Humanismus als eine Weltanschauung

Rezension zu: Joachim Kahl: Humanismus

Der Autor beging in die­sem Jahr 2021 sei­nen 80. Geburts­tag. Vor sie­ben Jah­ren (2014) war im glei­chen „Tec­tum Ver­lag“ sein Klas­si­ker der Reli­gi­ons­kri­tik „Das Elend des Chris­ten­tums“ von 1965 neu auf­ge­legt wor­den. Schon die­ses Buch hat­te das Motto zum Unter­ti­tel, das auch das neue Werk lei­tet: „Plä­doy­er für eine Huma­ni­tät ohne Gott“. Zwi­schen­durch (2005) schal­te­te sich Joa­chim Kahl in den sich damals ent­fal­ten­den Huma­nis­mus­dis­kurs mit einer dezi­dier­ten Wort­mel­dung ein. In sei­nem phi­lo­so­phisch ange­leg­ten Buch bestand er auf einem (wie der Titel lau­te­te) „welt­li­chen Huma­nis­mus“. Auch in der nun vor­lie­gen­den Publi­ka­ti­on bleibt er dabei: Sein Huma­nis­mus ist „erklär­ter­ma­ßen athe­is­tisch“ und reli­gi­ons­kri­tisch und an Lud­wig Feu­er­bach orientiert.

Wer sich per­sön­lich aus einer christ­li­chen Prä­gung und Sozia­li­sa­ti­on wäh­rend des Stu­di­ums der Theo­lo­gie als Phi­lo­soph her­aus­ge­ar­bei­tet hat, dem kann die­se Befrei­ung zu einem Lebens­the­ma wer­den, die er immer wie­der hin und her wen­det, mal aus­wei­tet, mal ein­engt, wie zahl­rei­che Tex­te zei­gen, die Kahl im Rah­men der „Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie“ seit über zwan­zig Jah­ren veröffentlichte.

Von ande­ren in der soge­nann­ten säku­la­ren Sze­ne unter­schei­det sich Joa­chim Kahl vor allem durch vier Auffälligkeiten:

Ers­tens betont der Autor, auch hier gleich ein­gangs, dass er sei­ne eige­ne Ver­si­on des Huma­nis­mus aus­brei­ten wird, gar nicht den Anspruch hat, für den gan­zen Huma­nis­mus zu spre­chen, der „unver­meid­lich viel­deu­tig und viel­schich­tig, ja hef­tig umstrit­ten“ ist. (S. 1) Kahl zeigt den Mut zur Sub­jek­ti­vi­tät, auch im Stil.

Zwei­tens sind ihm Reli­gio­nen und in ihren das Chris­ten­tum beson­de­re Kul­tur­for­men, die gesell­schaft­lich als kom­pli­zier­tes Geflecht von Nor­men, Wer­ten und Ritua­len erschei­nen, die sich his­to­risch ändern und nicht ein­fach erkennt­nis­theo­re­tisch als Irr­tum, gar Dumm­heit abge­tan wer­den kön­nen oder als „Got­tes­wahn“ zu the­ra­pie­ren sind.

Drit­tens unter­schei­det Kahl kon­se­quent glau­ben­de Men­schen von poli­tisch akti­ven Orga­ni­sa­tio­nen, wie es die Kir­chen sind. Hier liegt ihm beson­ders am Her­zen zu bele­gen, dass weder die evan­ge­li­sche noch die katho­li­sche Kon­fes­si­on „Volks­kir­chen“ sind, obwohl sie wei­ter so tun. Er argu­men­tiert nun aller­dings nicht mit Zah­len oder Wider­re­den, son­dern führt Huma­nis­mus vor als Selbst­ver­ständ­lich­keit, aber in stän­di­ger Gefahr.

Ein vier­ter Unter­schied ist für die Bewer­tung des vor­lie­gen­den Buches ent­schei­dend. Reli­gi­on kann nicht ein­fach „abge­schal­tet“ wer­den, wie sich das eini­ge nim­mer­mü­de, aber nicht kul­tur­his­to­risch beson­ders gebil­de­te Athe­is­ten und Athe­is­tin­nen so wün­schen, vor­stel­len und dafür arbei­ten. Reli­gio­nen, eben weil sie Kul­tu­ren sind, kön­nen nur kul­tu­rell über­wun­den wer­den durch eine ande­re, die den Men­schen mehr ent­ge­gen kommt, die sie zu lei­ten ver­mag, ihren Bedürf­nis­se ent­spricht, ihr Leben beglei­tet und das Gute aus vor­he­ri­gen Kul­tu­ren, eben auch reli­giö­sen, christ­li­chen usw., adop­tiert und sich dabei ver­än­dert. Und wo Kahl Bünd­nis­part­ner fin­det, etwa im „Welt­ethos“ von Küng, betont er die­se Nähe.

Kahl sieht den Huma­nis­mus als ein „kul­tu­rel­les Pro­jekt“ mit lan­ger Tra­di­ti­on, authen­ti­scher Huma­ni­tät und letzt­lich geis­ti­ger Über­le­gen­heit. Dass er die­sen Weg gefun­den hat und wie, das ist sei­ne Lebens­bot­schaft. Zu ermun­tern, sei­nen Schrit­ten zu fol­gen, dazu möch­te er ein­la­den. Dazu scheut er sich nicht, inti­men Ken­nern sei­ner Tex­te die­sen oder jenen Gedan­ken noch ein­mal aus­zu­brei­ten (mas­siv in den Pas­sa­gen über Sterbehilfe).

Er legt die Maxi­men sei­ner „Lebens­kunst“ offen und erwar­tet von der Leser­schaft, sich auf sei­ne sinn­li­chen Bot­schaf­ten, Sprach­mus­ter ein­ge­schlos­sen, ein­zu­las­sen. Das Ergeb­nis ist ein gut les­ba­res Buch, das mit 19 Anmer­kun­gen aus­kommt, aber 14 Abbil­dun­gen bie­tet, inklu­si­ve Umschlag. Die Schreib­wei­se ist ent­spre­chend asso­zia­tiv, betont „unaka­de­misch“. Kahl lie­fert kein strikt wis­sen­schaft­li­ches Werk, das sich mit ande­ren The­sen aus­ein­an­der­setzt. Wer Huma­nis­mus als Welt­an­schau­ung sucht, im Buch von Kahl fin­det er sie als zusam­men­ge­setz­tes Puz­zle, und zwar, wie der Begriff sagt, als Samm­lung von Anschau­un­gen und Einsichten.

Und da „Anschau­un­gen“ oft ästhe­tisch daher­kom­men und wir­ken, ist Kahls Buch gefüllt mit Zeug­nis­sen aus Kunst und Lite­ra­tur, von der Anti­ke an, mit Anti­go­ne als ers­ter Huma­nis­tin: Cas­par David Fried­rich, Pie­ter Breu­ghel, Goe­the, Munch, Dürer, Tizi­an, Fri­da Kahlo, Max Beck­mann, Max Ernst u.a. in sei­nen Inter­pre­ta­tio­nen und ver­bun­den mit welt­an­schau­li­chen Ein­las­sun­gen des Autors. Ein­ge­baut in den Stoff sind eini­ge Per­so­nen als exem­pla­ri­sche Huma­nis­ten und Huma­nis­tin­nen: Ber­tha von Sutt­ner, Olym­pe de Gou­ges, Fritz Bau­er und Nel­son Man­de­la. In die­se spe­zi­el­len Dar­stel­lun­gen immer ein­ge­wo­ben fin­den sich phi­lo­so­phi­sche Betrachtungen.

Die Über­schrif­ten sind oft detail­lier­te Ankün­di­gun­gen des Kom­men­den: „‘Stein des Glücks’ neben Goe­thes Gar­ten­haus im Park an der Ilm. Beweg­lich­keit auf fes­tem Fun­da­ment. Goe­thes non­ver­ba­le Bot­schaft zur Lebens­kunst, ver­ge­gen­ständ­licht im ‘Stein des guten Glücks’“ (S. 35).

Kein Buch von Kahl ohne Bekennt­nis­se – etwa in den Haupt­wor­ten sei­nes Aus­blicks: Welt­ver­gnü­gen, Welt­schmerz, Welt­ethos – und kei­nes ohne Erör­te­rung von Tugen­den, dies­mal Klug­heit, Gerech­tig­keit, Tap­fer­keit, Mäßi­gung (am Bei­spiel von Micha­el Kohlhaas).

Der Rezen­sent hat sei­ne eige­ne Auf­fas­sung von Huma­nis­mus, durch­aus von ande­ren Quel­len her­ge­lei­tet, weil eine ganz ande­re Bio­gra­phie. Welt­an­schau­un­gen las­sen sich sowie­so nicht ver­rech­nen, sie ste­hen für ihre Wahr­heit. Damit zum Abschluss die Emp­feh­lung, das Buch zu neh­men als das, was es sein will, eine per­sön­li­che „Ein­la­dung“, auch eine zum Ver­gleich mit dem Eige­nen und ein Bildungsangebot.

Joa­chim Kahl
Humanismus
Eine Einladung
Baden-Baden: Tec­tum Ver­lag 2021, 162 S.
ISBN 978–3‑8288–4597‑8
26.- €