Ende 2007 beschäftigte sich der hpd mit der Frage der staatlichen Kulturfinanzierung der Kirchen, stellte eine “4,4 Mrd. Euro-Peinlichkeit” fest und fragte “In Museen beten?” In dem Buch “Humanismus – Laizismus – Geschichtskultur” beschäftigte sich Horst Groschopp in einem Beitrag mit der öffentlichen Kulturförderung von Religionen unter der Überschrift “Laizismus und Kultur”. Nun sieht er viel weitergehende Überlegungen zum Komplex Religion, Kultur und Recht in dem Buch von Thomas Fritsche “Der Kulturbegriff im Religionsverfassungsrecht” – besonders daraus ableitbare juristische Erwägungen, die sich auf die aktuelle Frage der religionsverfassungsrechtlichen Hemmnisse einer künftigen Integration von Flüchtlingen beziehen lassen.
“Kultur” kommt im Grundgesetz nur mit vier Erwähnungen vor, die für die deutsche Kulturverfassung nur wenig Bedeutung haben. [1] Zugleich ist “Kultur” in aller Munde, vom Kulturbeutel bis zu diversen “Leitkulturen”. Vor allem werden religiöse Vorgänge zunehmend kulturell erklärt, von Beschneidungen über Kopftücher bis zu Kleidungs- und Speisevorschriften.
Gegenstand der Untersuchungen von Fritsche sind die juristischen Probleme, die sich aus der Schwierigkeit ergeben, “zu identifizieren, was religiös ist und was nur kulturell” (S. 23). “Nur” kulturell ist keine Nebensächlichkeit, sondern bedeutet in der Praxis – das Thema behandelt Fritsche stiefmütterlich – mindere öffentliche Förderberechtigung, denn erst kommt die Religion und dann die Kultur; das ist so bis in die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden hinein. Aber welche Religion kommt zuerst, wenn es – wie zunehmend auch in Deutschland – mehrere gibt mit differenten Moralen, also große Gruppen von Gläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen (die bei Fritsche auch nicht behandelt werden)? Ist das Christentum auf Dauer privilegiert, auch dann, wenn es, wie in Ostdeutschland, eine Minderheitenkirche ist? Kann es dort, wenn die Zuwanderung anhält, bald mehr Muslime geben als Christen?
Der im Grundgesetz garantierte Pluralismus – nun zum Gegenstand der gedruckten Dissertation (Humboldt-Universität 2014) – kollidiert immer mehr mit dem historisch gewachsenen Religionsverfassungsrecht (Fritsche führt umfassend in dieses ein, vgl. S. 57 ff.) und dessen kulturellen Rechtfertigungen. Deshalb schlägt der Autor vor, das Religionsverfassungsrecht in ein “Konzept der Kulturneutralität zu überführen” (S. 300) und auf dem Wege dahin den dafür brauchbaren Kulturbegriff zu qualifizieren.
Fritsche dekliniert an deutschen Verfassungen, Gesetzen, Urteilen, Konferenzen, Publikationen usw. durch, was jeweils darin “Kultur” meint. Er macht sich durch das Studium der Kulturwissenschaft einen modernen Kulturbegriff zu eigen, der nicht nur in der Lage ist, Religionen in ihrem Gelebtwerden “neutral” zu analysieren, ohne in die Relativierungsfalle zu tappen und alles gleich zu setzen: Wertkriterium bleibt das Grundgesetz (vgl. S. 255 f.).
“Kultur” ist, so kann man Fritsche lesen, in der Lage, gesellschaftliche Problemfelder zu benennen, deren Thematisierung von einseitig spezialreligiösem Blickwinkel absieht und auf Gleichberechtigung der Akteure zielt. Dazu schaut der Autor in den Gebrauch von “Kultur” in juristischen Auseinandersetzungen weit zurück und kritisiert rechtspolitische Initiativen zu den sogenannten Kulturstaatsklauseln (Kulturschutz, Kulturförderung), die auf Vorteilsnahme etablierter Religionen bedacht sind. Er bemängelt Vorstöße von religiösen Seiten, auf dem Wege der Normeninterpretation einen einseitigen Kulturbegriff zu etablieren, genauer: Teilen davon Verbindlichkeit zu sichern.
Fritsche geht hier kurz auf Böckenförde und dessen Frage ein, was eine Gesellschaft bindet, wenn Religion dafür ausfällt (S. 250 f.). Er argumentiert mit der Offenheit und “Weite” von Kultur und betont deren Nichtnormierbarkeit. Jedoch ist selbstverständlich immer eine Kultur das Bindende. Daran geht der Autor etwas achtlos vorbei. Für ihn ist wichtig, dass sich der Kulturbegriff im nichtjuristischen Bereich der Vorannahmen bewegt und dort diskutiert werden kann.
Der Autor setzt eine offene Gesellschaft voraus, wünscht ihren Erhalt und sieht daher das Ende homogener, noch dazu homogen-religiöser Kulturen im Sinne christlich-abendländischen Ausrichtung. Das Grundgesetz gebiete dem Staat eine “Kultur der Freiheit”, die nur auf der säkularen Intention des ganz und gar säkularen Grundgesetzes zu gründen sei. Das Religionsverfassungsrecht könne dieses Recht aller Religionskulturen nicht mehr “neutral” garantieren, ohne sich dem modernen Kulturverständnis zu öffnen. Verfassungen zielen auf die gesamte Gesellschaft. Wie sich dann eine religiöse “Vereinigung binnendifferenzierend zu Glaubensfragen verhält, bleibt ihr selbst überlassen” (S. 256).
Was bedeutet dies für die höchst aktuelle Kulturfrage einer Integration von Flüchtlingen?
Als Fritsche die Dissertation schrieb, waren die Flüchtlingsmassen von heute schwer vorstellbar, noch weit weg. Doch schon ohne diese Tatsachen sah der Autor das Problem – und seinem Urteil schließt sich der Rezensent an –, dass die Integration nicht mit einem dualen Verständnis “geschafft” werden kann, um das Wort der Kanzlerin vom “Wir schaffen das” zu benutzen.
Die einfache Übernahme der Mehrheitskultur durch die “Neuen” kann nicht gelingen. So funktioniert Kultur nicht. Man muss die Argumentation des Autors (S. 260 f.) sogar zuspitzen, dass Assimilationsabsichten stets Parallelgesellschaften als Verteidigungsstrategien produzieren, also das Gegenteil von Integration bewirken. Diese Einsicht war schon in der Debatte über “Leitkulturen”, auch hinsichtlich der “Leitkultur Humanismus”, der große konzeptionelle Mangel.
Fritsches Buch ist gerade in dieser Hinsicht eine bedenkenswerte Mitteilung, impliziert sie doch, dass eine Bewahrungsstrategie nicht gelingen kann, die will, dass alles irgendwie so bleibt. Doch hat eine solche Erkenntnis Folgen. Sie zu ahnen, dahinter verbirgt sich die große kulturelle Angst von “Pegida” (man sollte immer mal wieder den vollen Namen anführen: “Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes”), Front National, sächsischen Gemütsmenschen und Seehofer. Die deutsche (auch nicht die bayerische) Kultur wird nie mehr so sein, wie sie jetzt ist; sie bei der Integration oder gar durch die Integration bewahren zu wollen, ist nicht nur eine Schimäre, sondern eine soziale Widersprüche zuspitzende, “Anpassungsverlierer” aussondernde Strategie.
Man kann aber auch nicht voraussagen, wie die kommende Kultur der Deutschen aussehen wird. Jedenfalls scheint eine Integration mittels Religionsverfassungsrecht, gar Staatskirchenrecht, kontraproduktiv, denn es transportiert einen historischen “Kulturbegriff, der den christlichen Kirchen zuspricht und anderen religiösen Strömungen nicht vorbehaltlos begegnet” (S. 297).
Die Debatten, so meine Sicht, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, vernebeln den Durchblick in die Realität wie auch die wohlfeilen Versprechungen an Islamverbände (Gemeinden?), bald analog zu den Kirchen öffentlich gefördert zu werden. Was wird dann da gefördert, Religion oder Kultur, Islamtheologie oder Islamwissenschaft, Gottesdienst oder Theateraufführung? Werden die Imame bald bezahlt wie Pfarrer – Sunniten wie Katholiken und Schiiten wie Protestanten oder (um es zuzuspitzen) Alleviten wie Humanisten? Das ganze Religionsverfassungssystem steht zur Disposition. Gesellschaftliche Widersprüche in den geübten Bahnen religionspolitischer Traditionen befrieden zu wollen, kann nicht gelingen, auch wenn die Politik noch denkt, der Kelch ginge vorbei.
In der Kulturförderung ist es dem Staat verboten, eine wertende Auswahl zu treffen: Der Staat hat keinen ästhetischen Geschmack. Seiner Betreiber ziehen sich dadurch aus der Entscheidungsaffäre, in dem sie sachverständige Kommissionen berufen, die ihm Vorschläge unterbreiten. Das ist nie ein großes Parlament aller Interessierten, kein – nun ins Religionsgebiet – “Runder Tisch der Religionen (und der Weltanschauungen)”, keine “Islamkonferenz”.
Der Staat hat auch keine Religion (ausgeschlossen durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137,1 WRV: keine Staatskirche). Deshalb, so Fritsche, bedarf das Religionsverfassungsrecht der “Umstellung auf den Topos der Kulturneutralität als Konsequenz” (S. 303). Im Rechtsstaat legitimieren sich politische Entscheidungen allein aus dem Recht. “Somit findet sich im Rechtsstaat eine Präferenz für den Positivismus.” (S. 41) Es müsse gelingen, ein positivistisches Integrationsverständnis mit dem Gleichheitsgrundsatz zu verbinden, das sämtliche Religionsgemeinschaften berücksichtigt, ohne Urteile über Religionen zu treffen.
Es wird von Fritsche, auch rechtshistorisch argumentierend, vorgeschlagen, “das Kulturargument – interdisziplinär informiert – vom Religionsverfassungsrecht zu subtrahieren. Es lässt sich als Kulturverzicht darstellen mit der Folge einer Kulturneutralität im Religionsverfassungsrecht.” (S. 299) Man könne wegen der Weite des Kulturbegriffs nicht Kultur von der Religion subtrahieren, müsse “vielmehr eine Addition des Topos der Kulturneutralität in die rechtlichen Entscheidungen des Religionsverfassungsrechts” vornehmen. (S. 299)
Faktisch hieße das, so meine Interpretation, religiöse Wahrheiten auf ihre kulturellen Aussagen herunter zu brechen und ihre sozial möglichen Folgen zu bedenken im Vergleich zu anderen. Kulturelle “Wahrheiten” sind zwar nicht weniger strittig als religiöse. Sie haben aber von vornherein keinen Absolutheitsanspruch: Madonnen werden in der Kultur verglichen mit Madonna. Es gibt keinen Bonus für Madonnen wegen ihrer innerreligiösen Heiligkeit gegenüber der Säkularität von Madonna. Das ist aber auch die Crux, wegen der sich Kirchen nicht mit dem “Abgleiten” ihrer Botschaften ins Profane zufriedengeben und auf der “Abendsland”-These beharren werden: So weit will man es nicht kommen lassen, dass an Theater und Kirchen die gleichen Förderkriterien angelegt werden.
Thomas Fritsche, Der Kulturbegriff im Religionsverfassungsrecht, Berlin: Duncker & Humblot 2015, 327 S., 79,90 Euro, ISBN 978–3–428–54632–1, (Schriften zum öffentlichen Recht, 1293)
- Betreffend Art. 23,6 die Rechte der Länder etwas selbst zu regeln; Art. 29 die Neugliederung der Bundesrepublik hat die gewachsenen kulturellen Zusammenhänge zu beachten; Art. 73, 5a den Schutz des Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland; Art. 89 Landeskultur und Wasserschutz. ↩
Der Artikel wurde zuerst am 16. Dezember 2015 beim hpd veröffentlicht.