Der folgende Text behandelt das Thema aus dem Blickwinkel eines schwach organisierten Humanismus in Deutschland, der sich zwischen Konfession und Kulturorganisation bewegt. Der Aufsatz konzentriert sich auf fünf Aspekte der damit verbundenen umfänglichen Probleme, den Zusammenhang von „Laienwelt“, Freidenkerorganisation und Humanismus, das Ende der priesterlichen Herrschaftsformen in der Moderne, Kultur und Humanismus, Geschichte und Zweck öffentlicher Kulturförderung und darauf bezogen das Agieren von humanistischen Verbänden.
Auf die Behandlung folgender dazugehöriger drei Themen wird hier aus Platzgründen verzichtet, obwohl erst deren Erörterung einige der aufgestellten Thesen erhärten, die Geschichte und Struktur der staatlichen Religionsförderung, der konzeptionelle Zusammenhang von Kulturstaatstheorie und Staatskirche und (vor allem) die Theorie und Praxis öffentlicher Kulturförderung, im Unterschied zur Religionsförderung, die sich zumindest in dem Bereich überschneiden, wo die Religions- und die Weltanschauungspflege, zur Letzteren gehört die „Humanismuspflege“, sich überschneiden.
„Laienwelt“, Freidenkerorganisation und Humanismus
Das Wort „Laie“, das im deutschen Begriff des Laizismus steckt, war in unserem Kulturraum seit dem ausgehenden Mittelalter der Gegenbegriff zu „Klerus“. Der Begriff besaß die bis heute wirkende Doppelbedeutung „das gemeine Volk“ (Nichtkleriker, Leute, Kriegsleute, Untertanen) und ungelernt, „laienhaft“, ungelehrt, nicht berufsmäßig. Das Wort „Weltanschauung“, als es um 1900 um erste Gemeinschaften im Gegensatz zu Religionsgesellschaften ging, etwa freireligiöse, hatte ebenfalls einen Doppelsinn, meinte „Poetenreligion“ und „Laienphilosophie“. Als das Wort „Weltanschauung“ dann 1919 in die Weimarer Reichsverfassung kam, hatte es noch immer diese Bedeutung und die Befürworter des Artikels 137,7, den das Grundgesetz übernommen hat, dachten zum einen völkisch-national, zum andren sozialistisch-freireligiös.
Da besaß das Nachdenken über eine organisierte Kultur neben oder auch außerhalb des mit dem Staat eng verflochtenen Christentums schon eine längere Geschichte mit Höhepunkten im „Vormärz“ der Revolution von 1848/49. In den 1860er Jahren beginnend entfalteten sich dann in Deutschland in Nachfolge der „Lichtfreunde“ und „Deutschkatholiken“ freireligiöse Gemeinden. 1871, fast genau zu dem Zeitpunkt, an dem in Frankreich der Humanist, Gründer der Liga für Menschenrechte, Pädagoge und Friedensnobelpreisträger 1927 Ferdinand Buisson das Kunstwort „Laizismus“ (laïcitė) erfand, um seiner Idee eines religionsfreien Schulunterrichts einen strategischen Begriff zu unterlegen, veranlasste (nach dem Zeugnis des Deutschen Wörterbuches der Gebrüder Grimm) der Gouverneur des Elsasses, seit Mai dem Deutschen Reich angegliedert, die Gründung eines bürgerlichen „Laienvereins“ zur Verteidigung kirchlicher Freiheiten.
Damit kam das Wort in die deutsche religionspolitische Sprache, nachdem noch im Juli 1871 das Wort „Laienwelt“ vollständig die Bedeutung hatte, dass die „Laienwelt“ und der Klerus dem Bischof zu gehorchen haben. Parallel kam es in den 1870ern zur Gründung von religiösen Vereinigungen, die mithilfe des Staates, teilweise auf dessen Initiative hin, für die Kirchen wirkten. Das geschah noch in Tradition des deutschen Verständnisses von „Culturpolicey“, die seit dem 18. Jahrhundert in den einzelnen Territorialstaaten ausgebildet worden war.[1]
Danach hatte der Staat die Aufgabe, christliche Sitte und kirchliche Ordnung in der Gesellschaft zu sichern. 1817 waren, zuerst in Preußen, Kultusministerien entstanden, deren oberste Pflicht darin bestand, je nach Staatsreligion, die äußeren protestantischen bzw. katholischen Angelegenheiten zu regeln und Akademien, Wissenschaft, Schulbildung, Medizin und später die Künste staatlich zu verwalten und von freidenkerischem Gedankengut rein zu halten. Aus der Kulturpolizei wurden verschiedene Verwaltungen, deren wichtigste – von der noch rudimentären Geheimpolizei abgesehen – die Sittenpolizei war.
Die neuen bürgerlichen Vereine des späten 19. Jahrhunderts gründeten sich nach 1890 auf Vereinsbasis. Sie blieben zum großen Teil sittlichkeitsbewegte kirchliche Hilfstruppen, wie die spätere Diakonie und die Caritas soziale Vorfeldorganisationen der Kirchen wurden. Man darf nicht vergessen, dass das „Sozialistengesetz“ von 1878 zwar politisch motiviert war, aber die „Anstiftung zur Unsittlichkeit“ zum juristischen Grund hatte, also auch den indirekten Atheismusvorwurf, der propagandistisch durchaus eingesetzt wurde.
Die Freireligiösen waren im Wesentlichen seit 1848/49 der deutschen Einigkeitsbewegung, den Demokraten und damit dem Liberalismus verpflichtet. Bis in den „Kulturkampf“ 1872 bis 1888 hinein blieb die Freidenkerei liberalistisch. Freidenker selbst – im heutigen Sinn des Wortes – waren bis 1900 vor allem Philosophen, Privatgelehrte, schreibende Fabrikanten, verkrachte Pfarrer, Rabbiner, Autodidakten und Lebensreformer aller Art, noch nicht die proletarischen Freidenker der Zeit zwischen 1910 und 1933.
Einsetzend mit dem Wachsen der Sozialdemokratie während des Sozialistengesetzes, wurden die ersten Dissidenten Sozialisten, wollten Christentum durch Sozialismus ersetzen. Als Sozialdemokrat oder Kommunist ist man in den 1920ern bis in die 1950er Freidenker. Daneben gab es seit den 1890ern diverse bürgerliche Bewegungen, gerade in den „Humanistengemeinden“. Letztere innovierten dann Ideen und praktische Vorschläge zu einem Schulfach und Unterrichtsprinzip „Lebenskunde“, teilweise als „Moralunterricht“ gedacht, und die weltliche Seelsorge. Alle dissidentischen Organisationen traten grundsätzlich auf und als Kulturbewegungen an. Man kann diese „Laienvereine“, inklusive der schon älteren Freimaurer, durchaus als humanistische Bestrebungen verstehen.
So weit es sich um freireligiöse Gemeinden handelte, sahen sie sich „konfessionell“ als Bekenntnisgemeinschaften mit Dienstleistungen von der Wiege bis zur Bahre. Sie wurden in den 1920ern Körperschaften des öffentlichen Rechts (KdöR), selbst Freidenker erstrebten dann diesen privilegierenden Status.
Eine umfassende Geschichte der kulturellen Absichten und Aktivitäten der Dissidentenverbände bis 1933 liegt leider nicht vor. Auch das Buch Dissidenten ist nur eine Annäherung.[2] Die Historie wäre bis ins Heute zu verfolgen. Für die konzeptionelle Begründung des organisierten Säkularismus und Humanismus ist diese Erinnerungsarbeit existenziell, denn zum einen ist Humanismus selbst nur kulturell begründbar. Auch die laizistischen Ziele, was immer man unter Laizismus verstehen möchte, sind kulturelle Absichten mit juristischen und anderen praktischen Folgen. Zum anderen vollzieht sich die Geschichte humanistischer Organisationen – und das ist weitaus mehr, als das, was heute das „säkulare Spektrum“ darstellt – als Teil universalgeschichtlicher Humanisierungsschübe (mit den bekannten epochalen Rückschlägen, Stichwort: Holocaust) mit bislang als solche noch nicht genug gewürdigten Modernisierungen, verbunden mit Säkularisierungen, die, man sollte auch hier nicht alles auf das Staat-Kirche-Problem einengen, die aktuelle „Laienwelt“ geschaffen haben.
Diese „Laienwelt“ ist erstens charakterisiert durch Lebensbedingungen, Lebensweisen und Institutionen außerhalb von Religion, inklusive der historischen Ausbildung der modernen Kunst‑, Geistes- und Kulturwissenschaften, einer empirischen Kulturwissenschaft (einer Ethnologie und Soziologie der menschlichen Kulturen), der Ausbildung und Anerkennung historischer Individualitätsformen und einer humanistischen Geschichtsbetrachtung, die kulturelle Theorien vom Menschen und der Menschlichkeit in ihre Analysen einbezieht – selbst die Theologie, gegen deren Dominanz sich diese Menschen- und Weltbetrachtungen durchgesetzt haben, ist nicht mehr diejenige von 1900.
Zweitens haben die gesellschaftlichen Anwendungen von Humanität und die ausgebildeten humanitären Hilfeformen soziale und ethische Praxen erzeugt, die zwar die seit Menschengedenken kulturell vorherrschende Priesterschaft nicht gänzlich ablösten. Dennoch dominiert selbst in kirchlichen Einrichtungen heute eine sehr weltliche, an den Bedürfnissen der weniger gewordenen Gläubigen und ihren Leiden orientierte Seelsorge. Dass diese christliche Seelsorge, soweit sie religiöse Botschaften berührt, sich weiter „aufweicht“, „laisiert“, weil sie in der Praxis auch Ungläubigen und Andersgläubigen nützen soll, belegt diese Kulturwende.
Ende priesterlicher Herrschaftsformen
Diese Wende hat vor allem das Ende priesterlicher Herrschaftsformen gebracht. Dieses ist nicht nur gesetzlich verankert, sondern kulturell geworden, z. B. Kultformen betreffend. Die Menschen diskutieren über den Papst und die Sängerin Madonna auf einer Ebene. Es ist diese historische Ablösung der Priesterschaft in der dissidentischen Bewegung, seit es sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts gibt, intensiv diskutiert worden, etwa dahingehend, ob sich nicht laienhafte „ethisch-ästhetische Prediger“, wie sie Rudolph Penzig 1907 in seiner Schrift Ohne Kirche genannt hat, oder ganz neue Berufe ausbilden, fern der Priesterschaft.[3]
Moderne Gesellschaften anerkennen ganz selbstverständlich ihr Funktionieren in arbeitsteiligen Systemen der Kultur‑, Sozial‑, Bildungs‑, Beratungsarbeit, kennen Beratungsformen (Lebens‑, Schuldner‑, Eheberatung usw.), schätzen organisatorische wie historische Neuschöpfungen (Nachbarschafts- und Lebenshilfe, Selbstsorge, Selbsthilfe und Hilfe zur Selbsthilfe), bis hin zu einer humanistischen Soldatenberatung (Belgien, Holland), einem Nachdenken über humanistische Spiritualität (spiritual care) und praxisorientierte Humanismusstudiengänge (Belgien, Holland).
Priester sind heute eingeordnet in diese Systeme. Niemand käme hierzulande auf die Idee, ihnen all dies aufzubürden. Wo sie „Kirchendiener“ sind, ist ihre Tätigkeit wesentlich vielseitiger als bei traditionellen Pfarrern vor hundert Jahren. Diese Umstände legen humanistischen Organisationen heute drei ganz praktische Fragen vor: Was wollt ihr leisten? Wo ist euer Platz? Wodurch seid ihr unersetzlich in diesem arbeitsteiligen System?
August Horneffer, mit seinem Bruder Ernst ein zu Unrecht nahezu vergessener, wenn auch ziemlich national gesinnter Freidenker (aber wer war das nicht vor 1914), legte 1912 eine historisch-völkerpsychologische Studie mit dem Titel Der Priester vor,[4] nachdem er sich im März 1911 der Freimaurerei verschrieben hatte, um hier „Welt“, „Gemeinschaft“ und „demokratisches Debattieren“ zu finden.[5] Es werde, meinte er, weiterhin sowohl einer weltanschaulichen Gemeinschaftsbildung als auch religiöser Rituale bedürfen. Denn der „Modernität als … Zersetzungsvorgang“ müsse eine freie Priesterschaft gegensteuern, weil sonst das öffentliche Leben am Wirken der beiden kulturellen Hauptsubjekte der Zeit zerbreche, dem Gelehrten und dem Kranken.[6]
Den Horneffers schwebte dabei eine Art „Kulturarbeiter“ als moderner Pfarrer vor, Lehrer und Seelsorger zugleich. Die Idee vom „ethisch-ästhetischen Priester“ stieß bei der Etablierung einer kirchenfernen Kulturarbeit auf große Resonanz. Rudolph Penzig, in vielen Verbänden und ihren Zusammenschlüssen bis zur Revolution 1918 von maßgeblichem Einfluss, hatte das ähnlich gesehen und „ethisch-ästhetische Prediger“ gefordert. Er lehnte allerdings Priester nach kirchlichen Vorbildern oder Moralprediger rigoros ab,[7] weil er an seinem strengen Individualismus in Glaubensfragen festhielt. Das sei, 1915 eine verbindliche Deutschgläubigkeit kritisierend, „allerpersönlichste Herzens- und Gewissenssache … Soviel Individuen – soviel Religionen!“[8]
Jede heute hierzulande vorfindliche „säkulare“ Organisation, besonders aber diejenige, die sich positiv auf Humanismus bezieht, muss für sich die Frage beantworten, wie sie die historische Ablösung der Priesterschaft beurteilt und ob sie etwas Alternatives, und wenn ja, was, an deren Stelle treten lassen will. Das ist nun gar nicht in dem Sinne gemeint, dass sie sozusagen „Humanismuspriester“ haben sollte. Beide Begriffe – Humanismus und Priesterschaft – schließen sich aus. Aber es ist dennoch ein Nachdenken in der Fragerichtung nötig, wo denn der jeweilige Platz der Verbände ist in der Gesellschaft, neben den Religionen und anderen Säkularen, und im Staat, der von Religionen und Weltanschauungen teils frei sein, teils alle gleichbehandeln soll.
Jeder Verein muss sich heute bescheiden, kann nur kulturelle Beispiele schaffen, etwa in Kindergärten oder Hospizen. Sie müssen aber allesamt zeigen, wenn sie gesellschaftliche Bedeutung erlangen wollen, was und wie sie etwas anders machen möchten als andere. Wenn sie das nicht tun, werden sie keine Alternativen sein, können sie nicht initiierend wirken. Massenorganisationen werden sie nie und nimmer mehr.
Wenn sich aber „säkular“ bekennende Verbände neben vielen anderen Vereinen auf dem Kulturfeld tummeln, sich also kulturell aufstellen (grundsätzlich oder kleinteilig), und wenn sie dann noch unter dem anspruchsvollen Namen „Humanismus“ agieren, werden sie nur „benötigt“, wenn sie nicht wie jeder Kunstklub auftreten, sondern als wertbetont „humanistische“ Organisation – denn all die andren sind ebenfalls „human“, „humanitär“ und in der Regel auch „humanistisch“, wenn auch ohne dieses Etikett.
Kultur und Humanismus
Um das Problem zu verdeutlichen ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte. Mitte Dezember 2007 verabschiedete der Deutsche Bundestag seine große Kulturenquete. Der Begriff Humanismus kam darin nicht ein einziges Mal vor, was an sich ein Skandal ist. Ich habe damals als Präsident des HVD dagegen folgenlos protestiert, auch deshalb, weil den Kirchen im Kulturbereich neue Förderfelder geöffnet wurden. Dieser Erfolg der anderen ist – wird als Kriterium die These zugrunde gelegt, dass Humanismus eine Kultur ist – ein Beleg für die Unmaßgeblichkeit der „säkularen Szene“.
Dass der HVD wenigstens stellvertretend fast im Minderheitengutachten der LINKEN genannt worden wäre ist daran gescheitert, dass die zuständige Politikerin im entscheidenden Verhandlungsmoment, den Humanistischen Verband nicht von der Humanistischen Union zu unterscheiden vermochte und die Letztere bekanntlich keine „Weltanschauungsgemeinschaft“ ist und sein will, den Religionsgesellschaften vergleichbar und nach dem Grundgesetz sogar formal gleichgestellt.
Der HVD hat nach wie vor als einzige maßgebliche humanistische Organisation in Deutschland eine „Weltanschauungsstrategie“ entsprechend Grundgesetzes Art. 140 in Verbindung mit Art. 137 Abs. 7 WRV. Er will als Weltanschauungsgemeinschaft durch „Humanismuspflege“ – um noch einmal dieses Wort zu gebrauchen – den Religionsgesellschaften im Lande, vorzüglich den beiden christlichen Kirchen, gleichgestellt werden, weil er 1993 mit seiner Verbandsgründung zu der Einschätzung gekommen war, dass die alte laizistische Linie historisch gescheitert ist.
Zwei weitere Gründe für diese „Wende“ waren, dass sich sein Verhältnis zum Staat geändert hatte gegenüber den Freidenkern, die diesen als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie ablehnten; und weil sie sahen, dass dieser nun demokratische Staat nach dem Subsidiaritätsprinzip verfuhr, die öffentliche Hand nicht mehr alles Selbst machte und sie von den hier aufgewendeten öffentlichen Mitteln etwas abhaben wollten, z. B. für eigene Kindergärten oder das Schulfach Lebenskunde als Alternative zum Religionsunterricht. Die neue Losung lautete: Trennung von Kirche und Staat auf dem Wege der Gleichbehandlung.
Doch die Sache mit der Weltanschauungsgemeinschaft zwingt zu einer durchaus offen verstandenen Konfessionalität, führt weg von einem, wenn man so will, „Kulturhumanismus“ in Anlehnung an „Kulturprotestantismus“, „Kulturkatholizismus“, „Kulturjudentum“, „Kulturislam“ usw. Die andren – die Kirchen und nun die Muslime – wollen nicht von den Privilegierungen lassen bzw. wollen diese bekommen. Die einen bleiben Kirche, andre werden wie Kirche – und die humanistischen können oder wollen sich nicht entscheiden – Kirche nein, das ist klar, aber was ist die angemessene Form und Bezeichnung?
Die Konkurrenz zwingt den HVD „Weltanschauungsgemeinschaft“ zu sein, obwohl schon der Begriff „Weltanschauung“ ein deutsches Trauma ist. Alle Welt spricht heute von Kultur, wo früher der Begriff „Weltanschauung“ verwendet wurde. Doch wenn man sich rechtfertigend auf das Grundgesetz berufen will, muss man „Weltanschauung“ nehmen, denn „Kultur“ kommt im Grundgesetz nur mit vier Erwähnungen vor, die für unseren Zusammenhang wenig Bedeutung haben.[9]
Das ginge auch gar nicht, denn was meint „Kultur“? Kultur ist ein objektiver Analyse‑, zugleich ein subjektiver Urteils- und bisweilen ein Ausredebegriff in der Spanne zwischen Kulturbeutel und Kulturkreis, der die „Summe der Selbstverständlichkeiten in einem Gesellschaftssystem”[10] hinsichtlich Ideen, Verhaltensweisen, Entwicklungsstand und Errungenschaften der sie konstituierenden Menschen (Gruppen, Ethnien, Klassen, Regionen, Nationen, Erdkreise …) beschreibt und dabei das „Wir-und-die-anderen“ bezeichnet. Den Menschen und den Wissenschaften vom Menschen erscheint das Kulturelle als gewesene bzw. gewordene „Mythen, Interaktionsrituale, vage Wertvorstellungen, Leerformeln, Attitüden und Prestigevermutungen”, als Systeme „kollektiver Sinnkonstruktionen, mit denen Menschen die Wirklichkeit definieren”.[11]
Das ist die neuere Sicht auf das Kulturelle. Im Deutschen war dagegen dieser Begriff im 19. und 20. Jahrhundert, wegen der Abnabelung von der Religion, eine Kategorie mit „seelenhaftem Pathos“[12] und lange unterschieden (in Tradition von Immanuel Kant) von Zivilisation, die „nur“ das Sittliche bezeichnete, aber nicht das Geistige, die „Idee der Moralität“.[13] Doch unter dem Einfluss der angloamerikanischen cultural studies,[14] die keine Trennung von Kultur und Zivilisation (oder materiell und geistig) kennen, und durch die amerikanische „Populärkultur“ weitete sich der deutsche Kulturbegriff zwar spät, aber doch in den 1970er Jahren.
Wegen seiner universellen Untersuchungs- und Vergleichsmöglichkeiten hat der Begriff Eingang gefunden in die Religionswissenschaft, hat Kulturwissenschaft(en) hervorgebracht, die Kategorie Weltanschauung weitgehend abgelöst und aktuell die Forschung zurückgeführt zu einer umfassenden kulturgeschichtlichen Betrachtung auch des Humanismus. Denn der Kulturbegriff beförderte im Prozess seiner historischen Ausbildung sowohl die Erkenntnis der Subjektabhängigkeit von Kulturen als auch damit verbunden die Relativierung von Wahrheitsansprüchen vor allem bezogen auf Religionen. Kulturfragen kommen in nahezu allen Begrifflichkeiten des Humanismus vor.
Historisches zur öffentlichen Kulturförderung
Der öffentliche Dienst ist eine gesellschaftliche Einrichtung zur Daseinsvorsorge einer territorial, wirtschaftlich, sozial und juristisch definierten Gemeinschaft, deren Mitglieder (und „Gäste“) an den Leistungen partizipieren. Die steuerpflichtige Bürgerschaft zahlt deshalb nach bestimmten Regeln Geld in dafür vorgesehene Kassen. Die Wahlberechtigten der Gemeinschaft, darunter auch Personen, die das Gesetz von solchen Zahlungen ausnimmt, konstituieren in demokratisch verfassten Staaten den faktischen Souverän, das Volk, von dem die Macht ausgeht.
Die Wählerschaft wiederum beruft per Abstimmung Abgeordnete in Parlamente, welche auf der jeweiligen Entscheidungsebene das Geld der Gemeinschaft politisch verwalten, es vermehren, verringern, ausgeben usw. Sie werden von Beamten beraten, die auch die sachlichen Verwalter sind. Daneben haben sich Institutionen etabliert (Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Beiräte, Gutachter, Medien usw.), die sich mit mehr oder minder Einfluss an den Entscheidungsfindungen und an den nachträglichen Urteilen darüber beteiligen und so im Diskurs das reale Kulturbild prägen, an dem und in dem sich die Gemeinschaft orientiert.
Die besonderen deutschen Verhältnisse nach dem 30-jährigen Krieg haben den Apparat „öffentlicher Dienst“ mit einem Schub im 19. Jahrhundert aus der jeweils territorialstaatlichen Polizei (Verwaltung) herauswachsen lassen.[15] Von da tradiert seine landesherrliche Gestalt vor allem auf denjenigen Gebieten, die entweder konfessionell (und in deren Folge kulturell) oder hoheitlich (und Macht im Alltag sichernd) von besonderer Bedeutung für die jeweiligen Landesfürsten waren. Diese gewachsenen Rechte wurden nach 1866/71 gegen preußisch dominierte Vorherrschaft verteidigt und nach 1945 bzw. 1989 wieder eingerichtet.
Als spezieller Verwaltungsbereich zur Leistungsbereitstellung von (christlicher) Weltanschauung, (weltlicher) Bildung, (sittigender) Gesellung und dann auch von (erhebender) Kunst hatte sich der „Bereich Kultur“ parallel zu anderen Bereichen zuerst als Landes- und nach den 1890er Jahren auch bescheiden als Kommunalsache zu entwickeln begonnen. Diese Geschichte vollzog sich im Zuge mehrerer, untereinander verkoppelter sozialhistorischer Vorgänge, worunter die Säkularisierung der Sinngebungen und Bildungsmittel eine besondere Rolle spielte. Der sich entfaltende Bereich „Kultur“ übernahm wichtige Funktionen von dem der „Religion“. Ihm wurde zeitweise sogar zugetraut, deren Monopol zu erben (Idee vom erziehenden „Kulturstaat“).
Ansätze dazu erwiesen sich immer wieder als Illusion. Sie ließen aber die Idee einer staatlichen Verantwortung für die Kultur und der Kultur für das niedere Volk in verschiedener Gestalt weiterleben, zunehmend auch aus politischen Motiven und dafür instrumentalisiert. Den im heutigen Vergleich kärglichen öffentlichen Angeboten, zu denen man sich meist noch der Kirchen bediente, wuchsen zuerst in den freireligiösen Gemeinden, dann den freien Vereinen und schließlich mit der frühen „Soziokultur“, zuerst auffällig als Arbeiterkulturbewegung, Konkurrenten.
In dieser sich auffächernden Lage lag der Gedanke nahe, sich der staatlichen Kultureinrichtungen machtpolitisch zu bedienen. Doch entzogen sich große Teile dieser Kultur in beachtlicher Selbstbehauptung den konservativ-staatlich-kirchlichen Vereinnahmungen. Sie folgten liberalen, sozialdemokratischen oder einfach privaten Zielen. Doch sie blieben stets im Herrschaftsblick. Mit der Ausbildung von „Kulturpolitik“ setzten Verhandlungen über diese Kultur ein. Um sich hier zu positionieren, bildeten 1909 Vereine von Konfessionsfreien den ersten modernen und national agierenden kulturpolitischen Verbund, das Weimarer Kartell.
Konterkariert wurde diese „öffentliche Kultur“ durch marktgeregelte, staatsferne Alternativen für Massen. Hier setzte dann staatsnahe „Volksbildung“ ein, die steuern und erziehen sollte. Doch in den „Goldenen Zwanzigern“ obsiegte die „Massenkultur“ endgültig, die als dominant gestalterische Kraft besonders mittels der „Massenmedien“ ihren Siegeszug antrat.
„Massenkultur“ produzierte und usurpierte mit ihrer Bedürfnis- und Marktorientierung nach und nach immer mehr sogenannte „amerikanische“ Verfahren der Werteproduktion und Sinnverbreitung. Deren „Beliebigkeit“ wurde als kultureller Verlust empfunden und führte zur vielfach bereits vor dem Ersten Weltkrieg diagnostizierten „Kulturkrise“. Diese „Amerikanisierung“, die um so erfolgreicher wurde, je weniger sicherheitsrelevant der Bereich, in den sie eindrang, von den gegensteuernden Politikern und Beamten eingeschätzt wurde, machte es nach der Jahrhundertwende zunehmend schwierig, die auf „Kultur“ bezogenen Verwaltungsvorgänge wie bis dahin als landeseigene „Kulturpolizei“ zu regeln, obwohl sich die zu verwaltenden Vorgänge selbst vergrößerten und bürokratische Verfahren verlangten. Der Nationalsozialismus und der DDR-Sozialismus können als große (letzte) Versuche gelesen werden, alle Bereiche der Kultur staatlich zu beherrschen.
Der bis zur Revolution 1918 strukturbestimmende Polizeistaat konnte zwar, so Ernst Forsthoff 1938, „das berufliche Leben reglementieren, er konnte Kant tadeln, Schiller zensurieren und die Verbreitung deterministischer Lehren verbieten, er konnte gewiß bis in die Einzelheiten hinein bestimmen, wie gelebt werden sollte. Aber die Vorsorge dafür, daß überhaupt gelebt werden kann, lag nicht annähernd in gleichem Umfang bei ihm, wie heute.“[16] Wenn aber Leistungsverwaltung der Gemeinschaft das Lebensnotwendige bereitzustellen hat, ist dieses ständig zu definieren. Das ist ebenso eine „kulturelle Frage“ wie „Kultur“ in diesen Verhandlungen selbst fraglich werden kann („Kulturverfall“-These).
„Kultur“ als öffentlich geförderte Unternehmung hat ihren Ausgangspunkt in eben diesem absolutistischen Polizeistaat und seinem Verteidigungskampf gegen den liberalen Rechtsstaat und sozialdemokratische Gleichheitsansprüche. Dessen Öffnung beginnt in Deutschland mit den vorbildlichen preußischen Reformen 1806/17 und hatte seinen Höhe- und vorläufigen Endpunkt mit der Gründung des „Kultusministeriums“ im November 1817. Dieses wurde zuständig für die äußeren protestantischen Kirchenangelegenheiten (Preußen blieb bis 1919 protestantischer, wie Bayern bis heute katholischer „Kulturstaat“), für die katholischen Fragen, für das Unterrichts- und (bis 1848) das Medizinalwesen.[17]
In den bis heute andauernden Debatten, ob und welche „Kultur“ öffentlich alimentiert werden soll und was diese „Kulturpflege“ einerseits vom „Luxus“ und andererseits von der „Fürsorge“ unterscheidet, kristallisierten sich bereits im Vorfeld dieser Beschlüsse, um (so eine zeitgenössische Schrift von Wilhelm von Humboldt) die Grenzen des Staates zu bestimmen. Es kam zu vier grundsätzlichen Positionen, die jede selbstredend Verschiedenes als Kultur fasste und ventilierte, aber Politik orientierte:[18]
1. Kultur ist ein bürgerliches Bedürfnis wie jedes andere und von den Leuten selbst zu tragen, die solche Ansprüche haben, mit Ausnahme eines Grundangebots an kultureller Bildung.
2. Kultur ist um ihrer selbst willen zu fördern als geistiger und ästhetischer Bereich außerhalb von Staat und Kommerz.
3. Kultur ist in ihrer ganzen Breite oder in wesentlichen Teilen Staatssache und Gesellschaftsziel.
4. Kultur ist öffentliche Aufgabe zur Befähigung der Staatsbürger zu sittlich einwandfreiem Handeln im Rechtsstaat.
Mit jeweils verschiedenen strukturellen Kumulationen und inhaltlichen Betonungen etablierte sich in Deutschland mit Beginn des 20. Jahrhunderts ein System der Kulturarbeit, ‑förderung, ‑politik und ‑verwaltung, das in seinen Begründungen den Punkten 2 bis 4 folgt und Nr. 1 der „Massenkultur“ überlässt. Variante 3 galt lange Zeit (wilhelminisches Reich, Nationalsozialismus, frühe Bundesrepublik, Staatssozialismus) als selbstverständlich. Version 4 (Kultur als Prävention) dominierte in der Bundesrepublik bis in die 1980er Jahre, obwohl das der Praxis vorangestellte Programm irrtümlich Deutung 2 folgte.
Nach den geltenden Maßregeln der Finanzierung ist die Version 4 zudem mit dem „Subsidiaritätsprinzip“ verwoben. Dieses wurde im Wesentlichen (was die Kulturarbeit betrifft) 1911 für die Jugendpflege „erfunden“, wenn auch erst in den Zwanzigern von Gustav Gundlach begrifflich und gesellschaftspolitisch geprägt. 1931 findet es sich in der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo anno (Pius XI.) und wurde über das „Zentrum“ und wesentlich durch Oswald von Nell-Breuning in die dann regierende CDU/CSU eingebracht. Das Subsidiaritätsprinzip setzte sich als Kompromiss zwischen der konservativen Kulturstaatsidee und der härteren angloamerikanischen Lösung der Staatsferne besonders in der Kultur (Variante 1) durch und formte die „verwestlichte“ Bundesrepublik.
Mit der deutschen Einheit, der „Abwicklung“ der DDR-Staatskultur und den für „Soziokultur“ knapper werdenden Kassen im Westen rissen die alten Gräben neu auf, weil die bisherigen Legitimationen im Zuge des „schlanken“ Staates nicht mehr griffen, um die öffentlichen Angebote als Maßnahmen der „Daseinsvorsorge“ zu erklären: Ethnische, religiöse, ethische, nationale, pädagogische, weltanschauliche oder soziale Argumentationen hatten zwar noch einiges Gewicht, aber sie verloren an Relevanz. In dem Maße, wie die Argumente der „Daseinsvorsorge“ an Einfluss verloren und die Konkurrenz unter den Kulturanbietern, die öffentliches Geld beziehen, zunahm, drangen die beiden christlichen Kirchen in die Regelkreise der öffentlichen Kulturförderung ein – allerdings mit dem Platzvorteil der Privilegierung als „Religionsgesellschaften“.
Anfang 2007 veranstaltete die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in Wittenberg einen Zukunftskongress. Er verhandelte im Kulturzusammenhang Thesen, die bereits ein Jahrfünft zuvor vorgestellt wurden.[19] Auf der Tagung sprach der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann. Die „evangelische Kirche könne auf einen gemeinsamen kulturellen Kernbestand zurückgreifen und durch Kultur Zugang zu Kirche eröffnen: ‘Kultur kann und sollte zu einem Schlüssel werden, mit der Kirche in Kontakt zu kommen.’ Angebote der kulturellen Bildung könnten bislang kirchenfremde Menschen erreichen … Dabei hingen kulturelle und religiöse Bildung eng zusammen, denn viele Werke der Malerei, der Literatur, der Kirchenmusik und Architektur setzten entsprechende religiöse Bildung voraus.“[20]
Die Umsetzung dieses Konzeptes ist für die Kirchen aber eine zweischneidige Sache und bereitet durchaus strategische Probleme, die strukturell identisch sind mit dem Problem, das auch die Weltanschauungsgemeinschaft HVD hat. Zum einen ergibt sich aus dem Konzept ganz grundsätzlich die Frage nach der Zukunft der (historisch bedingten) Privilegierung von Kult- gegenüber Kultureinrichtungen. Wenn sich Kirchen ins kulturelle Fahrwasser begeben, säkularisieren sie sich nicht nur weiter. Sie werden noch stärker als Kulturvereinigungen wahrgenommen wie andere Kulturbünde und ‑vereine auch. Warum sollen sie dann nicht auch als solche behandelt werden? Gleichbehandlung für alle – unabhängig von Mitgliederzahlen. Oder bekommen deutsche Opern und Theater ihr Geld nach Mitgliedern ihrer Freundeskreise? Und was den christlichen Kulturvereinen gegeben wird, das wollen auch die muslimischen und humanistischen. Was unterscheidet die Inszenierung eines Kirchentages von einem Popfestival, einen Gottesdienst von einem Ritual auf einer anderen Bühne? Wer bekommt wie viel für was?
Innerkirchlich wiederum könnte sich die evangelikale Kritik verstärken gegen die Beamtenapparate der Amtskirchen. Denn, was wird staatlich gestützt? Kann noch dem Kult dienen, was die Allgemeinheit bezahlt und damit „entheiligt“? Ist es noch ein Gottesdienst, wenn man dort Schlager singt? Wem gehört eigentlich diese oder jene Madonna? Und gehören nicht die Museen entsäkularisiert nach dem Motto: Gebt uns unsere Heiligenbilder wieder!
Das leitet zurück zu der schon angeführten Kulturenquete und den dort erreichten möglichen neuen Zuschussquellen, etwa die Vergesellschaftung des Schutzes von Kircheneinrichtungen aus denkmalschützerischen Gründen. Wenn, was in den Kirchen ist, und in den Zimmern der Priesterschaft, zur Kunst oder zum Denkmal oder zum Erbe erklärt wird – jedes Votivbild, jeder Kirchenchor, jede Ambone, jeder Märtyrerknochen, jede Bibel älter als hundert Jahre, jeder alte Opferstock und jeder neue liturgische Gebrauchsgegenstand … – gehört das mit zur Aufgabe staatlicher Kulturpflege und zum staatlich finanziell zu sichernden Schutz von Kulturgütern, über die normale öffentliche Ordnung hinaus?
Fazit
Das Bremer Verwaltungsgericht hat 2010 und abschließend 2012 in einem für den HVD zunächst positiven Urteil bezüglich der beantragten Humanistischen Schule betont,[21] dass der Humanismus eine eigene Weltanschauung ist. Zwar durchdringe Humanismus heute die gesamte Gesellschaft, doch das heiße nicht, dass eine Weltanschauung, nur weil sie sich durchgesetzt habe, keine Weltanschauung mehr sei, wie sie der HVD vertrete.[22] Der HVD Bremen hat dann letztlich seine Schule nicht genehmigt bekommen – weil das eingereichte Konzept nicht genügend humanistisch-weltanschaulich war, nicht „konfessionell“ genug, könnte zugespitzt gesagt werden.
Zunächst kann auch für Christentum und Kirche festgestellt werden, dass es dort ähnlich ist, weil es mindestens zwei christliche Konfessionen gibt, und weil das Christentum auch als Nicht-Kirche, darunter als Kulturverein, existiert. Es gibt christliche Wertvorstellungen, die mit kirchlicher Lehrautorität vertreten werden in den jeweiligen Kirchen, und es gibt christliche Wertvorstellungen, die säkularisiert sind oder in großem Formenreichtum in der Bevölkerung geglaubt werden – so etwas wie ein Kulturchristentum.
Dem folgt – nun bezogen auf Humanismus – die vom Bremer Gericht als Selbstverständlichkeit angenommene Unterscheidung zwischen einem allgemeinen und gesellschaftlich breit vorkommenden Humanismus und einem speziellen und gemeinschaftlich organisierten Humanismus (des HVD), der parallel zu einem allgemeinen und zu einem evangelischen, katholischen usw. Christentum „lebt“ und von den Organisierten gepflegt wird.
Es ergibt sich zweierlei aus unserer Betrachtung. Erstens ist der Begriff des Laizismus unnötig bei der Analyse der Kultursituation, in der sich Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften befinden. Sie haben ebenso wenig eine Änderung ihrer Konstitution vor wie der Staat eine solche von ihnen verlangt. Was allerdings zunehmen wird, sind leere Kassen, Pluralität, kulturelle Vielfalt, Medieneinfluss und der Druck auf die Entscheider von denen, die nicht über kirchliche Privilegien verfügen. Es wird dabei um Gleichbehandlung gehen. Dass sich hier dann noch Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften gegenüberstehen, interessiert die andren immer weniger.
Das Problem ist aber für Weltanschauungsgemeinschaften wie den HVD ein existenzielleres als für die Religionen, gelten diese doch noch immer als kulturnotwendig. Es wird also darauf ankommen, beim Kampf um öffentliche Mittel, dass das besondere Profil des Humanismus kenntlich wird. Der HVD hat ein Legitimationsproblem – doch dies hatten Konfessionsfreie schon immer. Aber: Es mag noch gelingen, einigen Anspruch auf Humanismus innerhalb der „säkularen Szene“ zu reklamieren – doch und ist Humanismus mehr als eine Weltanschauungsorganisation, so groß sie auch sein mag, zu repräsentieren vermag.
Fußnoten
- Vgl. Medicus: Kulturpolizei. In: Deutsches Staats-Wörterbuch. In Verbindung mit deutschen Gelehrten Hg. von Bluntschli und Brater, Bd.6, Stuttgart, Leipzig 1861, S. 157. – Peter Preu: Polizeibegriff und Staatszwecklehre. Die Entwicklung des Polizeibegriffs durch die Rechts- und Staatseigenschaften des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1983. ↑
- Vgl. Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenker und Kultur in Deutschland (1997). 2. verb. Aufl., Marburg 2011. ↑
- Vgl. Rudolph Penzig: Ohne Kirche. Eine Lebensführung auf eigenem Wege. Mit einem Geleitwort von Wilhelm Bölsche. Jena 1907. ↑
- August Horneffer: Der Priester. Seine Vergangenheit und seine Zukunft. 2 Bde., Jena 1912. ↑
- Vgl. August Horneffer: Aus meinem Freimaurerleben. Erfahrungen und Winke. M. e. Anh. v. Georg Thiel. Hamburg 1957, S. 15, 46. ↑
- Horneffer: Priester, Bd. 2, S. 249, 354, 267, 269. ↑
- Penzig: Ohne Kirche, S. 241. ↑
- Rudolph Penzig: Deutsche Religion. Berlin 1915, S. 6 f. ↑
- Betreffend Art. 23,6 die Rechte der Länder etwas selbst zu regeln; Art. 29 die Neugliederung der Bundesrepublik hat die gewachsenen kulturellen Zusammenhänge zu beachten; Art. 73, 5a den Schutz des Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland; Art. 89 Landeskultur und Wasserschutz. ↑
- Peter R. Hofstätter: Einführung in die Sozialpsychologie. 2. Aufl., Stuttgart 1959, S. 92. ↑
- Friedhelm Neidhardt: Kultur und Gesellschaft. Einige Anmerkungen zum Sonderheft. In: Kultur und Gesellschaft, Festschrift René König. Hrsg. von Friedhelm Neidhardt, M. Rainer Lepsius und Johannes Weiss, Opladen 1986, S. 13, 11. ↑
- Helmuth Plessner: Die verspätete Nation (1935). In: Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt a.M. 1982, S. 84. ↑
- Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1794). In: Kant. Werke. Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., Bd. 8, S. 26. ↑
- Die Cultural Studies Kontroverse. Hrsg. von Andreas Hepp und Carsten Winter. Lüneburg 2003. ↑
- Vgl. Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre. München 1980. – Franz-Ludwig Knemeyer: Polizei. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4. Hrsg. von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Stuttgart 1978, S. 875–897. ↑
- Ernst Forsthoff: Die Verwaltung als Leistungsträger. Stuttgart, Berlin 1938, S. 5 (Königsberger Rechtswissenschaftliche Forschungen, 2). ↑
- Vgl. Ernst Müsebeck: Das Preußische Kultusministerium vor hundert Jahren. Stuttgart, Berlin 1918. ↑
- Vgl. Dieter Grimm: Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Nr. 42. Berlin / New York 1984, S. 47–79. ↑
- Vgl. Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2002. – Wesentlich geprägt wird diese Konzeption seit Jahren von der Kulturbeauftragten der EKD, Petra Bahr. – Ich gebe zu, dass ich das Kulturkonzept des HVD wesentlich alternativ dazu zu entwickeln versuchte, solange ich mich in politischen Funktionen befand. – Vgl. Horst Groschopp: Rezension. In: 200 Jahre Säkularisation, humanismus aktuell, Zeitschrift für Kultur und Weltanschauung, Berlin 2003, H. 12, S. 120 f., S. 121: „Dem Humanistischen Verband ist zu empfehlen, sich offensiv in diese Debatte über Kultur und Kirche zu begeben und sie auszuweiten in einen Diskurs über den Stellenwert von Religions‑, Weltanschauungs- und Kulturgemeinschaften im System der öffentlichen Kulturförderung. Er kann hier nur gewinnen.“ ↑
- Vgl. http://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2007_01_26_3_freitag_zkk.html (abgefragt am 6.9.2012). ↑
- Vgl. Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen vom 25.2.2010. Az: 1 K 1209/09. ↑
- Vgl. Horst Groschopp: Humanismus und Ethikunterricht. 25 Thesen. In: humanismus aktuell online, Text 2 / eingestellt: Juni 2010. ↑
Quelle: Horst Groschopp: Laizismus und Kultur. In: Ders. (Hrsg.): Humanismus – Laizismus – Geschichtskultur. Aschaffenburg 2013, S. 18–33 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin, Bd. 6).