Freidenker in Thüringen am Scheideweg

Eine historische Betrachtung nach dem Erscheinen des Buches von Siegfried R. Krebs: Freidenkertum, organisierter Humanismus und Laizismus in Thüringen (2020)

Horst Gro­schopp

Der Her­aus­ge­ber betont in der sehr kur­zen Ein­füh­rung zu sei­ner Antho­lo­gie his­to­ri­scher Tex­te, dass eine umfas­sen­de Geschich­te der diver­sen frei­den­ke­ri­schen Strö­mun­gen ein Desi­de­rat ist. Dies betrifft gera­de regio­na­le Strö­mun­gen, auch wenn die­se – gera­de was den Kul­tur­raum des heu­ti­gen Lan­des Thü­rin­gen betrifft – durch­aus her­aus­ra­gen­de Vor­gän­ge beisteuerten.

Das ist auf die Gegen­sei­te über­trag­bar. Neh­men wir nur die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ein­grif­fe und das Wir­ken der „Deut­schen Chris­ten“ in den 1920ern und 1930ern, die in einem „dia­lek­ti­schen“ Ver­hält­nis zuein­an­der stan­den und sich in Koope­ra­ti­on mit ande­ren kon­ser­va­ti­ven Kräf­ten gegen auf­klä­re­ri­sche Bestre­bun­gen rich­te­ten. Wenn dann noch, wie es Krebs unter­nimmt, ein gro­ßes zeit­li­ches Feld eines andert­hal­ben Jahr­hun­derts bear­bei­tet wird, wer­den die Lücken auf gera­de­zu tra­gi­sche Wei­se sicht­bar. Die­se sind nicht ein­fach Fehl­stel­len, schon gar nicht Feh­ler des Autors. Es han­delt sich viel­mehr um einen grund­sätz­li­chen Man­gel an Grund­da­ten, ohne die der Bei­trag Thü­rin­ger Frei­den­ker zur Lan­des­ge­schich­te nicht zu erfas­sen ist, aber die­se wahr­schein­lich neu zu schrei­ben wäre.

Es gibt und gab mäch­ti­ge Insti­tu­tio­nen, die ein Inter­es­se dar­an haben, die Kul­tur Thü­rin­gens (wie ande­rer Bun­des­län­der) vor allem als eine christ­lich gewor­de­ne und gepräg­te dar­zu­stel­len. Schon die zwangs­wei­se Chris­tia­ni­sie­rung wird als fort­schritt­li­cher Vor­gang beschrie­ben. Die huma­nis­ti­schen, kir­chen­kri­ti­schen „Dun­kel­män­ner­brie­fe“ (1515 ff.; Stich­wor­te: Cro­tus Rubeanus; Erfur­ter Engels­burg; „Huma­nis­ten­er­ker“) wer­den weit­ge­hend in die Refor­ma­ti­ons­ge­schich­te ein­ge­mein­det und luthe­risch gele­sen. Ein ande­res Bei­spiel ist die Geschich­te der Thü­rin­ger Feuerbestattung.

Mit der Grün­dung des „Deut­schen Frei­den­ker­bun­des“ als deut­scher Zweig einer inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on im Jahr 1881, um zehn Jah­re ver­zö­gert wegen des Deutsch-Fran­zö­si­schen Krie­ges, begann die Geschich­te des orga­ni­sier­ten bür­ger­li­chen Frei­den­ker­tums im Deut­schen Reich (vgl. S. 9–24). Aller­dings geschah dies auf­bau­end auf und sich zugleich sepa­rie­rend von den vor­he­ri­gen und wei­ter bestehen­den frei­re­li­giö­sen Unter­neh­mun­gen. Die Über­gän­ge und die wei­te­re Geschich­te der Frei­re­li­giö­sen (der „Bund frei­er reli­giö­ser Gemein­den Deutsch­lands“ BfGD wur­de 1859 in Gotha gegrün­det) lie­gen im Dunk­len, gera­de was den Thü­rin­ger Raum angeht.

Jeden­falls spiel­te Gotha eine zen­tra­le Rol­le zum einen durch die ver­kehrs­tech­ni­sche Mit­tel­la­ge im dama­li­gen Deutsch­land, aber beson­ders durch das her­vor­ra­gen­de orga­ni­sa­to­ri­sche und publi­zis­ti­sche Wir­ken von Karl August Specht (1845–1909), einem Natur­wis­sen­schaft­ler und Phi­lo­so­phen, Redak­teur der Zei­tung „Men­schent­hum. Sonn­tags­blatt für Frei­den­ker. Organ für deut­sches Frei­den­ker­tum. Hrsg. vom Deut­schen Frei­den­ker­bund“ (1878–1913), deren Titel bereits auf Huma­nis­mus verweist.

Ein beson­de­res Ver­dienst von Krebs besteht hier dar­in, ein in der Frei­den­ke­rei unge­wöhn­li­ches Doku­ment zu dru­cken. Es han­delt sich um ein Flug­blatt des DFB (Nr. 6, 1881, S. 26–37), in dem Specht Huma­nis­mus als die frei­den­ke­ri­sche Welt­an­schau­ung bestimmt. Sei­ne Begrün­dun­gen, damals weit­ge­hend allein­ste­hend, wer­den erst wie­der nach 1985/1986 auf­ge­grif­fen (ohne dass die Akteu­re bekannt gaben, ob sie von Specht Kennt­nis hat­ten). Ende der 1980er Jah­re und mit Elan nach 1990 setz­te in der Sze­ne eine (wie ich mei­ne unvoll­ende­te) „huma­nis­ti­sche Wen­de“ ein, die der Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Ste­fan Schrö­der in sei­nem Buch „Frei­geis­ti­ge Orga­ni­sa­tio­nen in Deutsch­land“ aus­führ­lich beschreibt und die ich in „Pro Huma­nis­mus“ als Ent­ste­hungs­ge­schich­te des „Huma­nis­ti­schen Ver­ban­des“ dar­ge­legt habe.

Die Specht-Idee, Frei­den­ke­rei und Huma­nis­mus zu ver­bin­den und dar­aus einen „prak­ti­schen Huma­nis­mus“ zu bil­den, der sich spä­ter als „ethi­sche Kul­tur­be­we­gung“ ver­steht, wird 1887/1888 in Ber­lin in der „Frei­re­li­giö­sen Gemein­de“ auf­ge­grif­fen. Da die dor­ti­gen Frei­re­li­giö­sen aber frei­den­ke­risch blei­ben woll­ten, ent­stand eine selb­stän­di­ge „Huma­nis­ten­ge­mein­de“, übri­gens mit einem gro­ßen Anteil säku­la­rer Juden. Specht ver­öf­fent­lich­te 1888 – sie­ben Jah­re nach sei­ner Grund­satz­re­de vor dem Kon­gress des DFB – in der Nr. 37 von „Men­schent­hum“ die „Grund­sät­ze“ die­ser Huma­nis­ti­schen Gemein­de, aus der 1892 die bedeu­ten­de „Deut­sche Gesell­schaft für Ethi­sche Kul­tur“ (DGEK) entstand.

Die Rück­wir­kun­gen die­ser Vor­gän­ge auf Thü­rin­gen sei­en hier kurz und nur pau­schal ange­merkt: Wäh­rend sich ein Gros der Frei­den­ker in Rich­tung Dar­wi­nis­mus beweg­te (Hae­ckel in Jena, „Deut­scher Monis­ten­bund“ 1906 ff.), ein ande­rer sich dem Mar­xis­mus auf­schloss und sozi­al­de­mo­kra­tisch wur­de (die pro­le­ta­ri­schen Frei­den­ker 1908 ff. in Eisen­ach), ent­fal­te­te die DGEK einen brei­ten­wir­sa­men „prak­ti­schen Huma­nis­mus“, der in den Ein­rich­tun­gen von Ernst Abbe in Jena und anders­wo zu besich­ti­gen ist.

In dem im vor­lie­gen­den Buch doku­men­tier­ten Rede­ma­nu­skript von Wal­traud Roth (DFV, Sitz Dort­mund, Gotha 2008, S. 40–47) wer­den eini­ge Streit­punk­te der 1920er Jah­re in der Frei­den­ke­rei dis­ku­tiert, die eine Kul­tur­be­we­gung am Schei­de­weg zei­gen. Aber weder wird in dem Text auf die ethi­schen Huma­nis­ten ein­ge­gan­gen, die 1893 und 1906 in Eisen­ach gro­ße inter­na­tio­na­le Kon­fe­ren­zen durch­führ­ten, noch auf den „prak­ti­schen Huma­nis­mus“ der­je­ni­gen Frei­den­ker­or­ga­ni­sa­ti­on, die 1926 in Thü­rin­gen „Kör­per­schaft des öffent­li­chen Rechts“ wur­de, die „Gemein­schaft pro­le­ta­ri­scher Frei­den­ker, Wirt­schafts­ge­biet Thü­rin­gen (G. p. F.)“.

Die­se Orga­ni­sa­ti­on wur­de zum legi­ti­mier­ten Ver­hand­lungs­trä­ger dem Unter­richts­mi­nis­te­ri­um gegen­über, und zwar der­je­ni­gen Akteu­re, die sich für „welt­li­che Schu­len“ und „Lebens­kun­de“ statt Reli­gi­on in der Schu­le ein­setz­ten. Am 2. Juni des glei­chen Jah­res 1926 wur­den „Vor­läu­fi­ge Richt­li­ni­en für den lebens­kund­li­chen Unter­richt“ ver­ein­bart, somit die ers­te offi­zi­el­le Abma­chung und Aner­ken­nung eines lebens­kund­li­chen Unter­richts in Thü­rin­gen. Als Trä­ger die­ses Unter­richts soll­te die GpF fun­gie­ren, nach den Mus­tern frei­re­li­giö­ser Ange­bo­te, da ein staat­li­ches Schul­fach in Zei­ten des star­ken Rechts­rucks in Thü­rin­gen nicht durch­setz­bar war.

Die­se sen­sa­tio­nel­le Kör­per­schafts­rech­te­ver­lei­hung in Thü­rin­gen führ­te zu einer brei­ten natio­na­len Debat­te in den frei­den­ke­ri­schen Krei­sen über den wei­te­ren Weg. Sie rief, als auch ande­re Frei­den­ker­ver­bän­de, etwa in Ber­lin-Bran­den­burg und Braun­schweig, ernst­haft über­leg­ten oder schon zur Tat geschrit­ten waren, die­sen Weg zu gehen, die obers­ten Kir­chen­ju­ris­ten auf den Plan. Sie führ­ten am 2.–4. Febru­ar 1931 in Jena eine stra­te­gi­sche Kon­fe­renz durch.

Auf Basis eines Refe­ra­tes von Ober­kon­sis­to­ri­al­rat Gustavus (Ber­lin, Kir­chen­bun­des­amt) – „Die staats- und kir­chen­recht­li­che Stel­lung des orga­ni­sier­ten Frei­den­ker­tums“ – berie­ten an die fünf­zig Per­so­nen, wie es ver­hin­dert wer­den könn­te, dass das Bei­spiel Thü­rin­gen in Deutsch­land Schu­le macht, etwa durch Rech­te­ver­lei­hung an den Ber­lin-Bran­den­bur­ger DFV. So merk­te Ober­kir­chen­rats­prä­si­dent Tile­mann (Olden­burg) an: „Wird der Ver­band der Frei­den­ker lega­li­siert, nimmt sei­ne Auto­ri­tät in den Augen des Vol­kes zu.“ (Pro­to­koll, S. 7)

Über die­se hoch­ka­rä­tig besetz­te „Refe­ren­ten­be­spre­chung über die Stel­lung der evan­ge­li­schen Kir­che zur Frei­den­ker­be­we­gung“ gibt es eine inter­ne Nie­der­schrift im Archiv des Dia­ko­ni­schen Wer­kes. Dar­in wer­den nahe­zu alle Argu­men­te zusam­men­ge­tra­gen, die auch in Ber­lin im zunächst geschei­ter­ten Antrag des HVD in den 1990er Jah­ren Anwen­dung fan­den (beson­ders Gewähr der Dau­er und Mitgliederzahlen).

Beson­ders inter­es­sant ist das Fazit, das Kir­chen­prä­si­dent Veit (Mün­chen) am Ende der Sit­zung zieht, näm­lich dass es kei­ne recht­li­chen Mög­lich­kei­ten gebe, den befürch­te­ten Vor­gang zu ver­hin­dern, der auf der Anwen­dung des Gleich­be­hand­lungs­ar­ti­kels 137,7 der Reichs­ver­fas­sung beru­he. Man müs­se also alles tun, damit die Kir­che „ihren Ein­fluß auf die ent­schei­den­den Krei­se gel­tend“ macht, auch mehr „unof­fi­zi­ell [das Wort ist unter­stri­chen, HG] durch Beein­flus­sung der Krei­se des par­la­men­ta­ri­schen und öffent­li­chen Lebens“. Wenn dies nicht gelin­ge, wer­de man Rechts­mit­tel ein­le­gen. (vgl. S. 8)

War­um hier die­ser län­ge­re Ein­schub? Die Kir­chen­leu­te befürch­te­ten den mög­li­chen Erfolg refor­ma­to­ri­scher Kräf­te im DFV gegen die (nicht nur ultra­lin­ken) Säku­la­ris­ten unter den Frei­den­kern. Dabei spiel­te in den Debat­ten die­ser Kir­chen­run­de eine wich­ti­ge Rol­le, dass die Ver­fech­ter der KdÖR-Rech­te unter den Frei­den­kern nicht zur kom­mu­nis­ti­schen IfA („Inter­es­sen­ge­mein­schaft für Arbei­ter­kul­tur“, 1929 gegrün­det) gehör­ten, weder die des DFV in Ber­lin-Bran­den­burg, noch die der GpF in Thü­rin­gen (S. 4). Die­ser gän­gi­ge Vor­wurf fiel also weg. Aber: Die Refor­mer im DFV gerie­ten unter dop­pel­ten Beschuss, von innen und von außen.

Vor Ort zeig­te die­se Spal­tung der Frei­den­ker eine ver­hee­ren­de Wir­kung. Das ver­deut­licht der sehr infor­ma­ti­ve Bericht von Gün­ter Schwa­de im Krebs-Buch (S. 55–70) „Zur Geschich­te der Erfur­ter Frei­den­ker“. Der Text geht aber lei­der nicht aus­führ­li­cher dar­auf ein, auch nicht sein anschlie­ßen­der, viel Neu­es brin­gen­der (eben­so unda­tier­ter) Bericht: „Wer­den und Ende der welt­li­chen Schu­le in Erfurt“ (S. 71–75). Die Begrün­dun­gen des Schei­terns (nur „Sam­mel­klas­sen“ mög­lich; kei­ne Leh­rer) sind nach­voll­zieh­bar, ent­spra­chen der dama­li­gen Rechts­la­ge, auch wenn die­se kon­ser­va­tiv inter­pre­tiert wurde.

Die von Schwa­de geschil­der­te Ver­le­gung von vier „Sam­mel­klas­sen“ der Luther­schu­le in die Tal­schu­le ab 1.4.1929 wirft eini­ge Fra­gen auf, näm­lich inwie­fern hier wirk­lich noch an eine „welt­li­che Schu­le“ (offi­zi­el­ler Name sowie­so „Sam­mel­schu­le“) gedacht wer­den konn­te, ob dies eine Eltern­in­ter­pre­ta­ti­on war, wor­in deren wirk­li­cher Sta­tus bestand, was „beruf­bil­d­en­de Funk­ti­on“ bedeu­te­te (kei­ne „Volks­schu­le“, son­dern eher eine [erlaub­te] „Ver­suchs­schu­le“?) und wer im Bil­dungs­mi­nis­te­ri­um die Geneh­mi­gung erteil­te im Rah­men der ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Schul­or­ga­ni­sa­ti­on Thü­rin­gens (Bekennt­nis- oder Simultanschul-System).

Die refor­me­ri­sche kul­tur­po­li­ti­sche Ten­denz in der GpF gilt der Autorin Roth noch 2008 als spal­te­risch (vgl. S. 45 f.). Das Zer­würf­nis wird in ihrem Text beschrie­ben, aller­dings mit fal­scher Schuld­zu­wei­sung, denn die KPD hat­te erst Oppo­si­ti­ons­grup­pen (auch im DFV) und dann Son­der­or­ga­ni­sa­ti­on gebil­det, die sich in der IfA ver­sam­mel­ten, die der SPD „Sozi­al­fa­schis­mus“ (Sino­wjes 1924, spä­ter von Sta­lin über­nom­men) vor­warf und schließ­lich die Arbei­ter­kul­tur­be­we­gung spal­te­te, auch die der Freidenker.

Roth legt in ihrer Geschichts­dar­stel­lung das Schwer­ge­wicht auf die Sei­te von Wal­ter und Anna Lin­de­mann, spä­te­ren Akteu­ren der IfA. Bei­de Autoren hät­ten einen „Lenin­schen Theo­rie­an­satz“ gehabt (S. 44). Krebs gibt dem Kon­zept der Lin­de­manns (1926 erst­mals erschie­nen) umfäng­lich Raum und ver­weist rich­tig dar­auf, dass Trotz­ki („Fra­gen des All­tags­le­bens. Die Epo­che der ‘Kul­tur­ar­beit’ und ihre Auf­ga­ben“, 1923) der eigent­li­che Kon­zept­ver­ur­sa­cher war. Krebs gibt eine posi­ti­ve Inter­pre­ta­ti­on die­ser Schrift bei­der Lin­de­manns unter Ein­be­zug der Erklä­run­gen von Hen­ning Eich­berg in der Aus­ga­be von 1981.

Bei­de Lin­de­manns ver­tra­ten ein Pro­gramm vom Sozia­lis­mus als einer Kul­tur­be­we­gung (vgl. S. 48–54). Es rich­te­te sich 1926 an die gesam­te Frei­den­ker­be­we­gung, geriet aber nach dem Kurs­wech­sel der KPD 1927 und der Radi­ka­li­sie­rung ihrer Pra­xis ab 1928 in deren Inter­pre­ta­ti­ons­zu­sam­men­hang, beton­te nun stär­ker die kon­se­quen­te Tren­nung von Staat und Kir­che, wozu eine Revo­lu­ti­on nötig sei. (In der SBZ und spä­ter der DDR spiel­ten die Lin­de­manns eine wich­ti­ge Rolle.)

Das vor­lie­gen­de Buch von Sieg­fried R. Krebs bie­tet viel Dis­kus­si­ons­stoff. Dazu ein Bei­spiel: Den Frei­den­kern wur­de von den Lin­de­manns die Auf­ga­be gestellt, für Arbei­ter ein „Gemein­schafts­le­ben“ von der Wie­ge bis zur Bah­re zu ent­fal­ten (S. 45), inklu­si­ve einer eige­nen Fei­er­kul­tur. Doch schon im Ver­lauf der 1920er Jah­re began­nen die pro­le­ta­ri­schen Milieus (mit ihrer sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Kul­tur) sich auf­zu­lö­sen, ein Vor­gang, der sich beson­ders in den 1970er Jah­ren unter ande­rem per Mas­sen­kul­tur durch­setz­te und damit der alten Frei­den­ke­rei (inklu­si­ve Frei­re­li­giö­se) die Mas­sen­ba­sis ent­zog. Noch immer wird das Ende der Frei­den­ke­rei meist auf die Ver­bo­te durch den Natio­nal­so­zia­lis­mus 1933 zurück­ge­führt. Doch war dies nur ein Fak­tor, wenn auch ein gewichtiger.

Der wirk­li­che Neu­an­satz in der Frei­den­ke­rei lag in der oben ange­deu­te­ten refor­me­ri­schen Rich­tung. Sie konn­te in den spä­ten 1920ern zu einer Mas­sen­be­we­gung wer­den, weil sie auf Dienst­leis­tun­gen setz­te, weni­ger auf Kir­chen­kampf und „Gemein­schaft“. Die „Bestat­tungs­kas­se“ band die Mit­glie­der. Eine „dis­si­den­ti­sche Für­sor­ge“ stand im Auf­bau. Inwie­fern die­se Über­le­gun­gen bzw. Anfän­ge einer Pra­xis an die­je­ni­ge der DGEK sich anlehn­te oder davon abgrenz­te bedarf noch der his­to­ri­schen Analyse.

Da der Her­aus­ge­ber selbst Autor und his­to­ri­sche Per­son ist, nutzt er die legi­ti­me Gele­gen­heit die­ses Buches, eige­ne Ansich­ten zu publi­zie­ren, indem er die wesent­lich von ihm ver­fass­te Erklä­rung von 2010 (HVD) und einen Vor­trag von 2012 über Lai­zis­mus in die Antho­lo­gie auf­nimmt. Ein span­nen­des Pro­jekt von ihm ist das Kon­zept eines „Huma­nis­ti­schen Stadt­spa­zier­gan­ges Wei­mar“ (S.91–96), das frei­mau­re­ri­sche Orte ein­be­zieht. Am Schluss des Wer­kes stellt der Her­aus­ge­ber Daten, Per­so­nen, Fak­ten der Thü­rin­ger huma­nis­ti­schen und frei­den­ke­ri­schen Sze­ne vor.

Ein streit­ba­rer Umgang mit den vor­lie­gen­den Tex­ten könn­te dazu anre­gen, das The­ma „Frei­den­ker und Kul­tur in Thü­rin­gen“ zu befördern.

Sieg­fried R. Krebs: Frei­den­ker­tum, orga­ni­sier­ter Huma­nis­mus und Lai­zis­mus in Thü­rin­gen. Mit Bei­trä­gen von Wal­traud Roth, Gün­ter Schwa­de und his­to­ri­schen Doku­men­ten. Reut­lin­gen: Ver­lag Frei­heits­baum edi­ti­on Spi­no­za 2020, 107 S., 12 Euro; ISBN 978–3‑922589–77‑8