Worum geht es?
Wer täglich im Pressedienst Google News Reader liest, was es Neues über Humanismus gibt, erhält ein ungefähres Bild vom hiesigen Wortgebrauch. Dieser ist sehr weit entfernt von dem, was man wissenschaftlich über ihn sagen kann; oder gar, was in der „säkularen Szene“ darunter verstanden wird.
Es ergibt sich ein Sammelsurium von mehr oder minder willkürlichen Anwendungen der Begriffe Mensch, Menschsein und Menschlichkeit, oft als eher zufälliges Füllwort bei der Beschreibung etwa des „bedingungslosen Grundeinkommens“, der Zuwanderung, der „griechischen Seele“, der modernen oder antiken Architektur, des Zwecks der Abfallwirtschaft, des humanen Strafvollzugs usw. usf.
Ein typisches Beispiel für die Anwendung des Humanismus-Begriffs ist folgendes Zitat in der Welt am Sonntag vom 30. April 2016: „Musik ist Humanismus! Das Hören kann aus jedem einen besseren Menschen machen.“ Es steht in einem Interview mit der Überschrift Die Pilgerväter haben Amerika versaut. Die beiden Sätze sagt die US-amerikanische Sängerin Cyndi Lauper (geb. 1953) über ihren 1980er Hit Girls Just Want to Have Fun zu dem Journalisten Michael Pilz, der mit ihr über das neueste Album, Country-Lieder, und ihre Verewigung mit Stein Nummer 2577 auf dem Walk of Fame sprach.
Es gibt aber auch eine ganz andere Dimension des Wortgebrauchs: „Merkel habe“, so schreibt Die Welt am 7. Juni 2016, „ihre politische Macht mit ‘reinem Humanismus’ verbunden, als sie die deutschen Grenzen für eine Million syrische und muslimische Flüchtlinge geöffnet habe.“ Diese Verbindung mache sie politisch mächtiger als Obama. – Eine interessante These zum politischen Humanismus, jedenfalls eine, die meine Überlegungen stützt, dass es hier eine „weiße Linie“ gibt.
Man kann sagen, Humanismus ist in Deutschland ein Wort, das zwar in einer großen Bandbreite, aber doch in einem durchaus richtigen Sinn verstanden wird. Wozu also die Frage, ob Humanismus zu Deutschland gehört? Nehmen wir dazu die Frage auseinander.
Was heißt „zugehören“?
Heute wird darunter „zu einem Ganzen“ verstanden im Sinne „Teil einer großen Familie“, einer „Verwandtschaft“ sein. Immer klingen dabei zwei Bedeutungen mit, erstens, dass das Angehörigsein ein ordentliches und selbstverständliches Verhältnis ist, das real besteht; zweitens, dass allen Beteiligten diese Teilhabe gleichermaßen gebührt, sie ihnen „zukommt“.
Der Ursprung des Wortes „zugehören“ liegt in der feudalen Zeit und meinte die Besitzangabe „hörig sein“, also jemandem gehören. „Zuhören“ hatte noch in der Renaissance die Bedeutung von „gehorchen“: auf den Herrn hören, seine Befehle befolgen. Davon hat sich das Wort „zugehören“ zwar gelöst, aber ob etwas oder jemand zu Deutschland gehört, hat noch immer erstens den Unterton, dass jemand den Kultur- und Rechtstitel erst verleihen muss (man gehört sozusagen nicht automatisch zu Deutschland, weil man etwa da wohnt und sei es seit Jahren oder da sogar geboren wurde); und dass zweitens diese Auszeichnung der Zugehörigkeit wieder aberkannt werden kann (du gehörst ab jetzt nicht mehr dazu).
Beide Aspekte – die Verleihung der Zugehörigkeit und ihre Aberkennung – haben in Deutschland eine eigene Kultur- und Rechtsgeschichte und wer sagt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, sollte die Folgen des Satzes bedenken. Zur Erinnerung die Geschichte der Judengesetzgebungen. Diese gibt eine Ahnung von den Dimensionen des Ausdrucks „dazugehören“ bzw. „nicht dazugehören“.
Was ist Deutschland?
Wer sagt, dieses oder jenes gehöre zu Deutschland und anderes nicht, hat in erster Linie nicht Deutschland als eine rechtsstaatlich verfasste Bundesrepublik im Auge, sondern ein kulturelles Bild davon im Sinn. Es ist dieses Bild von Deutschland, das in der Debatte über die Zugehörigkeit strittig ist.
In die deutschen Gesetzgebungen sind zwar humanistische Prinzipien eingegangen, aber in keinem Gesetz kommt – meines Wissens – der Begriff „Humanismus“ vor, im Gegensatz zum Christentum, das unter „Religion“ firmiert, aber in wichtigen Staatsverträgen, die Gesetzeskraft besitzen, werden die christlichen Kirchen beim Namen genannt. Der Islam ist zwar eine Religion, muss aber seinen Platz, um ebenfalls dazuzugehören, erst noch erlangen. Mal gehört der Islam zu Deutschland, ein andermal nicht. Mit dem organisierten Humanismus ist das ähnlich, mal fällt er unter „Weltanschauungen“ und gehört dazu, dann wiederum ist er nicht „abendländisch“ genug.
Schaut man in aktuelle Pegida-AfD-NPD-Positionen, so ist Humanismus klar als Gegner definiert, nicht nur im Sinne von „Humanitätsduselei“, die in der Flüchtlingsfrage abgelegt werden soll, sondern klarer Antihumanismus ist feststellbar. Es gilt festzuhalten, dass bei gegenwärtigen größeren politischen Strömungen und rechten Bewegungen, in denen Deutschland sozusagen als germanische Kernbevölkerung gedacht wird, klare Vorstellungen von dem vorfindlich sind, was Humanismus ist und warum dieser nicht zu Deutschland gehören soll.
So hat Dr. Marc Jongen (Jg. 1968), AfD-Vize und Programmkoordinator in Baden-Württemberg, Dozent für Philosophie an der HfG Karlsruhe sowie Assistent und Vertrauter des Rektors Peter Sloterdijk, definiert, so die „Augsburger Allgemeine“ vom 31. Mai 2016, wogegen seine Partei als „Lobby des Volkes“ antritt, nämlich gegen einen „neurotischen Humanismus“, der das „Fremde über das Eigene‘“ stellt.
Was gehört zum Humanismus?
Eine Umfangs- und Inhaltsbestimmung von Humanismus, wie sie etwa im Handbuch Humanismus: Grundbegriffe erfolgt ist, lässt nur eine Antwort zu: Zwar kommt vieles davon in Deutschland vor, aber (z. B.) das bestehende Rechtssystem oder das Bildungswesen als Ergebnis humanistischer Anstrengungen zu sehen, liegt außerhalb der für gesellschaftlichen Konsens maßgeblichen Kommunikation. Humanismus ist zwar der Verursacher von Humanisierungen, aber er wird dafür nicht öffentlich gelobt.
Traditionell wird in Deutschland Humanismus erstens als eine (auf Antike und Renaissance) begrenzte Epoche gesehen, die Dank des „Dritten Humanismus“ sogar im Nationalsozialismus pflegbar war; zweitens als ein Teil der höheren Bildung, angewandt auf Eliten im Verständnis von „Humanistisches Gymnasium“, nicht von Volksbildung; drittens als bestimmte historische Kunst; und viertens als etwas, das auch religiöse Formen annimmt.
Dagegen sind besonders drei Eigenschaften des Humanismus strittig: erstens die Idee der Universalität der Menschenrechte, basierend auf Prinzipien der Menschenwürde; zweitens das Konzept der Humanität mit der Barmherzigkeit im Mittelpunkt; und drittens das Programm der Solidarität, basierend auf der Annahme der Gleichheit der Menschen als Menschen und der Folgerung humanitaristischer Maßnahmen.
Gehört der Humanismus zum HVD?
Jetzt komme ich zum Kern meiner Botschaft: Jedenfalls gehört er ihm nicht, auch wenn immer wieder – bewusst oder unbewusst – der Eindruck entsteht, es wäre so. Dass ein solcher Besitzanspruch überhaupt assoziiert werden kann, liegt zuallererst an der Erklärungsschwäche der für den HVD Tätigen, die sich gemeinsam mit anderen im Umfeld derjenigen gesellschaftlichen Prozesse tummeln, in denen überhaupt mit dem Wort Humanismus agiert wird. Praktische Verbandspolitik grenzt oft andere aus dem eigenen Humanismus aus.
Im Umkehrschluss verhindert die Identifikation von HVD und Humanismus, dass sich andere humanistische Akteure – z. B. Arbeitersamariter oder Jugendweihe-Anbieter – auf den Humanismus einlassen. Zu groß ist die Angst, womöglich vereinnahmt, in eine bestimmte religionskritische Konfessionsfreienecke gestellt zu werden. Humanismus wird erst dann mehr zu Deutschland gehören können, wenn der HVD und das „säkulare Spektrum“ klarer bestimmen, was dazu ihr bescheidener Beitrag ist und in welchen Chören sie jeweils singen.
Was lernt uns das?
Es ist eine offene Frage, ob bzw. inwieweit der Humanismus zu Deutschland gehört. Das ist nicht per Behauptung zu klären. Das mag seine Akteure verstören. Jedenfalls wäre es für diejenigen, die seine Anhängerschaft bilden oder zu bilden glauben, wichtiger, sich dieser Frage öffentlich zu widmen als derjenigen, ob die sogenannten Konfessionsfreien eine stärkere Affinität ihm gegenüber haben als andere. Das ist (zugespitzt) im Kern für Humanismus unwichtig.
Jedenfalls sollte das Thema von denen, die sich zu ihm bekennen und zudem noch organisiert sind, offensiver öffentlich diskutiert werden. Das betrifft auch einige Detailfragen, auf die Ja-Antworten zum einen nicht selbstverständlich und zum anderen nicht ohne Relativierungen zu haben sind. Sie drehen sich um die Frage: Was trägt eigentlich die „säkulare Szene“ dazu bei, dass Humanismus als zu Deutschland gehörig gesehen wird? Das ist keine Sache verbesserter Agitation, sondern eine Frage der Wirksamkeit des „praktischen Humanismus“ – denn: Ohne tätige Humanität kein Humanismus.
(Gekürzte Fassung eines Vortrags, den ich am 18. Juni 2016 im „Humanistischen Zentrum“ Stuttgart gehalten habe. Foto: Siegfried Krebs)