Horst Groschopp: Welcher Humanismus? Sechs Thesen. In: MIZ. Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistINNEN. Aschaffenburg 2017, 45. Jg., H. 2, S. 46–48.
Angesichts des Rückgangs der allgemeinen Debattenfreudigkeit in Sachen Humanismus in der „säkularen Szene“ provoziert die Antwort von Gunnar Schedel „Humanismus für alle“ (MIZ 1/17) auf die Thesen „Humanismus aktuell“ (MIZ 4/16), abgeleitet aus meinem Buch „Pro Humanismus“, eine kleine Reaktion. Dies vor allem deshalb, weil hier die strategische Kernfrage nach dem letztendlichen Ziel des organisierten Humanismus aufgeworfen wird, die in vielen Formen strittige Behandlung findet: Aufbau- versus Abbaustrategie, Neutralität versus Pluralität in Religions- und Weltanschauungssachen, radikaler oder kooperativer Laizismus oder ganz aktuell mal wieder die alte „Solange“-Frage nach der vollständigen oder nur teilweisen Trennung von Staat und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften.
Dazu ein Beispiel: Soll es eigenen Humanismus-/Lebenskundeunterricht an den staatlichen Schulen solange geben wie es Religionsunterricht gibt? Dann (in der vollständig „säkularen“ Gesellschaft?) sollen alle raus aus der Schule oder hat das „ewige“ Festhalten an dieser Errungenschaft und die dauerhafte Konkurrenz mit christlichem, jüdischem, islamischen u.a. Religionsunterricht die Priorität? Staatsleistungen für alle oder für niemand, für keine Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaft?
1. Der von Gunnar Schedel angesprochene HVD sollte für sich selbst sprechen. Mein Standpunkt als ehemaliges Mitglied und Befürworter eines reformierten HVD dürfte bekannt sein: Ich spreche mich gegen einen „säkularen Humanismus“ aus, ohne ihn anderen Organisationen absprechen zu wollen. Da müssen alle ihren eigenen Weg finden und ihren eigenen Humanismus stimmig definieren.
2. Ich teile die Einschätzung von Gunnar Schedel vom Bedeutungsverlust der Kirchen und habe deshalb in „INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft“ (1/2017) einen entsprechenden Grundsatzartikel veröffentlicht. Damit, dass sie nicht mehr „Verkünder einer allgemeinen Moral“ sein können, geht aber nun einmal parallel einher der Bedeutungsverlust der „säkularen Szene“, soweit sie sich auf Religions- und Kirchenkritik beschränkt und keine praktischen Lebenshilfeangebote unterbreitet.
3. Gunnar Schedel beklagt die „neoliberale Verlagerung von Gemeinschaftsaufgaben in private Hand“. Die Einschätzung teile ich, sehe aber keine gesellschaftliche Kraft, die das aufhalten will oder kann. Gleiches gilt für den Stopp von Staatsleistungen an die Kirchen, eine dieser „privaten“ Einrichtungen. Der Staat selbst kann nur auf bestimmten Großfeldern (Autobahnen usw.) „Private“ initiieren, fast nicht auf kulturellen und sozialen Feldern.
Wenn aber nun einmal privatisiert wird bzw. neue Angebote (etwa Hospize) „privat“ („subsidiär“ finanziert entstehen und sich in dieser Lage die Kirchen melden (Beispiel: Einrichtungen für Geflüchtete) parallel zu „säkularen“ Anbietern wie Paritäter, Arbeiter-Samariterbund, Volkssolidarität usw. Warum sollten sich dann nicht auch betont humanistische Dienstleister gründen und melden, anstatt aus der freidenkerischen Jammerecke gegen die Privilegien der Kirchen zu meckern. Wenn es aber keine gibt, wie soll Pluralität leben? Und es gibt auch keine Pluralität ohne muslimische Einrichtungen. Sie zu fordern, das ist aber deren Sache.
4. Etwas anderes ist es, diese humanitären Praxen etwa des HVD für Humanismus schlechthin zu erklären (bewusst oder fahrlässig oder beiläufig) und den Humanismus für einen Verband (durchaus auch absichtslos) zu vereinnahmen. Ich habe „Pro Humanismus“ geschrieben, um hier aus der intimen Kenntnis des HVD heraus auf Fehlstellen zu verweisen, die darin bestehen, sich im allgemeinen Humanismus (nicht nur in der „säkularen Szene“, das wäre viel zu eng) nur mangelhaft und schwer nachvollziehbar zu verorten mit einer Tendenz zum „Behauptungshumanismus“. Es gibt zwar nur einen Humanistischen Verband, aber viele humanistische Organisationen in einem noch weiteren Spektrum humanitärer Institutionen. Was trägt der HVD bei? Was ist seine Alleinstellung? Was sein historischer „Auftrag“?
5. „Versäulung“ ist angesichts der zunehmenden Zahl der Konfessionsfreien eine überlebte Perspektive, auch bei Gunnar Schedel nur eine angedeutete Gefahr. Dagegen sprechen Marktwirtschaft, Geldverkehr, Freizeitvergnügen, Familienpflichten, Medienkultur, Massenevents. Zu beobachten ist dementsprechend vielmehr, dass die „Privaten“, ob kirchennah oder nicht, ihre Angebote bewusst in diese Großgruppe hinein erweitern und auch ihre eigenen Leute anders ansprechen als früher. Warum soll dem „Christentum light“ nicht auch ein „Islam light“ und „Humanismus light“ folgen? Was wäre denn ein „harter“ Humanismus?
Um das am Beispiel eines „Altersheimes des HVD“, in das Gunnar Schedel einmal lieber möchte als in eines der Caritas, anzudeuten. Selbstverständlich werden Menschen dort beten und einen Pfarrer empfangen können, wenn sie das wollen. Aber es wäre in einem anderen offenen Systemzusammenhang. Es ist eher umgekehrt das Problem, das für alle Einrichtungen und Angebote des HVD nachvollziehbar sein müsste, was das spezifisch „Humanistische“ ist.
Leider müssen wir hier viel improvisieren, weil uns eine akademische Humanistik fehlt und in ihr eine Beschäftigung mit Humanismus als „Weltanschauung“ und ihrer „Anwendung“.
6. „Humanismus für alle“ ist eine hehre Losung. Doch sind eben nicht alle dessen Subjekte. Keine Kultur ohne Subjekt, auch nicht Humanismus als Kultur. Wer waren bisher (von welchem Humanismus?) die Subjekte? Gibt es heute einen „Volkshumanismus“, gar unter den Konfessionsfreien?
Es hat sich in Deutschland so entwickelt, dass die aktuellen sozialen Träger eines organisierten Humanismus (sieht man vom bürgerrechtlichen der Humanistischen Union einmal ab), sich aus der Freireligiösen- und Freidenkerbewegung, die den Arbeiterparteien verbunden war, herausentwickelt und erst spät, nach 1990, zum Humanismus gefunden hat … aber eben nur einem bestimmten „säkularen“ Humanismus.
Warum sind in Westdeutschland die freireligiösen Angebote, etwa eines Lebenskunde-Unterrichts an den Schulen, in den 1970er Jahren aufgegeben worden? Standen dahinter nicht die gleichen Illusionen eines „Humanismus für alle“ (der Begriff wurde noch nicht benutzt)? Wenn Organisationen wie der HVD sich weiter dem Humanismus öffnen, dann geht dies nur über eine Emanzipation von dieser Übergangsphase des „säkularen“ Humanismus und einer Kritik der 1970er „Vergesellschaftungskonzepte“, die (noch einmal dieses Beispiel) zu „Werte und Normen“ führte, in dem Humanismus wenig bis gar nicht vorkommt.
Das ist der Kern meiner Botschaft: Über die eingangs angedeuteten Konzepte gibt es seit 1993 eine scharfe Debatte. Sie sollte nicht ideologisch weitergeführt werden, sondern anhand einer Analyse dessen, wie die „säkulare Szene“ mit Humanismus real umgegangen ist und wer damit was gewonnen hat, für seine Klientel bzw. für alle.