Im Folgenden einige kurze Anmerkungen in 13 Thesen. Sie entstanden zur eigenen Vorbereitung im Vorfeld des Podiums „Luther und der Humanismus“ auf dem „Humanistentag“ am 17. Juni 2017 in der Nürnberger „Meistersingerhalle“. Das Foto (von Joachim Grebe) zeigt die Teilnehmer der Podiumsdebatte von rechts nach links: Dr. Andreas Fincke, Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, Dr. Frank Schulze und Dr. Horst Groschopp.
1. In der ganzen Geschichte des Lutherismus sind bei ihrer Betrachtung mindestens drei Ebenen zu unterscheiden: Luther in seiner Zeit, Lutherbilder in den verschiedenen Epochen und der Streit um Luthers heutige Bedeutung. Dabei sind auch die verschiedenen Subjekte zu unterscheiden, die Luther folgten oder ihn bekämpften, die Luther interpretierten in ihrem Für und Wider bis heute. Ähnliches gilt für den Humanismus, der zur Zeit Luthers ein anderer ist als in der Gegenwart, zumal es auch hier ein Für und Wider gibt.
Diesem frühen Humanismus folgen solche unterschiedliche Strömungen nach wie der Neuhumanismus des 18. Jahrhunderts, mit der Wiederentdeckung der Humanität durch Herder, mit der „freigeistigen“ Kunst Lessings usw.; der konservative Humanismus Ende des 19. Jahrhunderts mit der Nachfolge des „Dritten Humanismus“ im Nationalsozialismus; der Humanismus des Widerstands in „Volksfront“ 1935 und nach dem Zweiten Weltkrieg; den unterschiedlichen Auffassungen in der DDR und in der BRD und der aktuelle „säkulare Humanismus“.
2. So ist sicher auch festzuhalten: „Die“ Reformation hat es nicht gegeben (Stichworte: Zwingli; Wiedertäufer; Müntzer), sondern es gab vor und nach Luther verschiedene geistige und soziale Strömungen, von denen sich die lutherische als neue Kirche durchsetzte, weil sie bestimmten Fürsteninteressen zupass kam, mit enormen Folgen für die entstehende protestantische Kirche, die erst mit und besonders nach dem späten Luther entsteht, als die Reformation der großen Römischen Einheitskirche und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation scheiterten.
Aber es gab eine zweite Reformation, etwas zeitverschoben zum Neuhumanismus, den Pietismus mit der Erkenntnis einer ganz persönlichen Frömmigkeit, aber auch Sozialverantwortung. Und es begann noch zu Lebzeiten Luthers eine Reformation der Papstkirche, meist reflektiert als „Gegenreformation“.
Es wird meist, berechtigt, Luthers Leistung bei der Ausbildung einer deutschen Nationalsprache betont. Hier ist zu ergänzen: Es handelte sich um die „sächsische Kanzleisprache“, die zur deutschen wurde.
3. Aus Anlass des Lutherjahres sind seitens der kirchenfreundlichen Medien wie von freidenkerischen Kirchenkritikern viele Legenden gepflegt worden, die der historischen Wahrheit widersprechen. Das betrifft vor allem das Datum 31. Oktober 1517 als den angeblichen Anschlag von 95 Thesen. Dafür gibt es keinen Beleg. Der älteste Druck stammt aus dem Jahr 1545.
Die Wittenberger Schlosskirchentür war tatsächlich eine Art „Schwarzes Brett“. Tatsache ist, dass Luther eine wissenschaftliche Disputation über den Ablasshandel geschrieben hatte und diese am 31. Oktober 1517 zwei Briefen beilegte, die an Joachim I. von Brandenburg und an dessen Bruder Albrecht IV. (zugleich V.), Erzbischof von Mainz und Magdeburg, sandte.
Da Albrecht nicht antwortete, sondern beleidigt war, denn er brauchte das Geld dringend, gab Luther seine Thesen an einige Freunde weiter. Diese veröffentlichten seine Thesen gegen seinen Willen, worauf die öffentliche Debatte über eine innere Kirchenreform begann und sich der Mönch Luder nun Luther nannte.
Den ersten Bericht über diesen angeblichen Thesenanschlag gab es erst zwanzig Jahre später. Luthers Sekretär Georg Rörer erwähnt diesen Anschlag in einer erst 2006 gefundenen Bearbeitungsnotiz zum „Neuen Testament“ im Rahmen der Arbeit an der Luther-Bibel. Er war kein Augenzeuge, berichtet aber von mehreren Kirchentüren. Auch Melanchthon erzählt nach Luthers Tod 1546 von einem Thesenanschlag, war aber 1517 ebenfalls nicht in Wittenberg.
4. Ursache für Luthers Protest war der wachsende Geldverkehr gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Der Naturalzins wurde zunehmend durch den Geldzins abgelöst. Reichtum ließ sich besser bewegen und anhäufen. In der dadurch ausgelösten Gier nach Geld stand auch der Klerus nicht zurück.
Bald kam er auf die Idee, einen sicheren Platz im himmlischen Jenseits zu verkaufen. Das wurde streng verwaltet und je nach Finanzlage legte der Papst dafür einen „Ablass“ auf.
Zunächst regierte im Brandenburgischen der Kurfürst Joachim I., anfangs zusammen mit seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Albrecht. Als Albrecht erwachsen war, kauften sie ihm die Bistümer Magdeburg und Mainz, aber er machte auch Schulden deswegen. Das war etwa drei Jahre vor Reformationsbeginn. Weil Albrecht enorme Verbindlichkeiten drückten, wurde er in Rom vorstellig und konnte den Papst dafür gewinnen, einen neuen Ablass aufzulegen, bei dem sie halbe/halbe machen. Das gelang ihm, weil auch der Papst dringend Mittel nötig hatte, war doch der Bau des Petersdoms in Rom ins Stocken geraten. So kam der Abt Johann Tetzel in seine Funktion als Ablassverkäufer. Weil sich Luther gegen Albrecht stellte, schützte und protegierte ihn der sächsische Kurfürst Friedrich (III.) „der Weise“.
Es waren also ökonomische Interessen, die die Geschichte in Richtung Reformation drückten.
5. Erst mit der Luther-Ehrung als Personenkult im beginnenden 19. Jahrhundert wurde aus dem Thesen-Vorgang von 1517 ein historischer Hammeranschlag. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm, oberster protestantischer Kirchenvertreter in seinem Land und Dienstherr aller Pfarrer und Bischöfe, ordnete 1817 (300 Jahre Reformation) per Kabinettsbeschluss die Pflege des Luther’schen Erbes in der nun preußischen Provinz Sachsen an, heute Sachsen-Anhalt – und zwar als Staatsangelegenheit. Damit wurde unzweifelhaft das Erbe des Reformators eng mit der Geschichte des reaktionären Preußentums verbunden. Zu seiner Ideologie gehörte die Glorifizierung Luthers: Luther als Preuße; als Deutscher; und (Deutsche Christen) als deutschester aller Deutschen.
Was an der aktuellen Lutherehrung auffällt, ist die weitgehende Geschichtsvergessenheit rechter bis nationalsozialistischer Strömungen. Dass die Lutherfigur der „Religiösen Sozialisten“ in den offiziellen Erinnerungen auch nicht auftaucht, macht die ganze Historie sehr steril.
6. Den Ehrungen ab 1817 voraus ging das Etablieren des Protestantismus als Staatsreligion, d.h. eigentlich: mehrerer Staatsreligionen, denn jedes protestantische Land im „Deutschen Bund“ hatte seinen eigenen. Luther selbst hatte noch zu seinen Lebzeiten die Kirchenspaltung als politisches Konkurrieren betrieben oder mindestens ermöglicht.
Seitdem gibt es für Christen nicht nur konkurrierende Heilsangebote, sondern verschiedene Staatsreligionen, die sich in Mitteleuropa und besonders in Deutschland in zwei Gruppen teilen: Protestanten und Katholiken. Da sich hierzulande die Christen inzwischen grundsätzlich einig sind (ein Streit zwischen, nennen wir mal so, „politischen Fürsten“ Seehofer und Merkel bringt sie nicht aus der ökumenischen Fassung). Diese Konfessionen und die Konfessionsfreien blicken mit Unverständnis auf den heutigen militanten Streit zwischen Sunniten und Schiiten um die richtige Auslegung der Worte des Propheten, vergessen aber in der Regel den Großen Dreißigjährigen Religionskrieg von 1618–1648, wo es nicht anders zuging.
7. Die durch Luther ausgelöste Reformation brachte mit den Bauernkriegen (um 1525), dem Schmalkaldischen Krieg (1546/1547), dem Augsburger Religionsfrieden (1555) besonders im frühen 17. Jahrhundert Not und Elend über die Deutschen. Marodierende Söldner, Fluchtbewegungen und Vertreibungen, starker Bevölkerungsschwund (ein Drittel weniger – auch Folgen der Pest) –, zerstörte Städte und dörfliche Wüstungen … Das nicht mit der Reformation zusammen zu denken ist Geschichtsklitterung.
Ein eher düsteres Jahrhundert folgte der Hundertjahrfeier der Reformation 1617, wenn man diese gefeiert hätte.
Bei den historischen Interpretationen dieses großen Aderlasses wird in historischen Schriften die Rolle Luthers als unerbittlicher Mit-Verursacher meist gar nicht mehr erwähnt. Politisch hielt sich Luther zeitlebens an die Mächtigen (ließ sich vom sächsischen Kurfürsten protegieren), war Fürstenknecht und Bauernverräter. Er verurteilte die aufständischen Bauern unter Thomas Münzer ebenso wie den aufmuckenden Kleinadel unter Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen.
Die Reformation selbst war eine Reaktion auf veränderte „gesellschaftliche Verhältnisse“. Die beginnende „Kapitalisierung“ der Gesellschaft veränderte relativ schnell die Lebensbedingungen aller sozialen Gruppen und negative soziale Folgen schlugen, wie meist in der Geschichte, nach ganz unten durch.
Die wachsende Bedeutung der Geldrente (oben schon erwähnt) und die zunehmenden Marktverbindungen veränderten das Gefüge der ständischen Gesellschaft. Der Übergang von den Naturalabgaben zur Geldzahlung steigerte die Begehrlichkeit aller Privilegierten (also auch der Kirchenleute) und erhöhte ihren Druck auf die Pflichtigen. Größerer Landbesitz wurde erstrebenswert, der Kampf um „Hoheitsgebiete“ bekam einen neuen Sinn und Auftrieb.
Ob Adel, Bauern oder Handwerker – sie alle erlebten eine soziale Differenzierung, aber auch die ersten großen Individualisierungen – und die Absteiger versuchten sich zu wehren. Der religiöse Streit der Kirchenleute war ebenso Reflex wie Auslöser dieses Wandels und hatte kaum Einfluss auf das Leben der übrigen Bevölkerung, sieht man von den pflichtigen Ritualen ab. Deshalb ist ja auch Luther gezwungen, nicht alle katholischen Bräuche zu kappen, sondern sie zu überführen.
Ganz anders die durch das religiöse Bekenntnis legitimierten politischen Machtkämpfe der Oberen: Mit der Reformation und dem Schmalkaldischen Krieg begann ein Jahrhundert sogenannter Glaubenskriege – eingeleitet vom großen Bauernkrieg und Sickingens Ritterkrieg – bis zum Westfälischen Frieden, der 1648 den „Dreißigjährigen“ beendete.
8. Im frühen Humanismus (Petrarca, Mirandola, Reuchlin …) wird die Individualität und persönliche Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit entdeckt und es entsteht das Problem, wie sich dies alles zur „Heilgemeinschaft“ verhält. Die Etablierung des modernen Pietismus (Stichworte: Volksfrömmigkeit, Arbeitsamkeit, Nächstenliebe usw.) war eine Reaktion darauf und für das heutige Christentum eine bedeutsame Reformation der Reformation. Sie wird in der Regel ebenso historisch ungenügend gewürdigt wie die katholische Gegenreformation, die den Katholizismus modernisierte.
Beide Reformationen hatten den historischen Humanismus zu ihren erklärten Feinden. Es gelang Luther nicht nur das Ende der „Humanistenpäpste“ in Rom einzuleiten und zu befördern, sondern auch die Integration der humanistischen Strömungen vor und während der ersten Reformationszeit in seine neue fundamentalistische Kirche zu überführen. Das beste Beispiel ist Melanchthon, der alles daransetzte, Luthers Kirchenidee umzusetzen, ihr Reste des Humanismus anzupassen. In dieser neuen Kirche hatte der Zweifel keinen Platz.
So kann man sagen, dass bestimmte humanistische Methoden, etwa den griechischen (und hebräischen) Originaltexten zu vertrauen, aber auch Quellenkritik, Mehrsprachigkeit usw., zugunsten der Reformation eingesetzt, eingeebnet wurden. Ganz deutlich wird dies anhand der Lutherbibel.
Mit all dem gelingt es Luther, dass der italienische Humanismus nicht über die Alpen kommt und dass die Holländer, die sich wie Erasmus kosmopolitisch verstehen, durchaus mit politischem Druck und mit Verleumdungen isoliert werden, sich anpassen. Luther gibt durchaus öfters den „Politkommissar“, bekämpft die „Sekten“ usw.
Die Reformation brachte eine epochale Niederlage des damaligen Humanismus. Man kann sogar sagen: Die protestantische Kirchenbildung gewann eine bis heute fortwirkende, geradezu antihumanistische Nachhaltigkeit, eine fundamentalistische Ausrichtung, an der Luther nicht unwesentlich beteiligt war.
9. Luther und die Reformation richteten sich nicht nur gegen die Römische Kurie, gegen Gemeinden, die dann acht Jahre später im Bauernkrieg aufbegehrten, und gegen die Juden, sondern auch gegen die unbedingte Aufgeschlossenheit des Humanismus für die Philosophie der Antike, etwa schon in Luthers Kampf gegen die „Schlange” Aristoteles in der „Heidelberger Disputation“ von 1518, und besonders gegen die humanistische Verteidigung der individuellen Entscheidungsfreiheit durch Erasmus von Rotterdam. Im Dezember 1525 veröffentlichte Luther seine sich gegen das Wahlvermögen der Menschen richtende Schrift „Über den geknechteten Willen“. Der Wille ist für ihn nur frei, wenn er der Wahrheit Gottes folgt. Von politischer Freiheit ist keine Rede.
Was in der Lutherzeit unter Humanismus verstanden wurde steht in einem klaren Kontrast zum modernen Humanismus, das in diesem eine kulturhistorische Bewegung sieht, die im antiken Griechenland ihre Ursache hat und eine Aneignung der schon im alten Rom von der katholischen Staatsreligion unterdrückten heidnischen Antike darstellt. In der Renaissance wird das freie Individuum und die Würde des Menschen entdeckt. Es gehen Schulen, Universitäten, Lyzeen, Akademien, das Symposion, Olympia, Tragödie und Komödie, epische Rezitation, Gesang und öffentliche Rede aus dieser Aneignung in der Renaissance hervor, die in der lutherischen Kirche kirchlich geformt werden.
10. Zu Luther und den Juden ist in der letzten Zeit berechtigt viel publiziert worden, besonders, weil seine Aussagen im Nationalsozialismus rassistisch benutzt wurden, werden konnten. Der Rassismus ist aber eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und damalige Freidenker waren daran nicht unbeteiligt („Rassehygiene“). Ohne Luthers Aussage zu relativieren, muss aber erwähnt werden, dass es auch im damaligen Humanismus antijudäische Auffassungen gab, auch bei Erasmus.
Erasmus sah – wie seine Zeitgenossen – die Juden als Kollektiv, als Geldwechsler und ‑verleiher. Er beschuldigte sie, die Bauernkriege angezettelt zu haben.
Erasmus preist in einem frühen Brief Frankreich als den „makellosesten und blühendsten Ort des Christentums, weil es allein frei sei von Häretikern und böhmischen Schismatikern, von Juden und halbjüdischen Marranen und weil es nicht an die Türkei grenze.“
Er teilt die Besorgnis Luthers, durch die Wiederbelebung der hebräischen Studien könne auch das Judentum wiederaufleben.
Es scheint aber in seinen Äußerungen eine andere, freiere Reformationsidee durch, vor allem eine Idee der humanitas, die die lutherische Reformation eliminiert. Zitat aus den „Colloquia familiaria“ (Gespräche im vertrauten Familienkreis; 1518): „Opfer, meine ich, wird alles das genannt, was sich auf die konkreten Bräuche bezieht und dem Judaismus verwandt ist, wie die Auswahl der Speisen, die Kleidervorschriften, das Fasten, das Opfern, die wie eine Aufgabe erledigten Gebete, die Festtagsruhe. Denn wie diese Dinge unter Umständen nicht ganz vernachlässigt werden dürfen, so missfallen sie Gott, wenn jemand auf ihre Beobachtung derart vertraut und die Barmherzigkeit hintansetzt, so oft die Not des Bruders einen Liebesdienst erfordert.“
Das gilt auch für seine berühmte Schrift „Encomium moriae“ (Lob der Torheit; 1509 oder 1510). Hier spottet Erasmus: „Die Juden warten auch jetzt noch unentwegt auf ihren Messias und halten an ihrem Moses bis heute krampfhaft fest.“
11. Es hat nach dem Zweiten Weltkrieg keine Entnazifizierung der Evangelischen Kirche gegeben (auch nicht der Katholischen, auch nicht der Ärzte). Die meisten Kirchenführer blieben in ihren Ämtern. Das behindert bis heute eine Aufarbeitung der nationalsozialistischen Politik der Protestanten.
Hitler sagt in seinem Buch „Mein Kampf“ (S. 127): „Dem politischen Führer haben religiöse Lehren und Einrichtungen seines Volkes immer unantastbar zu sein, sonst darf er nicht Politiker sein, sondern soll Reformator werden, wenn er das Zeug hierzu besitzt!“. Zwar unterscheidet er diese zwei Führerarten. Beide sind aber einig in der Lesart, dass es darum gehe, das deutsche Volk zu retten.
Flugblatt zum „Deutschen Luthertag“ 1933: „Hitlers Kampf und Luthers Lehr / des deutschen Volkes gute Wehr“. Dieser „Deutsch Luthertag“ 1933 zum 450. Geburtstag des Reformators wurde mit kirchlichem Segen der nationalsozialistischen Ideologie und Gewaltherrschaft dienstbar gemacht. So erklärte Hermann Wolfgang Beyer (1898 bis 1942), damaliger Professor für Kirchengeschichte in Greifswald: „Das Jahr 1933 ist nicht nur ein Jahr der Erinnerung an ihn [Luther], sondern ein Jahr der Erfüllung dessen, was er gewollt“ hat.
Ursprünglich war der „Deutsche Luthertag“ auf den 10. November 1933, also den Geburtstag Luthers terminiert. Da jedoch Hitler kurzfristig für den 12. November Reichstagswahlen und eine „Volksabstimmung“ über den Austritt aus dem Völkerbund angesetzt hatte, wurde der Luthertag auf den 19. November verschoben.
Diesem ging am 13. November ein Gautag der „Deutschen Christen“ voraus, keine Erfindung der Nazis, sondern in der Kirche in den 1920ern gewachsen („Altenburger Land“), der eine einheitliche deutsche Reichskirche (unmöglich, weil schon 20. Juli 1933 Reichskonkordat), eine zweite deutsche Reformation sowie Treue gegenüber Volkstum und Rasse unter dem Banner der „völkischen Sendung Luthers“ forderte. Das wurde dann zum Programm innerhalb der Evangelischen Kirche und Luther galt als der „deutscheste aller Deutschen“.
12. Der Umgang mit Luther in der DDR folgte bis Ende der 1970er Jahre Wilhelm Zimmermanns „Geschichte des großen Bauernkriegs“ und vor allem Friedrich Engels und Franz Mehring, Alexander Abuschs „Irrweg einer Nation“ und dem Müntzer-Bild von Alfred Meusel. Die Ansichten waren beherrscht vom Kalten Krieg, besonders von der Abwehr von Thesen von Deutschland als „christlichem Abendland“. Müntzer thronte dort oben, weil er der sowjetischen Historiographie der Nachkriegszeit als der einzige akzeptierte Deutsche galt.
Die Russen – immerhin Besatzungsmacht – konnten mit Luther und dem gesamten Protestantismus in ihrer christlich-orthodoxen Tradition (was sie davon „geerbt“ hatten) nicht viel anfangen. Die DDR versuchte in den 1950ern eine allmähliche Lockerung und differenziertere Einordnung. Luther erschien nun als Held eines primär antikatholischen Nationalgefühls, wurde aber auch als Auslöser der deutschen Misere dargestellt, die zu Hitler hinführt. Viele der damaligen Urteile haben ihr aktuelles Pendant in freidenkerischen Kritikern der aktuellen Luther-Dekade. Das wissen die Akteure nur leider nicht.
Später gab es etliche Gründe für eine differenziertere Sicht. Erstmals konnte man in der DDR 1960 beim Melanchthon-Jubiläum 1960 auf Ergebnisse einer eigenen Reformationsgeschichtsschreibung zurückgreifen. Eine weitere Stufe sachlicher Geschichtsdarstellung wurde im Zusammenhang mit der Vorbereitung zum Reformationsjubiläum 1967 erreicht.
Mit dem Luthergedenken 1983 (500. Geburtstag; im „Marx-Jahr“!) trat dann eine Wende ein. Vorbild war hier, dass 1982 Goethe auf ähnliche Weise geehrt worden war. Doch setzte die Luther-Ehrung neue Maßstäbe, inhaltlich, kulturell, finanziell und politisch. Die DDR zelebrierte sich als der wahre Erbe auch dieses guten Deutschen. Viele erinnert an die aktuelle Lutherehrung.
13. Jeder Gegenstand der Geschichtswissenschaft und staatlicher Erinnerungspolitik folgte bis 1989 dem jeweiligen Stand der deutsch-deutschen Affären. Im Westen wurde praktisch jede Arbeit, die in der DDR zum „historischen Erbe“ publiziert wurde, zuerst und vor allem unter deutschlandpolitischen Gesichtspunkten analysiert. Auch wurden die wissenschaftlichen Argumente ostdeutscher Historiker im Lichte politischer Zweckmäßigkeitserwägungen gedeutet. So wurde z. B. das Konzept der „frühbürgerlichen Revolution“ nicht als neuer wissenschaftlicher Ansatz gewürdigt, sondern irgendwie als Provinzidee abgetan.
Dieses neue Bild der Einordnung des Renaissance-Humanismus, Luthers Reformation und Müntzers Eintreten für die Bauern in die kulturelle Zeitströmung „frühbürgerliche Revolution“ war auch auf die Einführung strengerer wissenschaftlicher Kriterien und die Nutzung neuer Quellen zurückzuführen.
Die SED-Führung hatte für 1983 zwei Jahrestage gleichzeitig zur feierlichen Pflege der Erinnerungskultur ausgerufen, nämlich Karl Marx‘ 100. Todestag und Martin Luthers 500. Geburtstag, wozu schon drei Jahre zuvor – 1980 – ein Komitee zur Vorbereitung niedergesetzt wurde – unter Leitung von Erich Honecker –, einem klugen Schachzug der Außenpolitiker in der DDR. 1981 erschienen 15 Thesen zur „Martin Luther Ehrung 1983“, erarbeitet wesentlich von Historikern der Akademie der Wissenschaften. Von einem „Lutherjahr“ war allerdings nie die Rede.
Am 4. Mai 1983 wurde der Eröffnungsgottesdienst zum Lutherjahr live in Ost und West übertragen. Das geschah bewusst an dem Tag, an dem Martin Luther auf der Wartburg ankam. Das „Museum für Deutsche Geschichte“ präsentierte eine Sonderausstellung zum Thema „Martin Luther und seine Zeit“. Es erschienen eine Sonderbriefmarke zu 20 Pfennig und eine Luther-Gedenkmünze zu 20 Mark der DDR. Schallplatten mit Luther-Bezug waren käuflich. Das Fernsehen produzierte eine 5‑teilige Luther-Serie. Schaut man ins Internet, so besitzt dieser Film bis heute eine große „Fangemeinde“. In Erfurt fand ein großer Lutherkongress statt.
Den Höhepunkt bildete schließlich ein Staatsakt. Das Gedenken an den bisherigen Helden des Bauernkrieges, Thomas Müntzer als Luthers Gegenspieler wurde im Gegenzug sukzessive zurückgefahren, jedenfalls relativiert.
Im Thüringischen Bad Frankenhausen war 1976 ein Panorama-Denkmal zu bauen begonnen worden, das der Leipziger Künstler Werner Tübke auf dem „Schlachtberg“ (auch „Blutberg“; hier wurden die Reste der aufständischen Bauern niedergemetzelt) errichtete. Es war zunächst gedacht als Denkmal zu Ehren des Deutschen Bauernkrieges und des Bauernführers Thomas Müntzer, der hier gefangen genommen und dann auf der nahen Wasserburg Heldrungen nach Folterungen hingerichtet wurde. Das Denkmal gerann Anfang der 1980er Jahre zu einem großen Bild der frühbürgerlichen Revolution (Eröffnung 1987).
Alles im allem ist es doch erstaunlich, mit welcher Leidenschaft sich bekennende Atheisten in der DDR Luthers Werk als einer kulturellen Vision einer „frühbürgerlichen Revolution“ widmeten, diese mit Müntzer zu vergleichen begannen – wo doch Revolutionstheorie gar nicht ihre Aufgabe war.