) Kulturvereinen zu stehen.
Das wurde 2008 im Rahmen der Debatten um die Kultur-Enquete des Deutschen Bundestages klar sichtbar. Den Kirchen gelang es, sich stärker als bisher als auch „normale“ Kultureinrichtungen darzustellen. Die Umsetzung dieses Konzeptes bereitet den Kirchen aber durchaus strategische Probleme.
Erstens ergibt sich aus dem Konzept ganz grundsätzlich die Frage nach der Zukunft der (historisch bedingten) Privilegierung von Kult- gegenüber Kultureinrichtungen. Wenn sich Kirchen ins kulturelle Fahrwasser begeben, säkularisieren sie sich nicht nur weiter. Sie werden noch stärker als Kulturvereinigung wahrgenommen wie andere Kulturbünde und ‑vereine auch. Warum sollten sie dann nicht wie solche behandelt werden?
Das würde zweitens die prinzipielle Gleichbehandlung aller kulturellen Organisationen bedeuten – unabhängig von Mitgliederzahlen. Oder bekommen deutsche Opern und Theater ihr Geld nach Mitgliedern ihrer Freundeskreise? Und was den christlichen Kulturvereinen gegeben wird, das wollen auch die muslimischen und humanistischen. Was unterscheidet schließlich die Inszenierung eines Kirchentages von einem Popfestival, einen Gottesdienst von einem Ritual auf einer anderen Bühne, eine Konfirmation von einer Jugendweihe? Wer bekommt wie viel für was?
Innenkirchlich – drittens – wird sich die evangelikale Kritik an beiden Kirchen mit ihren Beamtenapparaten verstärken. Kann noch dem Kult dienen, was die Allgemeinheit bezahlt und damit „entheiligt“ hat? Ist es noch ein Gottesdienst, wenn man dort Schlager singt? Wem gehört eigentlich diese oder jene Madonna? Und gehören nicht die Museen entsäkularisiert nach dem Motto: Gebt uns unsere Heiligenbilder wieder!
Da der organisierte Humanismus als kulturelle Weltanschauung nicht in diesen Widersprüchen leben muss, eröffnen sich für ihn und für alle humanistischen Grundrichtungen und Organisationen neue Chancen. Das historisch gewachsene Privilegiensystem der Weltanschauungen und Religionen könnte ad absurdum geführt werden. Doch hat das „Säulenmodell“ wahrscheinlich noch längere Zeit Funktionen in diesem Übergang zur Gleichheit aller Kulturorganisationen. Diese Gleichheit werden die Kirchen mit aller Macht verhindern wollen und lieber einer Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsverbänden zustimmen. Es ergäbe dies ein letztlich instabiles kulturelles Bauwerk, gestützt auf ungleich starke Säulen, die der Anthroposophen, Christen, Humanisten, Juden, Muslimen, Zeugen Jehovas …
- F. Kirchner’s Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe. 6. Aufl. Leipzig 1911, S.1093. ↑
- Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Leipzig 1854–1960. Bd. 28, Sp.1536/37. ↑
- Vgl. Dietrich Mühlberg: Woher wir wissen, was Kultur ist. Gedanken zur geschichtlichen Ausbildung der aktuellen Kulturauffassung. Berlin 1983. ↑
- Vgl. Detlev Ipsen: Regionale Identität. Überlegungen zum politischen Charakter einer psychosozialen Raumkategorie. In: Die Wiederkehr des Regionalen, Über neue Formen kultureller Identität, hg. v. Rolf Lindner, Frankfurt a.M., New York 1994. ↑
- Vgl. Peter Häberle: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. Berlin 1982. ↑
- Dieter Grimm: Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1987, S.119. ↑
- Clifford Geertz: Common Sense als Kultursystem. In: Ders., Dichte Beschreibung, Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1983, S.261–288. ↑
- Vgl. Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904). In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922. – Ders.: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904). In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922. ↑
- Vgl. Detlev Ipsen: Regionale Identität. Überlegungen zum politischen Charakter einer psychosozialen Raumkategorie. In: Die Wiederkehr des Regionalen, Über neue Formen kultureller Identität, hg. v. Rolf Lindner, Frankfurt a.M., New York 1994. ↑
- Vgl. Helmut Günter Meier: „Weltanschauung“. Studien zu einer Geschichte und Theorie des Begriffs. Inaug.-Diss., Münster 1967. – Werner Betz: Zur Geschichte des Wortes „Weltanschauung“. In: Kursbuch der Weltanschauungen, Schriften der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, hg. v. Anton Persl u. Armin Mohler, Bd.4, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1981, S.18–28. ↑
- Umfänglicher ausgeführt in: Horst Groschopp: Dissidenten. Kultur und Freidenkerei in Deutschland. Berlin 1997. ↑
- Vgl. Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a.M., Leipzig 1994, S.105. ↑
- Bollenbeck: Bildung, S.214. ↑
- Vgl. Albert Kalthoff: Die Religion der Modernen. Jena, Leipzig 1905. ↑
- Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. 4 Bde. Stuttgart u. Berlin 1920–1923. ↑
- Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 2., verm. Aufl., Dritter Bd., Leipzig 1924 ↑
- Vgl. Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. 2., völlig neu bearb. u. erw. Fassung. Darmstadt 1972. ↑
- Vgl. Peter R. Hofstätter: Einführung in die Sozialpsychologie. 2. Aufl., Stuttgart 1959. – Friedhelm Neidhardt: Kultur und Gesellschaft. Einige Anmerkungen zum Sonderheft. In: Kultur und Gesellschaft, Festschrift René König, hg. v. Friedhelm Neidhardt, M. Rainer Lepsius u. Johannes Weiss, Opladen 1986. ↑
- Vgl. Burkhard Gladigow: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft. Hg. v. Christoph Auffahrt und Jörg Rüpke. Frankfurt a.M. 2005. ↑
- Vgl. Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919. Bad Homburg 1960 (zuerst 1921), S.649. ↑
- Ähnlich Artikel 33, Abs. 3. ↑
- Christine Mertesdorf: Weltanschauungsgemeinschaften. Eine verfassungsrechtliche Betrachtung mit Darstellung einzelner Gemeinschaften. Frankfurt a.M. u.a. 2008. ↑
- Mertesdorf: Weltanschauungsgemeinschaften, S.129. ↑
- Mertesdorf: Weltanschauungsgemeinschaften, S.243. ↑
Quelle: Horst Groschopp: Humanismus als kulturelle Weltanschauung. In: Ders. (Hrsg.): Humanismusperspektiven. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2010, S. 68–80 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Bd. 1).