Nach 47 Jahren kehrte ich aus der Fremde in meine Geburtsstadt Zwickau zurück. Was tut man hier als Rentner, werde ich oft gefragt. Eine Antwort ist: Zeitung lesen. Und da kann man dann nicht aus seiner Haut. Was ich fand, erzählte ich dem hpd im nachfolgenden Interview:
ZWICKAU. (hpd) Der langjährige Präsident des HVD und Direktor der Humanistischen Akademie, Dr. Horst Groschopp, wohnt seit Mai 2013 wieder in seiner Geburtsstadt Zwickau. Im letzten Sommer teilte er der Redaktion in einem anderen Zusammenhang mit, er sammle Ausschnitte der örtlichen Zeitung „Freie Presse“, weil ihm aufgefallen sei, wie selbstverständlich das Blatt Kirchennachrichten bringe, als handle es sich bei dieser Stadt und dem gleichnamigen Landkreis nach wie vor um eine Hochburg des Protestantismus. Wir fragten ihn, was er da eigentlich macht und gefunden hat.
hpd: Der Kulturwissenschaftler Groschopp hat also jeden Tag die Zeitung zerschnipselt wie weiland vor dem Internet.
Dr. Horst Groschopp: So etwa, denn nicht jede kleine Notiz steht auch in der Netzausgabe der „Freien Presse“. So habe ich 2014 jede Ausgabe nach kirchlichen Mitteilungen durchsucht. Nur an 32 Tagen habe ich nichts gefunden, davon fällt ein Drittel in Schulferienzeiten. Also in 273 von 305 Ausgaben erschienen Notizen, ganze Artikel oder mehrere Seiten.
Was ist das überhaupt für ein Blatt?
Die Tageszeitung hat mit einer 260.000er Auflage bei vier Regional- und dann noch 19 Lokalausgaben etwa 650.000 Leser (eine Mehrheit von 345.000 Frauen) und fast das Informationsmonopol. Ganz Westsachsen kommt auf eine Auflage von 56.000, Zwickau auf 26.000. Bei derzeit 91.000 Einwohnern, unter Berücksichtigung von 40 Prozent Einpersonenhaushalten und nur 1,7 Prozent Ausländeranteil, kann man sagen, man erreicht die Hälfte der Leute. Was in der Stadt los ist, erfährt man in der „Freien Presse“.
Was sagt das über den Hang zum Kirchlichen?
330.000, fast die Hälfte der Leser, ist, wie ich, Rentner. Unter dreißig Jahre sind nur etwas über fünf Prozent. Man nimmt wohl an, die Älteren stünden dem Christentum noch näher. Das halte ich für einen Irrtum. Jetzt geht der DDR-Geburtstags-Jahrgang 1949 in Rente, die hatten 1963 Jugendweihe, schon in meiner Schulklasse fast alle. Die Kirchlichkeit nahm rasch ab, auch meine Entscheidung fiel zu dieser Zeit.
Wem gehört die „Freie Presse“?
Zu DDR-Zeiten war das die SED-Zeitung für den Bezirk Karl-Marx-Stadt. Sie ging Dank direkten Eingreifens von Helmut Kohl an der Treuhand vorbei in Ludwigshafener Hände, die dortige „Medien Union“ – ein Kapitel für sich. Der Milliardär Dieter Schaub, Platz 95 der reichsten Deutschen, ist mit seiner Familie der Haupteigner. Er begann 1945 mit der „Rheinpfalz“. Kirchlich gesehen ist er Katholik.
Was hat denn die Lektüre der „Freien Presse“ ergeben?
Ich bin noch am Anfang der Auswertung. Die Publikationsform ist noch nicht entschieden. So kann ich hier nur einige Eindrücke wiedergeben. Vor allem den, dass bei der Leserschaft eine selbstverständliche Nähe zur Kirchlichkeit hergestellt werden soll, irgendwie eine Rückführung der verlorenen Schafe. Der Leser auf Du und Du mit dem christlichen Gemeinschaftsgeschehen.
Dabei ist Zwickau wie ganz Sachsen in der absoluten Mehrheit „konfessionslos“, Tendenz zunehmend. Darüber wird durchaus in der „Freien Presse“ sachlich berichtet, allerdings in Kontrast zu dem Sonstigen. Am 25. Juni ging es um eine „Austrittswelle in Sachsen“. „2013 traten 4.500 Mitglieder aus der Evangelischen-lutherischen Landeskirche aus, 2014 werden es allein im ersten Halbjahr deutlich über 5000 sein.“ Man nennt die verlorenen Mitglieder übrigens „Abkehrer“.
Am 20. November wird das Desaster noch klarer. „Kirchen erleben Austrittswelle wie zuletzt nach der Wende.“ „Fast 150.000 Sachsen sind seit 1995 aus der Kirche ausgetreten. … Ihre Mitgliederzahl verringerte sich bis Ende 2013 um 31 Prozent auf knapp 805.000. Rund 17.500 Austritte wurden in den sächsischen Teilen der katholischen Bistümer gezählt. Sie verloren damit knapp 21 Prozent und zählten Ende vergangenen Jahres noch reichlich 150.000 ‘Schäfchen’“.
Da muss man allerdings hinzufügen, dass diese staatlich geförderte Minderheitengruppe von 150.000 sächsisch-katholischen „Schäfchen“ immerhin sieben Privatschulen unterhält plus drei eigene Gymnasien, eines davon in Zwickau. Die Protestanten haben 46 Schulen plus acht Gymnasien.
Was ist der Beleg für die These von der Rückführung mit Hilfe der „Freien Presse“?
Es wird so getan, als sei es von allgemeinem Interesse, wenn ein neuer Pfarrer oder Kantor oder sonst irgendein Kirchenfunktionär seinen Dienst aufnimmt oder aufgibt. Wöchentlich werden von allen etwa dreißig städtischen Kirchengemeinden, inklusive von den drei katholischen, fünf Freikirchen und zwei neuapostolischen, die Gottesdiensttermine gedruckt, auch von den „Freien Baptisten“ und den „Zeugen Jehovas“. Das steht neben der Arzt- und Apothekenbereitschaft, was sehr nützlich ist.
Viel wird für die christliche Bildung getan, von „Was ist Allerheiligen“ bis Heiligenerklärung anhand von Kunstwerken. Nahezu jedes Konzert – „Barockes erklingt in der Dorfkirche“, „Unterm Kirchturm klingt es klassisch“, „Kammervirtuose spielt im Pfarrhaus“, „Singekreis musiziert in der Kirche“ wird als kulturell wichtiges Ereignis vorgestellt und erhält mindestens eine Notiz. Ich vermute, diese Werbung und die Logistikhilfe bei den Gottesdiensten sind kostenfrei.
Daneben finden sich Berichte über Telefonseelsorge, Sternsinger, ein Bibel-Abschreibprojekt, Ratespiele zu Kirchtürmen, Katholikentag, Papst Franziskus und viele andere kirchliche Themen. Viel ist zu lesen über das gute Wirken der Stadtmission, den ökumenischen Hospizdienst. Zur Jugendweihe dagegen nur etwas über Jugendmoden, dafür mehr über Konfirmanden, etwa „Konfirmanden backen Brot“.
Was war denn 2014 das Highlight?
Das war ein Eigentor. Am 4. Februar wird unter der Schlagzeile „Promi-Friseur dementiert Nähe zu Scientology“ gemeldet, dass der „Sektenbeauftragte der Kirche“ „umstrittene Managementkurse“ einer privaten Ausbildungsakademie der Luxusfriseure prüft. Er teilt mit, schon 2011 hätten sich deswegen drei (!) Personen an ihn gewandt.
Was gehen solche Kurse einen Kirchenbeamten an, zumal er hier parteiisch ist? Die kritisierten Methoden sind allgemein üblich. Wer einmal Herrn Maschmeier predigen hörte beim Aufschwatzen seiner Versicherungspolicen, wird diese Nähe leicht erkennen.
Jedenfalls nimmt der Haarschneider-„Skandal“ Fahrt auf und drei Wochen später ist zu lesen, die „Sektenexpertin“ und „Scientology-Jägerin“ Ursula Caberta werde eingeschaltet. Sie sagt: „Nun kümmere ich mich um den Laden …“. Anfang April arbeitet sie an einem Filmdrehbuch zum Thema. Die „Top-Stylisten“ rücken zunächst ihre Unterlagen nicht heraus, warum auch. Am 25. Februar steht in der Zeitung, dass die beiden Sektenbeauftragten zurücktreten und von der Friseurgemeinschaft durch zwei renommierte Religionswissenschaftler ersetzt werden, die im April mitteilen, sie brauchen mehr Zeit.
Der Sektenmann arbeitet indessen unverdrossen weiter, findet zwanzig „Opfer“ und das Ganze wird zu einer Posse (1. März), als ein geschiedener Ehemann den Streit nutzt, seine Frau anzuschwärzen. Man fragt sogar bei Scientology an (7. März), ob der Organisator der Schulung, ein Herr Huber, Mitglied sei. Der lässt in der Schweiz seine Anwältin von der Leine.
Der ausgeschaltete Sektenbeauftragte legt Ende März seinerseits nach. Doch Mitte Mai endlich liegt der Kommissionsbericht vor und die „Freie Presse“ berichtet: „Prüfer halten Sektenvorwürfe für unbegründet“. Der kirchliche Sektenuntersuchungschef interpretiert den Vorgang anders.
Von der „Freien Presse“ kommt danach keine Selbstkritik zu ihrer Beförderung der Sektenhysterie. Dafür wird über Adventisten, einen Prana-Vortrag, den Jugendkreis „Entschieden für Christus“, „Stadtlicht-Kirche“ … informiert, als wäre da nicht dies oder das problematisch.
Gab es auch positive Überraschungen?
Ja, ausgerechnet zur Lutherdekade. Während ansonsten eher Selbstlob der evangelischen Landeskirche zu lesen ist oder über solche Sachen berichtet wird wie „Luthers Gattin führt durch die Stadt“ (mehrfach mit und ohne Bild), „Was Luther und Hoeneß trennt“, „Luther-Snowden-Vergleich“, „Unterwegs auf Luthers Spuren“ oder „Luther aß keine Kartoffelpuffer“, war der Bericht von Eva Prase über die Lutherkonferenz im Deutschen Historischen Museum mit der Überschrift „Wissenschaftler wollen Bild von Luther geraderücken“ am 30. Oktober und die beiliegende Wochenendbeilage „Der Anschlag“ auffallend anders, durchaus kritisch ausgewogen, wozu es dann am 12. November im Leserforum einige Zustimmung und harsche Kritik gibt.
Gab es auch unfreiwillige Komik?
Jede Menge, wenn man dafür empfänglich ist. Etwa wenn gemeldet wird, „Experte hält Vortrag“ und das ist dann „Was göttliche Weisheit uns nützt“, ein Vortrag bei den Zeugen Jehovas, oder, ganz anders gelagert unter der Überschrift „Kriminalität“: „Kirchenbesucher büßt Navi ein“ oder „Pfarrer fahndet nach Wasserdieben“. Nicht zu übertreffen ist „Bei Karnevalisten ist Schluss mit lustig“, ein Bericht über eine Krise im Zwickauer Katholischen Faschingsverein.
Was es alles gibt … kommen auch Freidenker vor?
Nein, so etwas gibt es hier nicht, schon gar nicht in der „Freien Presse“. Aber auf etwas Spannendes will ich verweisen. In Zwickau und in ganz Sachsen lodern regelmäßig dreimal jährlich symbolische Flammen und es kommen dazu Notizen in die Presse. Es gibt Neujahrsfeuer, da werden Tannenbäume öffentlich verbrannt. Dann heißt es auch, die „Christbäume“ brennen.
Zu Walpurgis brennen die Hexen in Zwickau 2014 an 69 Orten und die „Freie Presse“ listet sie auf ihrer Homepage auf. Und, wenn man so will, zum Humanistentag leuchten spät abends die Sonnenwendfeuer. Es gibt hier also viel Heidnisches und viel öffentliche Müllverbrennung. Sonst darf man etwa die Gartenabfälle nicht verbrennen.
Ja, wir Sachsen sind „fischelant“. Das kommt zwar vom französischen Wort „vigilant“, was eigentlich wachsam heißt, aber wir haben es umgedeutet in „schlau eine Chance entdecken und nutzen“.
Bild: Walpurgisfeuer, 30. 04. 2014, Flugplatz Zwickau,
© Claudia Buchmann
Zwickau am 16. Januar 2015