Bedarf an einer humanistischen Wende

Der Thü­rin­ger Autor, ein Welt­bür­ger, eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor, vie­le Jah­re am Insti­tut für Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft in Jena tätig, legt mit die­ser umfäng­li­chen Stu­die nicht nur ein Resü­mee sei­ner For­schun­gen und eine Quint­essenz sei­ner zahl­rei­chen Publi­ka­tio­nen vor, son­dern gibt die­sen eine Ord­nung, einen direk­ten Bezug auf Huma­nis­mus, indem er sie zu einer Geschich­te vor allem des moder­nen Huma­nis­mus seit Petrar­ca zusam­men­führt und nach des­sen Zukunft fragt.

Er weiß, dass sein Gegen­stand ein wei­tes Feld ist, hat die ent­spre­chen­de Lite­ra­tur gele­sen, will sich dar­in ver­or­ten, indem er sich auf die drei im Unter­ti­tel genann­ten The­men­fel­der kon­zen­triert. Psy­cho­lo­gie ist sein Fach­ge­biet und der Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus sei­ne Lei­den­schaft. Die Hal­tung zum Juden­tum wird bei ihm zu einem wesent­li­chen Kri­te­ri­um für Mensch­lich­keit über­haupt. Dass Frind­te vor allem Erich Fromm und des­sen Ideen zu einem „sozia­lis­ti­schen Huma­nis­mus“ lei­ten (vgl. Epi­log, S. 515 ff.), stellt nicht nur eine ein­fa­che Anleh­nung an des­sen psy­cho­lo­gi­sche Her­lei­tun­gen des Huma­nis­mus dar, son­dern bie­tet an, des­sen his­to­ri­sches Gesell­schafts­mo­dell ernst­haft auf sei­ne Zukunfts­fä­hig­keit zu prüfen.

Die ersten18 der ins­ge­samt 25 Kapi­tel des Buches (inklu­si­ve Pro­log und Epi­log) behan­deln Frind­tes Recher­chen zum Huma­nis­mus und fol­gen einem Kon­struk­ti­ons­prin­zip, das es ermög­licht, in his­to­ri­schen Col­la­gen je his­to­ri­sche Fra­gen, erhel­len­de Epi­so­den (an denen Frind­te gro­ßen Gefal­len hat), Ereig­nis­se, Erkennt­nis­se und Per­so­nen aus sei­ner Sicht vor­zu­stel­len. Alle vor­kom­men­den Per­so­nen wer­den in ihren Lebens­da­ten genannt und die­je­ni­gen, die ihm beson­ders als Quel­len die­nen, in einem Per­so­nen­aus­wahl­re­gis­ter gelistet.

Zum Kon­struk­ti­ons­prin­zip gehört fer­ner, dass am Ende jeden Kapi­tels die wich­tigs­te Lite­ra­tur auf­ge­führt wird. Der Ver­lag bie­tet an, jedes Kapi­tel ein­zeln und für sich als pdf her­un­ter­zu­la­den. In die Kapi­tel setzt der Autor wie in einem Lehr­buch gerahm­te Ergän­zun­gen (Anmer­kun­gen) zu ein­zel­nen Begrif­fen oder Vorgängen.

Eben­falls ist es Teil der Kon­struk­ti­on, dass der Autor in sei­nen ein­zel­nen Erzäh­lun­gen vom Huma­nis­mus aktu­el­le Refle­xio­nen anstellt, kei­ne „tote Geschich­te“ abbil­den mag. Wen nur der je his­to­ri­sche Kon­text inter­es­siert, mag dar­über hin und wie­der ver­wun­dert sein, aber wenn man sich beim Lesen dar­an gewöhnt hat, erkennt man/frau, dass Frind­te sei­ne per­sön­li­chen Sich­ten eben­so zur Dis­kus­si­on stellt, wie jeder Leser, jede Lese­rin, auf­ge­for­dert wird, eine eige­ne Inter­pre­ta­ti­on zu lie­fern. Das betrifft beson­ders den Teil V (Kapi­tel 19–25), in dem der Autor sehr kämp­fe­risch gegen Angrif­fe auf die Mensch­lich­keit pole­mi­siert und aktu­el­le kul­tu­rel­le Vor­gän­ge the­ma­ti­siert: Kli­ma­wan­del, Ver­schwö­rungs­my­then, Rechts­extre­mis­mus, Demo­kra­tie­feind­lich­keit, Isla­mis­mus (aber auch Islam­feind­lich­keit) – aber beson­ders die Juden­feind­lich­keit, wie schon vor­her in ande­ren Kapi­teln (etwa Kapi­tel 10 über Karl Marx).

Frind­te greift immer wie­der kon­tro­ver­se Pro­ble­me auf, die ande­re Autoren aus wel­chen Grün­den auch immer mei­den, etwa hin­sicht­lich der Huma­nis­mus­de­bat­ten in der DDR oder des aktu­el­len Trans­hu­ma­nis­mus oder der Unter­schei­dung von Anti­se­mi­tis­mus, Anti­zio­nis­mus und Israelfeindschaft.

Beson­ders her­vor­zu­he­ben ist die Ver­an­ke­rung der Aus­sa­gen des Autors in rea­len sozia­len Pro­zes­sen. Das unter­schei­det ihn von ande­ren, die bei Benut­zung des Huma­nis­mus­be­grif­fes zu „Höhen­flü­gen“ nei­gen. Man merkt die kom­mu­ni­ka­ti­ons- und sozi­al­psy­cho­lo­gi­sche Pro­fes­si­on Frind­tes. Das ist ange­nehm, beson­ders der Rück­griff auf sozio­lo­gi­sche Befun­de. Des­halb macht die Lek­tü­re, auch wegen der vie­len erör­ter­ten Sach­ver­hal­te, „Arbeit“.

Eine beson­de­re Berei­che­rung des Geschichts­bil­des vom Huma­nis­mus stellt die vom Autor aus­führ­lich vor­ge­stell­te His­to­rie der Psy­cho­lo­gie dar, die er als Aus­bil­dung einer Wis­sen­schaft vom Men­schen vorstellt.

Und wohin geht nun der Huma­nis­mus? Auch hier ist der Autor klar und par­tei­isch: „Ein huma­nis­tisch-eman­zi­pa­to­ri­sches Pro­gramm muss anti­ka­pi­ta­lis­tisch sein; es kann sich nicht nur auf die Ver­än­de­rung der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se im ‘Wes­ten’ rich­ten; es muss anti-ras­sis­tisch sein, in radi­ka­ler Wei­se, die Men­schen­rech­te aller Men­schen, ihre Frei­heit, Wür­de, Selbst­be­stim­mung, Soli­da­ri­tät, den Schutz der Umwelt und das fried­vol­le Mit­ein­an­der zum Ziel haben.“ (S. 523) Um die­ses Ziel zu errei­chen, bedür­fe es, so Frind­te, einer „huma­nis­ti­schen Wen­de“. Um die­ses Ver­ständ­nis zu beför­dern, schrieb er dank­ba­rer­wei­se das vor­lie­gen­de eben­so mate­ri­al­rei­che wie streit­ba­re Buch über das Wer­den und die aktu­el­le Situa­ti­on des Humanismus.

 

Wolf­gang Frind­te: Quo Vadis, Huma­nis­mus? Wie wir unse­re Mensch­lich­keit erhal­ten kön­nen. His­to­ri­sche Kon­tex­te, Psy­cho­lo­gi­sche Refle­xio­nen, Juden­feind­li­che Angrif­fe. Wies­ba­den: Sprin­ger Fach­me­di­en 2022, 539 S., ISBN 978–3‑658–36637‑7, 34.99 Euro.

 

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