Ein Gespräch zwischen Horst Groschopp, Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin, und Jörg Lau über: Die Einsamkeit des Kulturwissenschaftlers.
In: Der Alltag, Berlin 1996, H. 72, S. 163–172.
Herr Groschopp, der Titel dieses Heftes ist „Wie erst jetzt die DDR entsteht“. Was sagt der Kulturwissenschaftler dazu?
Im Wortsinne genommen, ist das natürlich Unfug. Da aber sicher von der DDR Identität und damit von einem kulturellen Problem die Rede ist, wäre danach zu fragen, inwiefern eine relevante Gruppe von Menschen sich jetzt erst mit der DDR zu identifizieren beginnt beziehungsweise an einer solchen Identifikation festhält und wovon sie sich sondert.
In Vorbereitung auf das Gespräch habe ich mir neuere sozialwissenschaftliche Befunde angesehen. Es gibt eine Untersuchung „Sozialreport“ (I. Quartal ’96), unterstützt von der Hans-Böckler-Stiftung, da geht es um den „Identitätswandel in den neuen Bundesländern“. Die Forscher kommen zu ganz erstaunlichen Ergebnissen, nämlich einmal, und insofern könnte die These, daß die DDR jetzt erst entsteht, stimmen, daß das ostdeutsche Wir-Befinden eine längerfristige Bewußtseinslage ist, etwas, was sich seit 1990 als relativ stabil erwiesen hat.
Die Soziologen um Gunnar Winkler bestätigen damit ein Resultat des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts vom Juli 1991. Die Studie „Kulturelles Interesse und Kulturpolitik“ verblüffte zu einer Zeit, da die These von der „Kulturnation“ im Einheitstaumel noch weitgehend dominierte, mit der Aussage, daß die Ex-DDR-Bürger sich in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht primär als Deutsche, sondern als Ostdeutsche empfinden. Das hat sich jetzt herumgesprochen und weitere Umfragen erhärten das.
Die wichtigste Mitteilung aus der neuen Untersuchung ist, daß das Gefühl, Bürger der Bundesrepublik zu sein, nach wie vor lediglich bei einer Minderheit, nämlich nur bei 18%, ausgebildet ist. Das ist schon erstaunlich, über 80% fühlen sich nicht als Bürger der Bundesrepublik, sondern in einem diffusen Zwischenstadium oder können sich gar nicht verorten; und daß mitgeteilt wird, von 55% zu Protokoll gegeben, von den wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungen und Prozessen bei der Gestaltung der deutschen Einheit ausgeschlossen zu sein. Diese Empfindungen bilden sich vorrangig anhand von unmittelbaren Alltagseindrücken, nicht aus irgendwelchen übergreifenden Bewußtseinslagen, früheren Infiltrationen oder aktuellen agitatorischen Unternehmungen von Parteien so die Forscher.
Also: die große Politik rollt über uns hinweg?
Ja, nicht nur die große Politik; das Problematische an dem Ergebnis ist, daß nur 16% ihre Mitwirkungsmöglichkeiten gegenüber früher als verbessert ansehen. Über 80% glauben, daß sich ihre politische Lage nicht grundsätzlich verändert hat. Und wenn man dann noch den Arbeitsplatzverlust und die Praxis der Besetzung der wichtigsten Positionen durch Nicht-Ostdeutsche dazu nimmt, dann kann man sich erklären, warum solche ostdeutsche Identitätsbildungen sich halten können bzw. erst ausbilden – bei aller Differenziertheit, denn den Einheits-Ossi gibt es nicht.
Sie glauben also nicht, daß heute etwas Neues im Rückblick auf die untergegangene Welt der DDR entsteht, sie sehen da eher eine Kontinuität des Wir-Gefühls? Die Vorstellung, daß „erst jetzt die DDR entsteht“, könnte man ja auch so deuten, daß die Bestände des alltäglichen Lebens, die seinerzeit in festen Zusammenhängen standen, jetzt frei werden für ganz andere Besetzungen.
Okay, man kann sagen, vieles wird inzwischen rückblickend etwas anders gesehen als noch 90/91, manches wieder positiver, die soziale Sicherheit etwa oder die Wohnbedingungen. Insgesamt ist ein sachlicherer Rückbezug auf die DDR feststellbar.
Was aber eindeutig aus den Untersuchungen hervorgeht, ist, daß mit der DDR als Staat fast niemand mehr was am Hut hat. Das ist nur eine ganz verschwindend kleine Minderheit von 7%, das sind wahrscheinlich ganz alte Funktionäre, die etwas verloren haben und zudem durchs Rentenrecht noch abgestraft wurden, und ihr DDR-Bild bewahren, um nicht psychisch abzudriften. Zurück will eigentlich niemand.
Das Problematische ist nur, daß sich für das Neue so recht auch niemand engagieren will. In dieser Übergangssituation wird eigentlich zu viel Potential verschenkt. Der Widerspruch wird nicht ausgetragen. Zum Beispiel hier in Berlin: Die Westberliner verlieren ja noch viel dramatischer ihre Identität. Das ist für mich ein gravierender Vorgang.
Warum glauben Sie, daß es für die Westberliner schlimmer ist?
Na ja, es hatte sich da ein bestimmter Standard ausgebildet, aufgrund der Sonderstellung – eine Insel im Meer der DDR, oder wie immer man das nennen mag –, und nun …
… werden die von dem Wasser überspült …
…ja, die haben immer noch Schwierigkeiten zu begreifen, daß sie jetzt zum Osten gehören und immer mehr auch so behandelt werden. Wenn man mit vielen von ihnen heute spricht, dann ist die Klage zu hören, dies fällt weg und das fällt weg. Dann denke und sage ich, das ist bei uns schon lange weg. Wir haben da immer hingewollt, zu diesem Standard, und jetzt sieht man, daß das nicht zu halten ist.
Was man beobachten kann, ist doch, daß ein bestimmtes Warendesign, bestimmte Markenprodukte, die nicht mehr produziert werden, jetzt historisiert werden. Und manche Dinge, die man immer noch bekommen kann, Waren, die den Wettbewerb überlebt haben, wie die bewährte Zahnpasta, haben sogar eine richtige Aura bekommen.
Ja, da gibt es diese Freude des Wiedererkennens, der alte Geschmack der fetten Wurst. Aber Ostpro-Märkte hatten und haben es schwer, denn wer fährt schon paar Kilometer wegen altem Chlorodont. Vielleicht ist dann in der Zahnpasta-Tube schon gar nicht mehr das alte Putzmittel drin und das Ganze nur ein Marketing-Trick … das Ossi ist da sehr mißtrauisch geworden. Beim Bier weiß man’s ja inzwischen, daß bei manchen heimischen Sorten nur noch die Etiketten übereinstimmen, während das Bier vom Westen herangeliefert wird. Jedenfalls geht das Gerücht um. Man weiß ja nie, was da stimmt … und das prägt die Stimmung.
Man weiß überhaupt nicht mehr, was noch stimmt. Als Kulturwissenschaftler sind sie ja schon beruflich mit solchen Phänomen wie Mentalitätswandel beschäftigt. Jetzt kommt hinzu, daß sie selbst durch den Untergang der DDR einem solchen Wandel unterliegen. Sie müssen also jetzt aus beruflichen Gründen auch sich selbst beobachten, sie werden ihr eigenes Versuchsobjekt.
Ja, das ist ein doppelter Vorgang, zum einen beobachtet man, und zum anderen ist man selbst Objekt, es geschieht etwas mit einem. Meine Entlassung, die jetzt wieder bevorsteht, ist ja ein solcher Vorgang des Ausgegrenzt-Werdens.
Sie sind schon einmal entlassen und dann wieder eingestellt worden. Wie kam es dazu?
Es war so, daß nach der Wende die Hochschullehrerstellen neu konzipiert und ausgeschrieben wurden, und von denen, die da waren, kam von uns keiner drauf. Man war quasi überflüssig, bekam aber ständig erzählt, man solle die „Mauer in den Köpfen“ überwinden und sich einbringen.
Die Beschreibung ihrer Stelle wurde geändert?
Das ist eine Sache, die vor Gericht entschieden werden muß. Die fachlichen Dinge sind Auslegungssache. Darum geht es auch gar nicht vor Gericht. Vor Gericht geht es darum, ob die Qualifikationskriterien hinreichend sind, ob die Bedingungen, die für eine Entlassung zutreffen, gültig sind, und den Verwaltungsbehörden der Universität geht’s darum, daß sie Geld sparen müssen. Die hatten auf einmal doppeltes Personal, boten den Neuen exklusive Bedingungen und versuchen das finanzielle Desaster nun zu bereinigen. Aber das trifft ja die meisten studierten Ossis, daß ihre Abschlüsse entwertet oder gemindert wurden. Also: Rausgeflogen, wieder eingeklagt, jetzt wieder rausgeflogen.
Mit der gleichen Begründung?
Das wird das Gericht feststellen müssen. Ich meine ja, nur diesmal nicht mit Berufung auf den Einigungsvertrag, sondern als betriebsbedingte Kündigung.
Haben Sie das Gefühl, daß Sie sich verteidigen können bei Ihrem Streit mit der Uni um die Stelle?
Nein. Das geht seinen Gang, Gerichte bremsen nur.
Das klingt bitter. Man hat Sie doch einmal bereits wieder einstellen müssen. Wie kam das?
Der Richter war erstaunt über die Kündigungsgründe, weil die auf mich nicht zutrafen. Er teilte mit, Sie können den Menschen evaluieren, wie Sie wollen, über die Qualifikation wird mit der Einstellung entschieden. Alle formalen Qualitätskriterien – Doktor, Habilitation (in der DDR „Dr. sc.“, was im Westen irgendwie russisch klingt), facultas docendi, also Lehrbefähigung – sind vorhanden. Und Sie können jeden Arbeitnehmer so oder so bewerten, Bessere gibt es allemal, aber rausschmeißen können Sie ihn nach dem Arbeitsrecht darum doch nicht gleich. Sie hätten ihn eben nicht einstellen dürfen.
Das Problem war also, daß Kommissionen an der Universität eine Revolution machen sollten, aber das rechtliche Instrumentarium dazu nicht an die Hand bekamen. Jetzt müssen sie demzufolge nach Gründen fahnden, die eine Kündigung rechtfertigen. Aber ein Arbeitsrichter kann nicht entscheiden, welche Auffassungen von Kulturwissenschaft Geltung haben sollen.
Hinzu kommt, daß sich die Richter nicht für den „Abwicklungsdienst“ einspannen lassen wollen. Das Ganze kann noch lustig werden, zumal inzwischen ein Gericht bezweifelt, ob es an der HUB richtig war, allen Hochschullehrern, die nicht in Kommissionen berufen wurden, das Mitspracherecht zu entziehen. Dann gibt es ein Urteil, das erklärt es für nicht rechtens, wenn Kommissionsmitglieder selbst zu Professoren „neuen Rechts“ berufen wurden, auch wenn sie bei der eigenen Entscheidung vor die Tür gingen, der Rest sei dadurch befangen. Nun sind aber fast alle Ost-Mitglieder in diesen und anderen Kommissionen auf feste Stellen gekommen. Es sind schon Forscherteams unterwegs, diese Vorgänge zu analysieren. Man kann gespannt sein.
Es ist für die Ost-Identität nicht so wesentlich, daß Tausende entwurzelte Intellektuelle „proletarische“ Erfahrungen machen, sondern daß sie, nun freier im Denken, in „freier“ Lebenslage, aber ständig auf der Suche nach Lohn und Brot, sich in ihrer Mehrzahl nur an die wenden können, die ihre Sprache verstehen – das sind die Ossis.
Vielleicht sollten Sie Rechtsberater werden, wenn Sie eines Tages doch noch endgültig gekündigt werden sollten?
Es geht mir heute schon so, daß ich von Bekannten befragt werde, weil ich mich mittlerweile etwas auskenne und die Literatur verfolge – aber eben als juristischer Laie, auf der Suche nach den kulturellen Fragen darin.
Wenn ich mir ihre Lage vorstelle: Man versucht mich rauszuwerfen das würde ich natürlich als Unrecht empfinden. Dann haben Sie von einer anderen Instanz des gleichen Systems, das sie bedroht, Recht bekommen. Verwirrend?
Recht ist Gewinn – solange man es bezahlen kann. Das andere ist die kalte Sachlichkeit des Rechts. Ich bin vor Gericht explodiert, und mein Anwalt mußte mich beruhigen und sagen, um Ehre geht es doch jetzt gar nicht. Ich hatte erst gar nicht verstanden, mit welcher juristischen Argumentation er mich verteidigen wollte.
Sie wollten vor Gericht ihre wissenschaftliche Ehre verteidigen?
Ja, und ich wollte mich moralisch rechtfertigen, und dabei war die Frage des Richters gar kein Angriff auf mich gewesen, sondern eine freundliche Nachfrage nach meinem Befinden.
Sie hatten erhofft, es wird festgestellt, Herr Groschopp ist ein ehrenwerter Mann und muß deshalb wieder eingestellt werden?
Ja, so ähnlich. Der Richter hat aber einfach nur mitgeteilt, daß die Gründe, die zur Entlassung angeführt wurden, keine Entlassung rechtfertigen. Dann habe ich mich wieder bei meinem Arbeitgeber gemeldet: Ich kann Ihnen erfreut mitteilen, daß ich wieder da bin, und daß ich wieder unterrichten will. Man ließ mich aber nicht unterrichten. Denn Lehrbefähigung ist nicht gleich Lehrberechtigung. Und es wäre ja noch schöner, wenn sich die Arbeitsrichter in die Sachen der Ordinarien einmischen.
Darauf hat mein Anwalt einen freundlichen Brief geschrieben und darauf bestanden, daß mein bestehender Arbeitsvertrag vorsieht, daß ich arbeite, und daß man mir also die Möglichkeit dazu geben müsse. Es wurde also wieder auf einer streng juristischen Ebene verhandelt, die moralische Implikationen ebenso völlig außer Acht ließ wie juristische, z. B. wer mir wann und mit welchem Recht meine Lehrberechtigung entzogen hat. Man ließ mich schließlich unterrichten, nur Scheine darf ich nicht vergeben, was für die Studenten nachteilig ist, die mein Stoff interessiert.
Diese Art zu prozessieren ist etwas, das mit den neuen Verhältnissen kam?
Ja. Ein ehemaligen Kollege, ein Kultursoziologe und zuletzt Professor für Kulturtheorie, ist jetzt sogar Rechtsanwalt. Dieser Boom ist auch Thema für sich. In der DDR wurden allein 1988 fast 65 Prozent der Rechtsfälle („Bagatellen“ wie Ladendiebstähle, Arbeitsstreitigkeiten, Schulpflichtverletzungen, Beleidigungen usw.) von den 255.000 betrieblichen Konfliktkommissionen (etwa 70.000 Rechtsfälle) und den 56000 örtlichen Schiedskommissionen (12.000 Rechtsfälle) erledigt. Sie und die Justitiare der Arbeitsstellen erteilten kostenlose Rechtsauskunft.
So gab es in der DDR zum Zeitpunkt der „Wende“ nur etwa 600 Rechtsanwälte, die meist von Scheidungssachen, notariellen Beglaubigungen oder eben politischen Fällen lebten, in denen heute oft nachgetreten wird. Gehen Sie nur einmal hier ums Karree – so an zwanzig Rechtsanwälte nur hier. Einige aus meinem Bekanntenkreis sind Steuerberater geworden, andere „machen in Immobilien“. Mit Rechts‑, Geld- und Vermögensangelegenheiten kann man eine Menge Geld häufeln und zugleich nützlich sein.
War Ihre Begegnung mit dem Rechtsstaat, um mal ein Modewort aus den siebziger Jahren zu benutzen, eine Erfahrung der Entfremdung – daß man solche Umwege gehen muß, um sein Ziel zu erreichen, daß man seine persönlichen Integrität nicht direkt verteidigen kann?
In unserer Wissenschaft spielte der Begriff der Entfremdung eine große Rolle, gerade nach 68 haben wir uns intensiv mit den Frühschriften von Marx beschäftigt und Marcuse gelesen. Aber ich würde das nicht so oder wie Kafka beschreiben. Es gibt da rational zu erfassende Vorgänge, Interessenkollissionen, Neid, Vorteilsnahme, soziale Zwänge, solche der Haushaltslage, Berufungszusagen, alte Rechnungen, neu geschriebene Biografien …
Um noch einmal auf die Identitätsfrage zurückzukommen, auf die der Titel des Hefts ja zielt: Es kann keine gemeinsame Identität geben, wenn eine kulturelle Hegemonie so ausgeübt wird. Auch die Arbeiterbewegung hat sich ja nicht nur wegen einer gemeinsamen Lage gebildet, sondern, schauen Sie auf die Biografien ihrer damaligen Eliten, aus verletzter Ehre und aus Hoffnungen, ein Ein- und Auskommen zu finden, akzeptiert zu werden usw. Man kann das auch Identität nennen, mit gemeinsamen Symbolen, bis hin zu einer Kunst, die nur in diesem „Lager“ verstanden wurde.
Wahrscheinlich ist es mit der Ost-Identität ähnlich. Die einen diktieren den anderen nicht nur die Spielregeln, sondern sie haben auch noch die Schiedsrichter mitgebracht, die über ihre Einhaltung wachen sollen. – Womit ich nicht sagen will, daß ich mich zu den Verlierern rechne. Es ist eher eine uneindeutige Situation, ich bin Gewinner und Verlierer zugleich.
Wo haben Sie gewonnen?
Aus einem bestimmten Streß politischer Art bin ich raus. Ich habe auch materiell gewonnen, habe mehr Zugang zu Informationen, gute Technik … An der Universität kümmert sich niemand um mein Privatleben, wenn ich meine Arbeit mache. Die DDR-Gesellschaft hat den Menschen als Ganzes wichtig genommen und dementsprechend kontrolliert, ob da auch alles ordentlich zugeht.
Wie erleben sie ihre Situation?
Ach, psychisch einfach ist es nicht. Vor allem kommt man als öffentlicher Mensch wie ich, man merkt das an Einladungen, unmerklich auf einmal in die Rolle des Andersdenkenden, des Dissidenten, und hatte gar nicht geahnt, daß man dazu taugt.
Vielleicht taugt man dazu auch nicht. Eine komische Verlegenheit. Für mich ist das Entscheidende, bezogen auf die Universität, daß man hier am wohl größten kulturwissenschaftlichen Institut der Welt verschiedene Auffassungen nicht gegeneinander antreten läßt, was unter Umständen außerordentlich ich produktiv werden könnte, oder sagt, macht ihr eures, wir machen unsres, sondern die Sache arbeitsrechtlich löst, indem man eine Denkrichtung, die vorher da war, ausgrenzt – ohne Rücksicht auf den eigenen Ruf, der mit der Zeit Schaden nehmen könnte. Nur über die Studenten stellt sich ein Austausch her, denn die gehen ja überall hin, um sich ihre eigene Meinung zu bilden.
Diese Sprachlosigkeiten beobachte ich in vielen Feldern, da sie Ossis wie Wessis zwingt, sozusagen „unter sich“ zu bleiben oder, wenn man zusammen ist, bestimmte „peinliche“ Themen auszusparen. Das setzte 1991 ein, als die Lösung des westdeutschen „Beförderungsstaus“ durch Besitznahme im Osten begann. Das vollzog sich aber nicht nur in intellektuellen Bereichen oder in Verwaltungen, auch in den Betrieben, bei den ABM-Projekten, bei der Auflösung der Verlage … bis zu Salzbergwerken und Schiffswerften. Nun stabilisieren sich die Zustände. Das neue Oben wird sichtbar wie das, was jetzt unten ist. So mancher schaut gar unter den Teppich. Man sitzt sich gegenüber, worüber soll man reden?
Mich erinnert die Situation an die Erzählungen meines Sohnes. Der hat Dreher gelernt und war nach 1991 dreieinhalb Jahre lang zwangsweise mit westberliner Mit-Azubis in der Berufsschule, über die Jahre hinweg jeden Monat eine Woche. Es hat sich kein Kontakt ergeben. Null Kommunikation Ossi-Wessi. Und dabei waren das junge Leute. Das kann doch nicht nur an den, wenn auch in diesem Alter allerdings schon erheblichen, Unterschieden im Monatsgeld gelegen haben?
Wie erklären Sie sich das? Warum gibt es kein Interesse an der eigentlich doch exotischen anderen Seite?
Die Menschen sind sehr anders und wer will schon für den anderen der Exot sein, wobei nach der öffentlichen Meinung dies eben das Ossi zu sein hat? Noch gibt es zu wenig gemeinsame Erfahrungen. Soll der eine verraten, wie geschickt er es bewerkstelligte, des andern Stelle zu bekommen? Soll der andere den Brigadeabend loben, den er so gern besucht hat? Schubkasten auf – Besserwessi und Jammerossi rein – Schubdeckel zu: Ruhe.
Erstaunlicherweise sind die Jugendlichen, die jetzt so 16–18 sind, die nicht durch tätige Teilnahme am System „vorbelastet“ sind und die in dem ganzen Schlamassel der letzten sechs Jahre sozialisiert wurden, noch viel mehr auf Ostdeutschland orientiert, als bisher wahrgenommen wird. Das hat etwas mit geschlossenen sozialen Räumen zu tun, hat aber auch familiäre Ursachen, daß Eltern zu Hause aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen, wenn sie berichten, was ihnen tagsüber so widerfahren ist.
In meiner Familie konnte ich auch beobachten, daß der Streit mit den Verwandten im Westen erst losging, als die Mauer gefallen war. Vorher hat es wunderbar funktioniert, jedenfalls soweit die Grenze es zuließ. Dann fuhren die Ostdeutschen in größeren Mengen, mit neuen PS-Schlitten und sächsischem Gemüt bis nach Herne. Sie fielen ein in die heimischen Hütten und quasselten über die „Gesellschaft“.
Das provozierte die ersten Auseinandersetzungen darüber, wer besser weiß, wie man’s hätte machen sollen und tun müssen – im Osten. Dann hieß es plötzlich, ihr müßt ja erst mal richtig arbeiten lernen. Eine Explosion war unvermeidlich. Ein Todesfall hat dann alle wieder zusammengeführt und die Erkenntnis brach durch, das Leben ist endlich – und jeder hat früher sein’s gemacht, so gut es ging und so soll’s weiter gehen: ihr stört uns nicht, wir nicht euch.
Das heißt, auf einmal spielt die Ehre eine Rolle. Wenn einer so etwas zu einem sagt, das geht doch tief, man fühlt sich in seiner Ehre verletzt.
Ja, es gibt eine schöne Definition von Ferdinand Tönnies, was Ehre ist: Ehre ist das, was den Herrn vom Knecht unterscheidet. Und man verlangt von zu vielen Ossis, die Unterordnung anzuerkennen, z. B. wenn einem gesagt wird, du mußt noch etwas lernen oder: Das haben wir schon immer so gemacht. Das sagt ja, ihr habt es falsch gemacht und ihr müßt unsere Höhe erst erklimmen. Viele Ostdeutsche haben ja immer wieder vorgeschrieben bekommen: noch dieser Kurs, noch jener Kurs; und praktisch in den letzten Jahren erlebt: diese Degradierung, jene verdächtigende Nachfrage. So etwas wirkt.
Ich selber habe zwischenzeitlich übrigens Ost- und Westberliner/ ‑innen (Studienabbrecher, Arbeitslose …) in Umschulungskursen unterrichtet. Dabei stellte ich einen interessanten Einstellungsunterschied fest: Während die Ostler glauben, es gehe darum, daß sie sich qualifizieren, um noch einmal Arbeit zu bekommen und sich entsprechend anstrengen, leben die Westler mit dem Bewußtsein, daß es nur darum geht, mal wieder eine Einkommensphase zu haben.
Auch die Weise, in der man sein Schicksal interpretiert, ist ganz unterschiedlich: Während der Ostdeutsche glaubt, er unterliege einem kollektiven Schicksal, betrachtet der Westdeutsche seine Lage als etwas (in Grenzen) frei gewähltes, für das man alleine verantwortlich ist. Die Ostdeutschen pflegen dabei eine moralische Haltung zur Gesellschaft. Diese hat ja die „Wende“ begleitet und befördert: Sich auf die offizielle Idee der Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit berufend, haben sie sich über die Wandlitz-Villen und Privilegien der Führungsschicht aufgeregt und sind dagegen auf die Straße gegangen. Dabei waren das Standards, die einem heute schon läppisch vorkommen, zumal Anleitungen zu kaufen sind, wie man Millionen an der Steuer vorbeischafft.
Warum regt sich keiner mehr auf? Sind die Leute resigniert, weil sie noch viel größere Ungleichheiten hinnehmen müssen?
Die soziologischen Untersuchungen zeigen, daß es den allermeisten Leuten materiell besser geht, gemessen am früher Möglichen. Manche hatten sich vielleicht noch mehr erhofft, aber die Verbesserungen sind unabweisbar. Die Langzeitarbeitslosen können erst auf höchstens zwei bis vier Jahre kommen, denn vorher waren sie ja in Lohn und Brot. Ähnliches gilt für Sozialfälle. Die Probleme reifen erst und zwar regional sehr verschieden, teilweise wieder als kollektives Schicksal. Hinzu kommt das Gefühl, das die „Ausgeschlossenen“ mit vielen Arbeitenden teilen: nicht dazuzugehören, nicht ernst genommen zu werden, quer durch die politischen Lager.
Ich habe mir mal überlegt, was denn wirklich die Unterschiede waren zwischen DDR und Bundesrepublik, und wo die Menschen sich in einer relativ kurzen Zeit umstellen mußten. Da ist zuerst das Geld. Das Geld spielte in der DDR nicht so eine Rolle. Zwar war jeder dahinter her, aber mit Geld konnte nichts erzwungen werden. Mit Tausch konnte etwas bewirkt werden. Jetzt spielt Geld die wichtigste Rolle, und soziale Beziehungen treten demgegenüber zurück.
Es ist eine interessante Reaktion und Beobachtung, daß sich viele „Kollektive“ wieder zu treffen beginnen, personale Kommunikation über die Familie hinaus suchen, sei es im Verein oder der ehemaligen „Brigade“. Da ist man unter sich, hält „Wessis“ und „Wendehälse“ fern, verarbeitet die Situation und lacht über die alten Witze und neuen Blindgänger. Jetzt ist eine Gleichheit auf einer anderen Ebene da, weil man die Menschen ganz sachlich als Geldbesitzer behandelt und nicht nach Gesinnungen fragt, aber es sind auch alte Beziehungen kaputtgegangen.
Warum sind die Beziehungen kaputt?
Na, wenn mein Trabant kaputt war, dann wußte ich, an wen ich mich wenden mußte, um das Ersatzteil zu bekommen. Als Intellektueller hatte ich dabei allerdings immer ein Problem …
… Sie hatten nichts zum Tauschen?
Ja, jemand, der etwa Elektriker war, hatte es da leichter. Ich konnte nur bezahlen, oder aber die proletarische Verwandtschaft bemühen.
Und jetzt ist das funktional mehr nötig, und dann fallen solche Beziehungen weg.
Ja, jetzt haben sich solche Beziehungen erledigt, obwohl natürlich ohne Vitamin B, gute Beziehungen, immer noch niemand vorankommt. – Nebenbei: Der Begriff „Seilschaft“ meint etwas anderes und ist ein West-Import.
Aber war das nicht einfach nur Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft aus purer Not, die jetzt im Rückblick romantisiert wird zu einer Art selbstloser Nachbarschaftshilfe?
Na ja, diese Schwarzarbeit war möglich, weil in manchen Bereichen die Arbeit nicht so straff organisiert war und weil der Staat dies letztlich gefördert hat, z. B. durch Nichtbesteuerung dieser Arbeit. Da war es schon möglich, sich auf mancher Arbeitsstelle von Montag bis Freitag ein bißchen von der harten Wochenendarbeit zu erholen.
Unter meinen Bekannten, die ich in der Sauna treffe, sind einige Handwerksmeister. Denen geht’s jetzt zwar besser, obwohl sie auch in der DDR nicht schlecht lebten. Sie klagen aber darüber, daß sie nie wieder so viel Freizeit haben werden, wie sie hatten, denn sie waren einfach konkurrenzlos, trotz der Schwarzarbeiter, teils mit ihnen verbündet, sie teils selbst nutzend.
Heute rennen sie der Arbeit nach, von einem Angebot zum andern, und treten gegeneinander an. Manchmal knistert es ganz schön, wenn die beiden Elektriker sich begegnen und sich auszufragen versuchen, wie hoch der andre mit seinem Angebot auf die Ausschreibung pokert. Sie haben materiell gewonnen, aber an Lebensqualität verloren, sagen sie selbst.
Auf einen weiteren Unterschied möchte ich verweisen. Das Sozialversicherungssystem ist anders organisiert, nicht mehr so von der Wiege bis zur Bahre absichernd. Das verursacht große Ängste, weil es ja auffängt, wenn man fällt. Soziale Sicherheit in der DDR war außerhalb der Ersatzkassen und Sozialhilfe definiert. Sie folgte dem Modell beaufsichtigter Pflichtarbeit in einer Nicht-Markt-Gesellschaft, mit all den Folgen dieser Aufsicht.
Nicht darauf will ich insistieren, sondern auf zwei kulturelle Momente verweisen. Erstens war, vereinfacht ausgedrückt, das Arbeitsamt bloß für die Schwervermittelbaren und die Knastbrüder da. Heute muß man da als normaler Arbeitsloser hin. So eine Schande, denken viele. Dafür gibt es auf dem Wohnungsamt keine Wohnungen, sondern nur Berechtigungsscheine. Zweitens galt man ja praktisch als unkündbar, wenn man keine silbernen Löffel klaute oder ausreisen wollte. Sonst war es sehr schwierig, jemanden von einer Arbeitsstelle wegzukriegen.
Was hat man denn dann mit denjenigen gemacht, die man gerne losgeworden wäre?
Wie heute im öffentlichen Dienst: Befördert. Manche konnte man nur rauskriegen, indem man sie wegbeförderte, hochlobte. Das mag bei den Arbeitern anders gewesen sein, weil Arbeiter immer gefragte Leute waren. Es sind ja bis zum Mauerbau viele qualifizierte Leute, und gerade junge Leute, weggegangen, so daß ein Mangel herrschte. Und auch am Ende, vor dem Mauereinriß, waren es ja Arbeiter, nicht in erster Linie die intellektuellen Dissidenten, die das System zum Zusammenbruch gebracht haben, indem sie weggingen.
Sie sind gegangen, weil über die Absicherung hinaus in diesem Staat für sie zu wenig zu holen war, wegen mangelnder Karrierechancen. Der Preis für die Sicherheit war eine ziemliche Bescheidenheit. Nur sehr wenige konnten eine Karriere mit Dissidenz, mit abweichender Meinung und anderen Lebensentwürfen machen. Finden Sie nicht, daß das in dem vereinigten Deutschland leichter ist?
Mit der Dissidenz ist es heute etwas schwierig, schon wegen des Pluralismus und der weltanschaulichen Beliebigkeit. Dissidenten zeichnen sich ja in der deutschen Geschichte durch Antikonfessionalität aus. Man mußte nach dem 30jährigen Krieg einer der beiden großen Konfessionen zugehören oder Jude sein, und wer das nicht war, der war Dissident. Daher kommt das Wort.
Und da der Sozialismus so eine Art Staatsreligion war, ist der Begriff für solche Systeme wie das in der DDR oder heute in China praktikabel. Und man kann sich vorstellen, daß mit dem Untergang des Sozialismus gerade für die Dissidenten, die Bürgerrechtler, etwas Wichtiges verlorengegangen ist, ein „Kulturstaat“, dessen Kultur man in Zweifel zieht und dafür belangt wird.
Man sieht ja, wie schlecht gerade sie sich zurechtfinden, wenn sie nicht in den großen Parteien Karriere machen konnten. Mit dem Wegfall der DDR ist der Gegner verschwunden, mit dem man in kulturpolitischer Fehde lag. Die Reizschwelle der damals Mächtigen lag niedrig. Heute liegt sie zwischen Kinderporno und Straßenkrawall nach Walpurgis. Selbst wegen Blasphemie ist man nur schwer dranzukriegen, aber leicht bei falsch parken.
Haben Sie das Gefühl, daß Sie manchmal besser als die Westdeutschen verstehen, wie der Laden läuft?
Sicher, es fallen einem ja viele Dinge auf, die für die Altbundesbürger Routine sind. Hinzu kommt, ich war zwischen 1990 und 1992/93 in einer Art Scout-Funktion. In meinen Umschulungskursen und in Projekten mußte ich Westlern die DDR und Ex-DDRlern die Bundesrepublik erklären. Und ich denke, das Erlebnis eines echten Wertewandels ist ein Vorsprung der Ostler vor den Westlern.
Früher war das auch für mich nur so eine Vokabel oder die Szene in Brechts „Flüchtlingsgesprächen“ über die Gras fressenden Saurier, die man noch grüßt, obwohl die besseren Tiere schon Fleisch essen. Aber dann habe ich selbst erfahren, daß die Sachen, für die man eben noch gelobt wurde, jetzt gegen einen verwendet werden können. Das ist für einen Kulturwissenschaftler eine ziemlich einmalige Chance, an sich selber zu beobachten, wie Wertewandel abläuft, zu sehen, wie Menschen von einem auf den anderen Tag ihre Einstellung ändern und doch immer im Brustton der Überzeugung sprechen.
Ich vermute, der Wertewandel ist noch im Gange und erfaßt gerade die Gegend am Rhein, obwohl die, um im Brecht-Bild zu bleiben, noch Gras fressen. Auch in den Zeitungen sind plötzlich Themen wichtig, die man erledigt geglaubt hatte und die auf verzweifelte Werte-Suche hindeuten. Denken Sie nur an die Diskussion um den Religionsunterricht beziehungsweise „LER“ in Brandenburg; oder an die Symbolwelt, die sich um die Rentendiskussion rankt oder um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Selbstredend gab es in der DDR gekürzte Bezüge, wenn man krank zu Hause blieb, und die ärztliche Bestätigung war schon für den ersten Tag nötig … Wenn wir schon dabei sind: Gegenüber der BRD mußten Beschäftigte in Industrie, Handwerk und Verwaltung in der DDR täglich 45 min länger arbeiten. Sie hatten, das sozialistische Bayern bleibt mal außen vor, vier Feiertage und zehn Urlaubstage weniger. Frauen gingen zwei und Männer drei Jahre später in Rente. Dafür hatten Frauen mit einem eigenen Haushalt monatlich einen Haushaltstag – das fällt ja nun weg. Was wandelt sich wohin? Wer übernimmt was von wem?
Der Wandel schärft aber auch den Blick auf das, was hier Identität stiftet und wo man sich weigert, die Umstellung bis in die kleinen Momente des Alltags vordringen zu lassen: Das Ostdeutsche grüßt sich weiter per Handschlag, ein alter Unterschichtenbrauch. Im Westen findet man das ein wenig abstoßend, also reckt das Ossi provozierend die Hand vor. Regelrechte Dramen der „Ehre“ können sie hier inzwischen beobachten. Als ich nach meinem gewonnenen Prozeß an die Uni zurückkam und einem wichtigen Westmenschen begegnen sollte, rieten mir Kollegen: Gib ihm nicht die Hand, das mag er nicht! Distanz halten!
Oder die Schwierigkeit, in neuen Zusammenhängen mit dem Wort „Genosse“ angeredet zu werden und diese Anrede zu verweigern oder damit zu spielen. Ich bin Mitglied bei den Freidenkern, einer SPD-nahen humanistischen Vereinigung. Einigen Ost-Mitgliedern wird ganz komisch, wenn sie dort wieder „Genosse“ genannt werden. Und dann gibt es auch das Problem, daß Ost- und Westdeutsche nicht über das Gleiche lachen können. Man wirft sich dann wechselseitig vor, die anderen hätten keinen Humor.
Oder – um wieder zum Problem der Identität zu finden – der jeweilige Begriff von Gesellschaft: Das Durchschnitts-Ossi kann sich nicht mit dem Gedanken einer Gesellschaft von Individuen anfreunden. Man stellt sich immer noch die Gesellschaft als riesiges Subjekt vor: Die Gesellschaft müßte da doch etwas tun! Als ob die Gesellschaft nicht aus Interessengruppen und Einzelnen bestünde, die sich im Konkurrenzkampf befinden.
Man spricht von Gesellschaft, meint aber gemeinschaftliche Werte, auf die man sich bezieht und die sich alle aneignen sollten. In der DDR war man sozusagen Mitglied der „Gesellschaft“, und man konnte davon nur zurücktreten, indem man den Staat verließ. Es gab ja zum Beispiel überall diese Kampfgruppen, auch an der Universität. Eines Tages hatte ein Mitglied das Land in Richtung Westen verlassen. Das war noch im Frühjahr 1989. Es wurde ein Appell abgehalten und der Betreffende wurde in seiner Abwesenheit in Unehren aus der Kampfgruppe entlassen. Das war eine komische Situation, weil irgendwer wohl meinte, der Typ ärgert sich darüber.
Klingt ein bißchen wie Voodoo Zauber.
Ja genau, solche Personen wurden überall nachträglich ausgeschlossen. Wenn sie im Schrebergartenverein waren, wurden sie auch dort noch ausgeschlossen. Der DDR-Ausweis war ein Mitgliedsbuch.
Doch zurück zum kulturellen Problem im Brecht-Bild über die Saurier. Auch im Westen wird ja heute unter dem Eindruck des Zerfalls der Gesellschaft gerne von Werten geredet, vor allem in einer krisenhaften Lage wie der jetzigen, wo die Ökonomie den Zusammenhalt nicht mehr garantieren kann und Marginalisierung durch Arbeitslosigkeit ein verbreitetes Schicksal ist. Da wird auf einmal versucht, das Christentum in dem Glauben zu reaktivieren, traditionelle Werte würden es schon richten, wie es sich in dem Kruzifix Streit und dem Streit um den Religionsunterricht in Brandenburg ausdrückt.
Was halten Sie von dieser Strategie?
Das wird im Osten keinen großen Erfolg haben. Überhaupt ist ja das neue Deutschland durch die Vereinigung nicht nur preußischer und protestantischer, sondern auch atheistischer geworden. Die Kirchenferne ist wohl der Unterschied zwischen Ost und West. 55% im Westen, aber nur 30% im Osten bekennen sich als religiöse Menschen, dagegen nur 5% im Westen, aber 20% im Osten als überzeugte Atheisten. Wie will man diese säkularisierte Bevölkerung re-christianisieren?
Was halten Sie von dem Begriff „Ostalgie“?
Er drückt genau diese Hilflosigkeit aus und schiebt erst mal alles auf die alte kranke DDR und die alten falschen Einflüsse, so wie Diepgen nach der Abstimmungsniederlage zur Fusion in Brandenburg meint, das sei der weiterwirkende Vorbehalt gegen die DDR-Hauptstadt.
„Ostalgie“ soll wohl für den Westen die Verwunderung und den Ärger erklären, daß man sich neuerlich mit Widerspenstigem in der ostdeutschen Mentalität herumplagen muß. Der Bauer senkt nicht den Blick, wenn der Ritter zu Pferde naht. Diese sich äußernde Undankbarkeit, ja Beleidigung, versucht man zu überspielen, indem der Vorgang ein bißchen ins Unernste gerückt und sachte mit dem Entzug der Solidarzuschläge gedroht wird. Das feuilletonistische Palaver über „Ostalgie“ tröstet zugleich noch ein Stück Zeit darüber hinweg, daß einem selbst eine Wende bevorsteht, ein großer Transformationsprozeß, der die alten Gewißheiten erschüttern wird.
Man könnte also unseren Ausgangssatz umkehren und sagen, daß erst jetzt die BRD entsteht, weil dieses neue Deutschland nicht einfach eine riesige Bundesrepublik nach altem Muster ist?
Man hat das durch eine offizielle Sprachregelung kaschieren wollen. Es gab da eine Anweisung im Bundesministerium des Inneren, daß man nicht „ehemalige Bundesrepublik“ sagen soll, weil diese ja noch mit sich identisch sei. Das ist wohl das Problem. Wir werden sehen, wie die Mitbundesbürger und Mitbundesbürgerinnen im Westen die bevorstehenden strukturellen Umbrüche verarbeiten und ob dann nach östlichen Erfahrungen gefragt wird, allein deshalb, weil hier der Igel schon am Ende der Furche steht und den Hasen nach seiner Identität fragt.
Jetzt haben wir viel von Identität und Differenzen geredet. Glauben Sie, daß Identität überhaupt eine sinnvolle politische Kategorie ist. Wenn man das in dem Sinne versteht: den Deutschen wird’s dann besser gehen, wann sie eine gemeinsame Identität haben?
Die Versuche, so etwas in der deutschen Geschichte herzustellen, sind nicht sehr ermutigend, weil sie in zwei Weltkriegen endeten, also in einer erzwungenen Identität nach innen durch ein äußeres Feindbild. Ich kann mit einem Zustand leben, wo ost- und westdeutsche Identitäten konkurrieren, gemeinsam mit denen unserer ausländischen Mitbürger. Das ist doch produktiv. Im Westen sollte man sich mal klarmachen, wie unendlich geduldig bisher die Ostdeutschen alle Zumutungen der vergangenen fünf Jahre hingenommen und zum Teil verarbeitet haben. Da ist es doch nur logisch, daß sie sich endlich vergewissern, wo sie herkommen und vielleicht hinwollen.
In diesem Sinne kann man sagen, daß „erst jetzt die DDR entsteht“ – und hierin liegt die politische Brisanz des Themas. Jetzt wird das Bild von der DDR geprägt, das dann wahrscheinlich weitergegeben wird.
Die DDR ist heute Objekt eines blühenden Forschungszweigs. Die Literatur über die DDR ist gegenwärtig schon so zahlreich wie wahrscheinlich sonst über keine Gesellschaft, schon gar nicht über die „alte BRD“. Und es ist doch selbstverständlich, daß die Ossis an dieser Debatte selbstbewußt teilhaben wollen, wie sie auch immer vorher zur DDR und ihrer Kultur standen. – Und vielleicht ist diese Debatte die Realität, die das Problem der Ost-Identität erzeugt. Um so mehr wäre dieser Streit auszutragen und in die Wirklichkeit zu schauen. Auf zum nächsten Heft: „Wie die alte Bundesrepublik ihre Identität verliert?“ Oder hatte sie gar keine?