Zwickau, 14.11.2020
Ein Kommentar aus aktuellem Anlass
Beginnen wir, ehe wir zum Grundsätzlichen kommen, mit einigen heutigen Zeitungsnotizen. Da haben wir zuerst die Schlagzeile der aktuellen Ausgabe vom 14. November 2020 der vielgelesenen „Freien Presse“, deren Leserschaft sich auf das Gebiet des ehemaligen Bezirkes Karl-Marx-Stadt erstreckt (Chemnitz, Zwickau, Plauen, Erzgebirgskreis …): „Gesundheitsämter in Not: Ärzte im Ruhestand sollen helfen“. Das hängt damit zusammen, dass zum Erstaunen der hiesigen Einwohnerschaft ausgerechnet in einigen Landkreisen, weniger in den Städten, die Infektions- und Todesfälle täglich steigen, trotz Lockdown.
Das Titelbild zu diesem Text ist einem Artikel entnommen, der sich mit der Frage beschäftigt, die Herr Spahn gestellt hat, weil sich die Lage in einigen Kliniken zuspitzt, ob infiziertes Klinikpersonal im Notfall arbeiten darf. Das erfordert mindestens die Frage zu beantworten, wann ein Notfall vorliegt. Und arbeiten dürfen bedeutet letztlich praktisch, jemand zum Dienst zu verpflichten.
Dann kann ich lesen, dass in Bayern alles noch viel strenger zugeht als hier und die Nordländer, so wie einst der Armin Laschet, schon über Lockerungen nachdenken und andeuten, der Kanzlerin die Gefolgschaft zu verweigern. Zugleich hat in Bayern ein Fitness-Studio erfolgreich gegen seine Schließung geklagt. Sollte ich vielleicht eine Initiative gründen, um meine Sauna in Schlema wieder zu öffnen, denn es wurde nicht bekannt, dass sich jemals jemand bei dieser Hitze angesteckt hat und außerdem, meine Gesundheit wird durch die Schließung massiv beeinträchtigt.
So geht es hin und her und immer fort und Weihnachten? Wir richten uns auf Verzicht ein. Und am nächsten Mittwoch, wenn wir Sachsen als einzige in Deutschland Feiertag haben, den Buß- und Bettag, da machen wir uns unseren Gansbraten selbst. Punkt.
Ja, aber was haben diese Vorgänge, dieses tägliche hiesige, aber auch internationale Geschehen um Corona herum mit Humanismus zu tun? Ist da nicht Zeit, kleinteiliger zu denken? Mitnichten. Es ist ein großes Tauziehen zu beobachten.
Zunächst: Humanismus ist ein „offenes System“ und nicht erschöpft mit dem, was Verbände, die sich nach ihm benennen, darüber sagen. Er ist viel mehr, nämlich eine kulturelle Bewegung, ein Bildungsprogramm, eine Epoche (Renaissance), eine Tradition („klassisches Erbe“), eine Form von praktischer Philosophie, eine politische Grundhaltung, welche für die Durchsetzung der Menschenrechte eintritt, eine humanitäre Praxis und sicher noch anderes mehr, woher sich in einer „Anwendung“ dieser Punkte sicher interessante Fingerzeige herleiten lassen, z. B., wie viel Bildung und welche ist nötig, um zu verstehen, was eine Pandemie ist. Wie viel und was davon dann auch noch als „Weltanschauung“ gefasst werden kann, das sind alles spannende Themen für Interessenten. Doch was ist der Kern des hiesigen und internationalen Corona-Geschehens unter humanistischem Blickwinkel?
Der jeweilige Umgang mit Corona wird große Auswirkungen auf den Humanismus in der Welt haben, wenn wir darunter vor allem das verstehen, wo der Begriff historisch herkommt, nämlich von „humanitas“, wörtlich übersetzt aus dem Lateinischen (von den Experten) „Barmherzigkeit“; und diese ist wie „Solidarität“ eine kulturelle Haltung anderen Menschen gegenüber. Und wie immer in Grundsatzfragen geraten zwei Handlungsfelder in Konflikt miteinander: das Individuelle und das Gesellschaftliche. Letzteres hat dann zu seiner Verwaltung den Staat, auch deshalb, um das Individuelle im Zaum zu halten, was man auch übertreiben kann, aber eben auch andersherum. Dafür hat die Menschheit verschiedene Systeme hervorgebracht, über die es ebenfalls Streit gibt.
Corona führt nun die aktuellen Systeme in ihren Reaktionsweisen vor, legt den Schwerpunkt bloß. Kern des Humanismus ist die „Würde des Menschen“ in Verbindung mit dessen „Selbstbestimmung“ unter der Prämisse der „Barmherzigkeit“. Wie wird dies gesichert, was ist das wichtigste Kriterium dabei, was sind die Menschen bereit zu akzeptieren, um der Barmherzigkeit willen, und zwar der Barmherzigkeit anderen gegenüber; aktuell heißen sie „Risikogruppen“, das sollen „nur“ 40 % der Bevölkerung sein, sie bilden also nicht die Mehrheit. Hinzu kommt eine gesellschaftliche und individuelle Prioritätensetzung; Stichwort: Fitness-Studios versus Ausgangssperren …
Wir wissen nicht, wie das ausgeht. Aber wir sehen, wer erfolgreich ist und wer nicht. In den kommenden Jahren werden uns die beiden internationalen Hauptkontrahenten mit ihren jeweiligen Konzepten beschäftigen: USA und China. Und wir werden anhand unserer Kriterien einschätzen müssen, welches System „barmherziger“ war/ist. Und wer urteilt, muss (auch ein Kriterium des Humanismus) Argumente und Begründungen für das Urteil haben.
Das USA-System hat, jedenfalls bis jetzt, voll auf die Losung gesetzt: schaut zu, wie ihr da rauskommt, es ist euer Ding und der Staat ist von Übel; es handelt sich um ungezügelten Kapitalismus. China, inzwischen auch ein kapitalistisches Land und nicht mehr „unterentwickelt“, ruft nicht nur bei Corona den Staat auf den Plan, denn es handelt sich um Staatskapitalismus. Die haben dort, als maßgebliche Politiker in Deutschland noch sagten, typisch undemokratisch, ganze Regionen erfolgreich abgeriegelt, Großstädte, denen gegenüber Berlin ein Dorf ist. Nun haben sie weitgehend Ruhe und arbeiten sich an Amerika vorbei. Das ärgert Trump und Biden und unsere hier sind unschlüssig hinsichtlich der “Wende” in den USA, was daraus für uns folgt.
Corona hat die Unterschiede aufgezeigt und die Frage ist, wer handelt barmherziger? Das werden die Menschen fragen, logisch, sie werden sich Antworten geben, welche?
Wir Europäer versuchen es aus unserer Gesellschaftsgeschichte heraus auf dem Mittelweg. Wir hatten hier eine Arbeiterbewegung, China nicht, die USA nicht. Auch wenn in ihren zwei großen Varianten unterschiedliche Vorstellungen darüber bestanden, setzte die Arbeiterbewegung in Europa auf den Kultur- und Sozialstaat. Selbst die Katholische Kirche tat dies schließlich nach der quadragesimo anno 1931 von Papst Pius XI, übrigens unter Einfluss des „katholischen Humanismus“ von Maritain.
Deshalb, und weil Adlige und Junker den Koofmichs eins auswischen wollten, haben wir das, womit Bismarck in den 1870ern in Deutschland begann: ein staatlich gestütztes Renten- und Versicherungswesen, z. B. Krankenkassen, später Arbeitslosenversicherungen.
Die „Chicago-Boys“ hatten vor einigen Jahren auch hier begonnen, „amerikanischere“ Zustände einzuführen und immer mehr Staat abzubauen. Corona hat zum Bremsen geführt und in einem Nebeneffekt gezeigt, dass auch die großen Kirchen nicht mehr systemrelevant sind (das hat man jetzt im Teil-Lockdown teilweise etwas gelockert, um die Theateraufführungen in den Gottesdiensten von denen in einer Staatsoper etwas zu unterscheiden; die Kirchen sind jetzt fast systemnah, aber wohl vor allem wegen Caritas und Diakonie).
Auf europäischer Ebene fiel eine Grundsatzentscheidung: Johnson wurde mit seiner ursprünglichen Bejahung der Herdenimmunitäts-Theorie von den andren ausgebremst, obwohl damit die Rentenkassen besser gesichert hätten werden können. Aber die sogenannte Herdenimmunität ist noch nicht aus dem Verkehr.
Ist das Zwischendrin der humanistischere Weg? An den Debatten und der Teilnahme daran führt kein Weg vorbei und Humanistinnen und Humanisten sind unter allen anderen diejenigen, die scharf auf die „Barmherzigkeit“ als oberstes Kriterium schauen. Barmherzigkeit ist nicht „Nächstenliebe“, denn ich bin auch barmherzig mit dem, der mir in allem sonst fern ist – und ich muss ihn oder sie beileibe nicht lieben; und: ich kann das mit Geld erledigen, muss nicht selbst Hand anlegen.
Wissenschaftlich lässt sich das Urteil nicht bestimmen, sie mag helfen, doch sie trifft nicht die Entscheidungen, schon gar nicht urteilt sie in Sachen „Weltanschauung“; und zu vielem kann sie „coronamäßig“ (noch) nicht viel sagen, so zur Übertragungsrate in Gaststätten oder Fitness-Studios oder eben meiner Sauna in Schlema, der alten Uran-Wismut-Stadt. Und: Demokratie gehört zum Humanismus, wenn sie der Barmherzigkeit dient – und nur dann. Sie ist kein Wert an sich. Mängel in der Barmherzigkeit sind derzeit ablesbar an den Todeszahlen. Damit wären wir wieder bei den USA, China und bei uns. Leichter wird’s nicht.
Und da stelle ich doch abschließend eine von den bösen Fragen, die sich mir auftun. Sehr viele haben diese teure und unnütze Bundes-App, wo ich das Signal „Vorsicht“ selbst aktiviere, wenn ich die Bescheinigung habe, erst dann, wenn ich Corona nachgewiesen habe. Und das alles schön anonym und dann ab in die Quarantäne. Ich kann meinen Nachbarn warnen, aber ich muss es nicht. Und mein Nachbar kann Corona haben, sogar eine App, die acht Meter und durch Türen und Mauern geht. Ich kriege zwar in einem Hochhaus ein Signal, aber keinen Namen, auch der Betreiber nicht. Jetzt zur Frage: Was ist barmherziger, auf den Datenschutz zu achten oder auf den Menschen? Womit wir wieder bei China, den USA und bei uns wären.
Zum Abschluss noch einmal zurück in den Erzgebirgskreis, Dorf an Dorf, Kleinstadt an Kleinstadt, dazwischen viel Felder und Wald. Wir Sachsen sind stolz auf unsere Disziplin beim Maskentragen. Selbst meine Bäckerin lässt niemand mehr ohne rein – und immer schön einzeln. Aber wenn wir uns begegnen und wir kennen uns, dann werden wir leutselig. Wir freuen uns, setzen die Maske ab, zeigen unsere Freude, stehen, schon aus Höflichkeit, eng beisammen, etwa auf dem Parkplatz, geben uns selbstverständlich proletarisch die Hand, fassen uns an, klopfen uns auf die Schulter, berühren den Arm, flüstern was Lustiges, machen einen Witz über die da oben oder die da drüben und suchen dann die Desinfektionslösung oder vergessen das.
Wir sind schließlich keine Holsteiner oder Vorpommern, die von Kultur aus zurückhaltender sind. Und wenn jetzt noch die Regierung sagt, wir sollten diese Intimereien lassen, wie es Drosten empfiehlt und Merkel nachplappert, dann haben wir die Faxen dicke und denken quer, aber nur ganz leicht, denn auch wir wollen überleben. Es soll uns nicht so gehen wie denen in der Spanischen Grippe 1917–1919, die eigentlich eine amerikanische war (ein „USA-Virus“?) … aber das Fass mache ich jetzt nicht auch noch auf.
Nachtrag am 3. Januar 2021:
Rodeln an der Heimatfront
In der wissenschaftlichen Literatur – jedenfalls in der, über die in der einschlägigen Presse berichtet wird – ist nachlesbar, dass es international zwei konträre Strategien der Pandemiebekämpfung gegeben hat und wohl noch immer gibt – die sogenannte asiatische (eigentlich fernöstliche) und die “westliche”. Für die erste wird meist China angeführt, aber auch andere Staaten wie Japan und Südkorea seien dieser Linie gefolgt. Deren Ziel besteht darin, das Virus zu töten mit den bekanntgeworden Maßnahmen einer Abschaltung des gesamten öffentlichen Lebens. Dieser Methode liegt die Priorität der Gemeinschaft zugrunde, der sich Individuen unterzuordnen haben. Es ist dann auch die Gemeinschaft, die kollektivem Wiederaufleben folgt. Eine Freiheitsbeschränkung gilt als Maßnahme, über die geklagt werden kann, die aber nicht einklagbar ist.
Unsere hiesige Strategie (sie gilt für alle sog, westlichen Staaten) betont die Freiheitsrechte des Einzelnen, die wiederum wirtschaftlichen Überlegungen folgt, wozu auch die Wirtschaftsbetriebe des Profisports gehören, Betriebe, wie andere auch. Es entstehen Kollateralschäden, wenn die Türen zu lange geöffnet bleiben. Diese Methode setzt auf Eindämmung der Viren, nicht auf deren Tötung. Dabei wird in Kauf genommen, dass Menschen, die nicht schnell genug oder nicht gründlich genug in Deckung gehen, vom Virus erwischt werden, mal leicht, mal schwer, mal tödlich. Oberste Priorität hat das Selbstbestimmungsrecht der Individuen, letztlich ein bestimmter Humanismus. Hilfsmittel ist das “Durchimpfen”, das ebenfalls freiwillig ist. Hier nimmt man sich vor, auf ewig mit dem Virus zu leben.
Wenn in ein paar Jahren Bilanz gezogen werden kann, werden auch die Opferzahlen vergleichbar sein. Aber auch ganz “kapitalistisch” werden Kosten und Gewinne aufgerechnet werden, wie auch die Verteilungen von beiden unter der Bevölkerung deutlicher werden. Das alles könnte dann auf die Barmherzigkeit hochgerechnet werden, welche das eine oder das andere System mehr beachtete, bedachte, beförderte.
Heute ist auch hier etwas Schnee gefallen und schon gestern woanders viel mehr. Da pochen mal gleich wieder Tausende auf ihr Freiheitsrecht zu rodeln. Das ist ein sichtbarer Indikator des Sieges von Individuen und der zeitweisen Bedürfnisgruppen über ihre Gemeinschaft. Als Trost des Ganzes bleibt: Wer nicht gemeinsam einen Krieg gegen einen Virus zu führen vermag, bei dessen “Führern” bleibt haften, dass ein wirklicher Krieg zu vermeiden ist, weil er nicht gewonnen werden kann; zu viele wollen lieber Rodeln an der Heimatfront …
Nachtrag am 18. Januar 2021
Kneipenerlaubnis für Geimpfte
Am Ende von Corona, so 2022, werden Bundesverdienstkreuze 1. bis 4. Klasse verliehen. Sie gehen dann an diejenigen mit den unglücklichsten Ideen, sozusagen als Trostpreise. Den vierten Platz hat hier die arme Sau, die bei Spahn in der ideologischen Abteilung sich jeden Tag etwas ausdenken muss. Da diese Woche erst einmal wieder die Impfstoffe alle sind, was gar nicht zu erwarten war, macht der Kollege die Amerikaner verantwortlich, genauer Pfizer, die nicht liefern. Biontech, die Deutschen, können nix dafür.
Den dritten Platz hat der sächsische Bildungshäuptling. Denn ab heute gehen die Abschlussklassen wieder in den regulären Schulunterricht und stecken dann zuhause Mama und Papa an.
Platz zwei bekommt die Logikergemeinschaft in den Staatskanzleien für die Idee, erst strenger zu werden mit dem Lockdown, wenn der Inzidenzwert (was man alles lernt) über 200 ist; die Truppe hat die umkehrte Logik verworfen, es nämlich es nicht auf 200 erst kommen zu lassen.
Die feinste Idee stammt von Herrn Maas, der wohl, wie wir hier sagen würden, das Trompetel verpasst hat. Mit dem Motiv in der Aktentasche, was geht mich dieser Ethikrat und das ganze Gesocks an, Geimpfte müssen bessergestellt werden. OK, wie erkennt man diese aber? Impfausweiskontrolle? Zu kompliziert. Besser: Jeder Geimpfte bekommt eine gelbe Stoffplakette (weitere können hinzugekauft werden) mit einem roten Coronakügelchen mit schwarzem Querbalken drauf. Die näht man sich sichtbar an den Mantel. Es genügen auch Sicherheitsnadeln. Damit können dann die über 80-jährigen Geimpften, erst die jetzt dran, dann die über 70, dann die über 60 usw. mit ihren Krankenschwestern in die Kneipe. Die gelbe Stoffplakette hat rund zu sein. Im Volksmund heißen die Abzeichen Impf-Adel-Nadel.
– Horst Groschopp