Hoffnung Freier Geist

 

Fritz Mauth­ner (1849–1923) war über vier­zig Jah­re Autor und Redak­teur an Rudolf Mos­ses „Ber­li­ner Tage­blatt“ und wur­de als Phi­lo­soph, Schrift­stel­ler und Dich­ter im deutsch­spra­chi­gen Raum bekannt. Sein Hang zur Par­odie und Sati­re kommt auch im vor­lie­gen­den Werk zum Aus­druck, das eine unter­hal­ten­de, bil­den­de und anre­gen­de Schrift ist.

Mauth­ner sah sich in ers­ter Linie als Sprach­for­scher, wobei sei­ne Publi­ka­tio­nen dazu umstrit­ten sind. Auch sein zwei­bän­di­ges „Wör­ter­buch der Phi­lo­so­phie“ von 1910, inspi­riert von Ernst Mach, ist sprach­kri­tisch ange­legt. Nach der hier zu bespre­chen­den Stu­die „Mut­ter­spra­che und Vater­land“ ver­öf­fent­lich­te Mauth­ner 1920 bis 1923 sein von der Nach­welt so gese­he­nes Haupt­werk, eine vier­bän­di­ge Geschich­te des Athe­is­mus. Der genaue Titel ent­hält eine wesent­li­che Orts­fi­xie­rung: „Der Athe­is­mus und sei­ne Geschich­te im Abend­lan­de“, 2011 neu im Ali­bri Ver­lag her­aus­ge­ge­ben von Lud­ger Lüt­ke­haus.[1]

Wäh­rend des Krie­ges 1914–1918 und dann noch ein­mal wäh­rend der Räte­re­pu­blik ent­zwei­te sich Mauth­ner mit sei­nem lang­jäh­ri­gen Freund Gus­tav Land­au­er. Er blieb als Deutsch­na­tio­na­ler sei­ner Grund­hal­tung treu, die sich auch in „Mut­ter­spra­che und Vater­land“ ausdrückt.

Das Essay in acht kur­zen Kapi­teln erschien zuerst 1920 als Num­mer 38 (von gesamt 85) in der beim Ver­lag Dürr & Weber in Leip­zig her­aus­ge­ge­be­nen „Zel­len­bü­che­rei“ mit 74 Sei­ten Umfang. Wer sich die Ori­gi­nal­fas­sung her­un­ter­la­den und die teu­re Neu­auf­la­ge ver­sa­gen möch­te, könn­te dies kos­ten­frei im Inter­net tun,[2] ver­passt dann aber das 30seitige pro­fun­de Nach­wort des Her­aus­ge­bers Tho­mas Hain­scho, tätig im Kla­gen­fur­ter „Karl-Pop­per-Archiv“. Hain­scho brei­tet sei­ne detail­lier­ten For­schun­gen in prä­gnan­ten For­mu­lie­run­gen aus: die Ent­ste­hung des Tex­tes, Auf­bau und Bezü­ge zum Gesamt­werk, die poli­ti­sche Dimen­si­on der Sprach­kri­tik des Autors, ein Per­so­nen­re­gis­ter und eini­ge Anga­ben zu den von Mauth­ner ange­führ­ten Werken.

Mauth­ners Stu­die gehör­te zur ers­ten Rubrik inner­halb der „Zel­len­bü­che­rei“, der „Kul­tu­rel­len Rei­he“, die mit Wil­helm Ost­walds „Wis­sen­schafts­leh­re“ eröff­net wor­den war. Bru­no H. Bür­gels „Du und das Welt­all“ erschien als Band 31. Prä­sen­tiert wer­den Por­träts von Mexi­ka­nern, Argen­ti­ni­ern, Elsaß-Loth­rin­gern, Fran­zo­sen, Tsche­chen, Ame­ri­ka­nern und ande­ren „Völ­kern“. Die Bän­de geben Hin­wei­se auf den „Volks­cha­rak­ter“ der Beschrie­be­nen. Mauth­ners Stu­die ist hier gut ein­zu­ord­nen. Er bün­delt The­sen des Ver­lags­pro­gramms in sein The­ma. Er will, wie die and­ren Schrif­ten, den Deut­schen Anstö­ße geben für einen geis­ti­gen Neu­an­fang nach dem Welt­krieg. (vgl. Nach­wort, S. 77 f.) Bemer­kens­wert in die­ser Rei­he ist die Schrift der Bio­lo­gin und Künst­le­rin Annie Har­rar, spä­ter Exper­tin für Boden­be­schaf­fen­heit und Pflan­zen­zucht, über Ras­se und die bes­se­ren Men­schen von morgen.

Mut­ter­spra­che“ und „Vater­land“ sind hoch auf­ge­la­de­ne Kul­tur­be­grif­fe und wer­den von Mauth­ner auch so benutzt. Dabei fällt auf, dass für Maut­ner Spra­che selbst Kul­tur ist. Er ver­wen­det das Wort als Aus­druck eth­no­gra­phi­scher Befun­de (eher: Ver­mu­tun­gen) und über­for­dert dadurch die Kate­go­rie. „Die Gemein­sam­keit der Kul­tur äußert sich über­all, wenn man das Wort nur recht ver­ste­hen will, in der Lie­be zur Mut­ter­spra­che. Patrio­tis­mus ist die­se Lie­be zur Mut­ter­spra­che. Die Mut­ter­spra­che ist der gro­ße Natio­nal­schatz, der alle andern geis­ti­gen Güter mit umfaßt.“ (S. 62)

Ein neu­er Völ­ker­hass habe den der Reli­gi­ons­krie­ge abge­löst. Aber weil es wider­sin­nig wäre, Men­schen tot­zu­schla­gen, weil sie eine ande­re Mut­ter­spra­che lieb­ten, habe man sich auf eine „gefäl­li­ge­re For­mu­lie­rung“ geei­nigt, „man schlug sie nur tot, weil sie ein ande­res Vater­land lieb­ten“ (S. 64), ein Wort, das die herrsch­süch­ti­gen „Lan­des­vä­ter“ präg­ten, die eine ver­schrift­lich­te „Lan­des­spra­che“ durch­setz­ten, die auf der jewei­li­gen „Mut­ter­spra­che“ grün­de­te. (vgl. S. 12 f.)

Das Werk beginnt als Erin­ne­rungs­text, wobei Mauth­ner hier­bei sei­ne jüdi­sche Her­kunft nicht the­ma­ti­siert. Das tat er aller­dings zuvor 1918 im ers­ten Band sei­ner „Erin­ne­run­gen“: „Wie ich kei­ne rech­te Mut­ter­spra­che besaß als Jude in einem zwei­spra­chi­gen Lan­de, so hat­te ich auch kei­ne Mut­ter­re­li­gi­on, als Sohn einer völ­lig kon­fes­si­ons­lo­sen Juden­fa­mi­lie. Wie mir mit mei­nem Vol­ke, dem deut­schen, nicht die Werk­stei­ne ganz gemein waren, die Wor­te, so war mir und ihm auch das Haus nicht gemein­sam, die Kir­che. … Nun aber darf ich auch sagen, daß die­se Män­gel mich in Erkennt­nis­fra­gen der Spra­che gegen­über um so frei­er mach­ten.“[3]

Die Juden als „Volk“ zu sehen, wider­strebt ihm. Dem Zio­nis­mus sei­ner Zeit steht er fern. Mauth­ner rech­net sich zum deut­schen Vater­land, schränkt aber in sei­nen „Erin­ne­run­gen“ kurz vor der soeben zitier­ten Stel­le ein, er habe die Lei­chen drei­er Spra­chen sei­ner „Vor­fah­ren“ (auch bei Mauth­ner in Anfüh­rungs­stri­chen) mit sich her­um­ge­tra­gen: Deutsch, Tsche­chisch und Hebrä­isch. In sei­nem Roman „Der neue Ahas­ver“ (1888), zuerst in Fort­set­zun­gen im „Ber­li­ner Tage­blatt“ erschie­nen, dis­ku­tier­te er unter ande­rem die lebens­welt­li­chen Schwie­rig­kei­ten in deutsch-jüdi­schen „Misch­ehen“.

Jeden­falls lern­te Mauth­ner bereits in der Schul­zeit das Deutsch­sein in böh­mi­schem Umfeld als mut­ter­sprach­li­che Behaup­tung gegen­über der tsche­chi­schen Spra­che der ande­ren, in Cis­leit­ha­ni­en, wie vor­wie­gend Juris­ten und Beam­te den nörd­li­chen und west­li­chen Teil Öster­reich-Ungarns nann­ten, was wie­der­um die bewusst sla­wi­sche wie die eben­so ver­an­lag­te deut­sche Bevöl­ke­rung vehe­ment ablehn­te. Deutsch­land selbst lag wie­der­um noch wei­ter nörd­lich: Obwohl durch die Mut­ter­spra­che dazu­ge­hö­rig: „Das hieß nie­mals unser Vater­land.“ (S. 10) „Erst der Natio­nal­staat bot die Mög­lich­keit, die Begrif­fe Vater­land und Mut­ter­spra­che zu schaf­fen.“ (S. 32)

Mauth­ner ent­fal­tet meh­re­re Zugän­ge, sei­ne Sicht auf die Begrif­fe und was sie ihm bedeu­ten zu erläu­tern. Dabei gerät er ins feuil­le­ton­haf­te Plau­dern über his­to­ri­sche Vor­gän­ge, die sei­ne Gedan­ken tan­gie­ren: die Renais­sance-Dich­ter, die Sprach­rei­ni­ger, die Kunst­spra­chen­schöp­fer (das heu­te nahe­zu ver­ges­se­ne Volapük), die Ent­ste­hung der Sprach­wis­sen­schaft und der Volks­idee (mit der schö­nen Poin­te, es hät­te nicht „völ­kisch“ son­dern „volk­lich“ hei­ßen sol­len, was wegen der Ver­wechs­lung mit „folg­lich“ nicht wei­ter ver­folgt wor­den sei, vgl. S. 55).

Dabei kommt Mauth­ner auch auf das The­ma zeit­wei­lig gelun­ge­ne his­to­ri­sche Fäl­schun­gen (Kon­stan­ti­ni­sche Schen­kung) und miss­lun­ge­ne zu spre­chen. Das dient der Vor­be­rei­tung auf sein Schluss­ka­pi­tel. Doch vor­her stellt er fest, es sei ein Aber­glau­ben, „das eige­ne Volk sei das Mus­ter, sei das Vor­bild für die Mensch­heit“. (S. 60) Das Gute an die­ser Dia­gno­se sei die Erkennt­nis, dass die Welt krank sei und gene­sen müs­se. „Die Unter­su­chung der Krank­heit, die soge­nann­te Dia­gno­se, gibt lei­der noch kei­ne Sicher­heit dafür, daß ein Heil­mit­tel gefun­den wer­den kann; den­noch muß mit der Unter­su­chung der Anfang gemacht wer­den.“ (S. 61)

Sein eige­nes Ange­bot, eher sei­ne pes­si­mis­ti­sche Sicht, lei­tet Mauth­ner mit einer Replik auf das Kon­stan­zer Kon­zil gegen Jan Hus ein (1414–1418), das zu des­sen Ver­bren­nung führ­te. „Der gan­ze Streit zu Kon­stanz wur­de um Natio­nen geführt und nicht um kirch­li­che Lehr­sät­ze.“ (S. 75) Die­sen Bericht bin­det Mauth­ner in eine eige­ne Fäl­schung ein, ein sti­lis­ti­scher Kunst­griff, einen Auf­klä­rungs­brief des von ihm erfun­de­nen Pri­vat­se­kre­tärs von Kar­di­nal Pierre von Ail­ly an des­sen eben­falls ima­gi­nier­ten Freund. Um Mauth­ners Kon­struk­ti­on zu ver­ste­hen, ist sei­ne Öff­nung gegen­über dem Bud­dhis­mus und sei­ner – aus sei­nem Ver­ständ­nis davon – abge­lei­te­ten Idee eines „Frei­en Geis­tes“ zu beach­ten, wie er sie 1912 in dem phi­lo­so­phi­schen Gleich­nis „Der letz­te Tod des Gau­t­ama Bud­dha“ für sich erkannte.

Die Anre­de for­mu­liert Mauth­ners Cre­do „Gelieb­ter Bru­der im Frei­en Geis­te!“ (S. 66) Immer wie­der wer­de die­se Brü­der­schaft unter immer neu­en Vor­zei­chen eine Welt­ei­ni­gung zu errei­chen ver­su­chen. „Und es wird wie­der wenig Glück sein auf der Erde. Bis künf­ti­ge Brü­der vom Frei­en Geis­te die letz­te Form der Ent­zwei­ung getilgt haben wer­den. Wenn das mög­lich ist.“ (S. 76) Die Skep­sis wird deut­lich. Sei­ne Grab­in­schrift wird hei­ßen: „Vom Mensch­sein erlöst.“

Das Hof­fen auf den Frei­en Geist ist ein schwe­res Pro­gramm, auf des­sen Ban­ner kei­ne „Bewe­gung“ zu grün­den ist, sei es ein mut­ter­sprach­li­ches Zurück, ein gro­ßes oder klei­nes Vater­land, gar eine Weltrepublik.

Wer nach kei­ner Kon­zept­schrift sucht, son­dern nach geis­ti­gen Anre­gun­gen, wie etwas gewe­sen sein und ins Heu­te pas­sen könn­te, der soll­te zu die­sem Büch­lein grei­fen, aber gewarnt sein. Die Leser­schaft wird nicht nur stän­dig hin‑, son­dern auch immer wie­der abrupt weg­ge­ris­sen. Zum einen stel­len Mauth­ners Asso­zia­tio­nen, sein Sprin­gen von einem The­ma zum nächs­ten, einen Lese­ge­nuss dar. Aber dann möch­te man hin­ter sei­ne gehei­men Bot­schaf­ten kom­men, in Span­nung blei­ben. Da befin­det sich der Autor jedoch schon in der nächs­ten Geschich­te. Eng bei­sam­men hän­gen bei ihm, wie der Mauth­ner-Bio­graph Joa­chim Kühn 1995 schrieb, Fas­zi­na­ti­on, Ent­täu­schung und Lan­ge­wei­le sowie Zustim­mung, Begeis­te­rung und Ableh­nung.[4]

Horst Gro­schopp

Fritz Mauth­ner: Mut­ter­spra­che und Vater­land. Hrsg. und mit einem Nach­wort von Tho­mas Hain­scho. Wien/Köln: Böhlau Ver­lag 2022, 106 S., ISBN 978–3‑205–21637‑7, 55.- €

  1. Vgl. hier­zu mei­ne Rezen­si­on auf „huma­nis­mus aktu­ell“ von 2011.
  2. Mauth­ner Mut­ter­spra­che und Vater­land 1920 : Fritz Mauth­ner : Down­load, Aus­lei­hen und Strea­men : Inter­net Archi­ve (abge­ru­fen am 20.3.2023).
  3. Fritz Mauth­ner: Pra­ger Kind­heit. Erin­ne­run­gen (1918). Frank­furt a.M. 1969, S. 50 f., das Fol­gen­de vgl. S. 48 f. – Mehr Bän­de sind nicht erschie­nen. Das Werk wur­de zwi­schen­zeit­lich mehr­fach nach­ge­druckt.
  4. Vgl. Joa­chim Kühn: Das Erschre­cken über die Spra­che. Selbst­recht­fer­ti­gung und Selbst­sti­li­sie­rung bei Fritz Mauth­ner. In: Eli­sa­beth Lein­fell­ner und Hubert Schlei­chert (Hrsg.): Fritz Mauth­ner. Das Werk eines kri­ti­schen Den­kers. Wien, Köln und Wei­mar 1995, S. 11–124, hier S. 111, 123.