Eine lockere Erinnerung
Das Folgende ist selbst noch genauer zu bedenken, es sind eher schnelle Einfälle aus Anlass einer Nichtreise nach Neu-Isenburg anlässlich einer Zusammenkunft „30 Jahre HVD“.
1. Ich bin dem HVD erst ein Jahr nach der Gründung beigetreten, am 24. Januar 1994. Meine frühesten Erinnerungen an den Verband, hier noch die Berliner Freidenker, gehen auf meine Zeit als Gründungsmitglied des VdF der DDR zurück, wo, wer wollte, mit einigem Geschick die „diesseits“ durch die Mauer erlangen konnte, die ja dann bald fiel. Über diesen Verband haben dann Eckhard Müller und ich ein Buch geschrieben („Letzter Versuch einer Offensive“, HABB 8), auf das ich noch einmal zurückkomme.
Der Bundesverband war für mich, als ehemaliges SED-Mitglied, zunächst schwer zu bewerten, weil der Verband ausgerechnet in der vormaligen Höhle der Wölfin [die Direktorin hieß Wolf] gegründet wurde, in der Parteihochschule beim ZK der SED, gefürchtet als Jägerschule zur Bekämpfung der Häretiker. Der Große Saal besaß einen miesen Ruf. Er verkaufte sich nun wohlfeil. Der Neubau ist schon einige Jahre abgerissen.
In dieser Zeit 1994, obwohl noch an der HUB als Hochschullehrer tätig, war klar, dass ich dort rausgeschmissen werden würde. Da meldete ich mich wegen einer möglichen Perspektive in der Hobrechtstraße bei Klaus Sühl, den ich über die Arbeiterkulturforschung schon einige Jahre kannte, und bei Manfred Isemeyer, mir begegnet in der „diesseits“. Seitdem war ich für den HVD tätig, ab 2001 (also nach sieben Jahren Lehrzeit) hauptamtlich. Mein erster Artikel in der „diesseits“ handelte von Ernst Haeckel. Ich schrieb an den „Dissidenten“, mein Eintrittsbillet in die neue Organisation.
1994 gab es den ersten Kontakt mit den Mitarbeitern des HVD Berlin und zwar in der Weiterbildungsstätte des Ministeriums für Kultur bei Königs Wusterhausen. Wieder so ein Treffpunkt mit Zeichencharakter. Dort hatte ich bis 1989 gelegentlich Vorträge gehalten, dort tagte die Herausgebergruppe einer Schriftenreihe, in der meine Dissertation gedruckt wurde und für die ich auch Lehrbriefe schrieb, Veröffentlichungen unter dem Genehmigungspegel.
Es war eine große Versammlung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit auffallend vielen Ossis. Sie wurden von Klaus Sühl „rundgemacht“, was große Wirkung und wenig Gegenliebe hinterließ. Der junge Verband wollte schnell eine „Bewegung“ werden mit 100.000 Mitgliedern. Dafür müssten sich alle besser anstrengen und rascher umstellen.
2. Das ist eine gute Überleitung, zugleich Anknüpfung an die „Letzte Offensive“ und Überleitung zu meiner Frühgeschichte des HVD in dem Buch „Pro Humanismus“. Es wurde mir nämlich deutlich (erst viel später, denn lange Zeit hatte es die DDR nie gegeben), wie viel vom praktischen Humanismus des VdF, sowohl hinsichtlich der Projekte (regelrechte Übernahmen) als auch hinsichtlich der Konzeption, in den Berliner Verband eingingen und in den Bundesverband sowieso, denn es ist zu erinnern an die Gründungsmitglieder aus Sachsen-Anhalt und Brandenburg, die mit den Berlinern eine Mehrheit stellten und Kitas usw. besaßen und sich besonders gegen den HVD NRW positionierten (genauer: ihn umstellen wollten), in dem wichtige Führungspersonen sogar der Auffassung waren, dass a) sich eine Weltanschauung gar nicht organisieren lässt; und b) für das Praktische der Paritäter da sei; c) Sterbehilfe kein großes Thema sei, denn der HVD sei ein Verband fürs Leben usw.
Nach den Konkursen in Halle und Potsdam fielen die Unterstützer Berlins aus, übrigens auch in Sachen Lebenskunde. Als dann Hannover hinzukam, wurde es nicht leichter, denn hier setzte man stark auf „Gemeindehumanismus“. Doch die Mitglieder starben zusehends weg.
Ähnlich in NRW. Mein erster Besuch dort war symptomatisch. Anlass war ein Treffen mit dem niederländischen Verband, dessen Delegation dann nur aus einer Person bestand, und die kam auch noch aus Berlin. Ich war zu früh, es tagte noch der Vorstand NRW. Daran kann aus prinzipiellen Gründen kein stellvertretender Bundesvorsitzender hinzugebeten werden. Also sitze ich im kleinen Kabuff des Geschäftsführers und bestaune zwei volle Zettelaufspießer. In der Pause kommt Dieter rein und ich frage, was er hier so aufspießt. Die eine Nadel, das sind die frisch verstorbenen Mitglieder, die andre die erfolgten Beerdigungen, wo wir die Redner stellen und Einnahmen generieren – keine Praxis mit Zukunft, dachte ich.
Als die Bayern zum HVD kamen, da hatten die schon vorher eine Praxis und viel vor. Oft waren Nürnberg und Berlin gleicher Auffassung. Bei diesem Aufstreben Nürnbergs beging ich als Präsident meinen wohl folgenreichsten politischen Fehler. Ich unterschätzte die damit verbundenen bayerischen Ansprüche und folgte zu sehr Berlin.
3. Damit komme ich zu meinem Rücktritt in der ersten Januarwoche 2010. Dem ging ein Ereignis voraus, wohl am 8. Dezember 2009, da hatte in Nürnberg eine kleine Konferenz stattgefunden, in der endlich über die Zukunft der „diesseits“ etwas beschlossen werden sollte. Ich hatte keine Einladung erhalten, aber man konnte mich ja nicht vor der Tür lassen, zumal zwei meiner drei Stellvertreter und der Schatzmeister anwesend waren und eine wortführende PR-Agentur, die das Zepter übernahm. Aus der „diesseits“ sollte eine Kioskzeitung und die Herausgabe und der Vertrieb nach Nürnberg verlegt werden. Ich hatte gegenteilige Berechnungen über die Kosten und die Nichtmachbarkeit dieser Idee vorliegen, die aber nicht zur Sprache kamen (nicht zugelassen wurden, wegen des angesagten Optimismus). Meine zwei Stellvertreter und der Schatzmeister, alle nicht mehr im HVD, fanden das OK.
4. Da hatte ich die Nase voll. Nach außen wurde mitgeteilt, der HVD formiere sich neu, es gehe bergauf. Es gab eine kurze Zeit reger, verbandsinterner Debatten, also sehr offen. Irgendwann werde ich das einmal reflektieren.
Ich habe dann immer mal wieder „Memos“ geschrieben, interessanterweise meist zu „Geburtstagen“ des Verbandes, bis ich dies aufgegeben habe und ich mich aufs Bücherschreiben verlegte. In dem einen Schreiben ging es um 20 Jahre HV BB, das ist inzwischen auf meiner Homepage ausführlich dargestellt.
5. Der große Unterschied des Bundeskonzeptes neu zu dem alt war nach 2010 der allmähliche Abschied von der aktiven Bundespolitik, ausgenommen die Sterbehilfe-Aktionen von Gita Neumann). Der HVD legte immer großen Wert darauf, dass der HVD-Bund als eigenständiger Verein Beziehungen zur großen Politik unterhält, auch Bundespolitiker in den Vorstand wählt. Auch gegenüber den Landesverbänden wollte und sollte er Verbindliches mitteilen, z.B. Lebenskunde.
Was es alles gab, sogar Bundesrichtlinien zu einer Vereinheitlichung der Namen und Strukturen. Es entstand dann aber die dumme Situation, dass die im Vorstand sitzenden Landeshäuptlinge Beschlüssen zustimmten, die sie in ihren Vorständen gar nicht diskutierten. Schon gar nicht nahmen sie irgendwelche Arbeiten an, etwa Bundestagskandidaten anschreiben.
6. Der Anlass zu „Pro Humanismus“ war ein heftiger Angriff auf meine Konzeption der „Konfession“ in der online-Ausgabe der „diesseits“. Da wollte mich jemand missverstehen, denn es wurde in einem Interview mit Frieder Otto Wolf: „Religionskritik ist immer noch nötig“ suggeriert, ich würde eine Konzeption der „dritten Konfession“ vertreten, dabei war das nicht nur ein Kirchenbegriff gegen den HVD, sondern unter dem Begriff der „dritten Konfession“ wurden im Nationalsozialismus die „Ludendorffer“ („Bund für Deutsche Gotterkenntnis“) gefasst und offiziell vom Staat als völkische Weltanschauungsgemeinschaft anerkannt.
Noch immer halte ich an meiner Konzeption fest, dass der HVD eine Weltanschauungsgemeinschaft ist und insofern im Konzert der anderen, auch der kirchlichen, einen letztlich konfessionellen Anbieter darstellt.
Es ist eher das Problem, dass der Verband nicht klug und verständlich genug diese Variante des Humanismus zu den anderen in Beziehung zu setzen vermag. Immer wieder geschehen solche Missgeschicke, etwa im Verständnis von HVD-Lebenskunde, die eben nicht in der Tradition der „weltlichen Schulen“ steht.
Ich finde es sehr bedauerlich, dass der Bundesverband hier wohl den Faden verloren hat und von der erkämpften einheitlichen Strategie abgerückt ist (Ethik für alle, aber zugleich und unbedingt Lebenskunde als eigener Weltanschauungsunterricht für diejenigen, die ihn oder deren Eltern ihn wollen). So scheint es mir jedenfalls. Geblieben ist der von Gerd Eggers mühsam errungene Passus in den Statuten über „Bekenntniszugehörige“. Das ist wichtig, auch für die Hochschule und das Verständnis von Humanistik.
Begriffe wie „Bekenntnis“ und „Spiritualität“ wurden hoffähig. So wird es auch mit „Seelsorge“ sein.
7. In „Pro Humanismus“ habe ich versucht zu beschreiben und anhand von Dokumenten zu belegen, wie schwierig und dann eigentlich ziemlich halbherzig der Übergang von der Freidenkerei zum organisierten Humanismus war und ist. Immer wieder drängeln sich Vorstellungen eines „säkularen Humanismus“ in den Vordergrund (siehe dazu in der kommenden MIZ meinen Aufsatz dazu).
Es war für mich lehrreich zu erfahren, dass der IBKA einen Vortrag von mir auf HVD-Bundesebene abdrucken möchte als Argument gegen diesen Zentralrat.
8. Damit komme ich zum Schluss und zum Kern der Traditionslinie, derer sich der HVD nach meiner Ansicht bewusster zuwenden sollte. Seine Gründung 1993 war eine Abkehr von den erfolglosen Strategien der Freidenker, aber auch der Freireligiösen (und ihren Organisationen). Doch da wurde das Kind mit Bade ausgeschüttet. Schauen wir mehr danach, wie viel wir mit den historischen Freireligiösen gemein haben. Dies sollten wir in Beziehung setzen zum praktischen Humanismus, dem, was der HVD tatsächlich macht und uns das aneignen, was die „Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur“ als erste moderne humanistische Organisation sich vornahm und tatsächlich tat, dito die Freireligiösen in den 1920ern, nehmen wir die Berliner, die sehr freidenkerisch im Kopf waren, aber sehr praktisch veranlagt, etwa in ihrem Schulunterricht oder den Jugendweihen plus Bestattungswesen.
Es gab in Berlin eine „Humanistische Gemeinde“, die hieß sogar so. Es gab die Anfänge einer konfessionsübergreifenden humanitären Sozialarbeit. Diese geht zurück auf die ethische Kulturgesellschaft und das Wirken von Juden und Jüdinnen besonders in Berlin und Frankfurt a.M. Und es gab die “Ethische Gemeinde” in Wien, von der einiges zu lernen ist, auch einiges über „Seelsorge“.
Der Nationalsozialismus hat diese Linien zerbrochen und der Humanistische Verband hat sie bisher nicht wieder geflickt.
Und da heutzutage nichts geht ohne Werbepause, so auch von mir diese ganz zum Schluss als Abspann:
Horst Groschopp/Eckhard Müller: Aus der Ethik eine Religion machen. Der praktische Humanismus einer sozialliberalen Kulturbewegung. Zur Geschichte der „Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur“ (Oktober 1892 bis Januar 1937). Aschaffenburg: Alibri Verlag 2023, ca. 400 S., wahrscheinlich 36 € – ISBN 978–3‑86569–397‑6