Eduard Bernstein

(geb. 6. Janu­ar 1850 in Ber­lin; gest. 18. Dezem­ber 1932 in Berlin)

Theo­re­ti­ker der Arbei­ter­be­we­gung und Begrün­der des „Revi­sio­nis­mus“ durch sei­ne Kern­the­se: Die Bewe­gung ist alles – das End­ziel ist (mir) nichts. Die­ser per­sön­li­che Bezug („mir“) fehlt in den meis­ten Kol­por­ta­gen die­ses Spru­ches, ist aber für die damals nicht nur in der Arbei­ter­be­we­gung unüb­li­che Beto­nung der indi­vi­du­el­len Sicht­wei­se – eines Merk­mals des moder­nen Huma­nis­mus – von gro­ßer Bedeutung.

In einem jüdi­schen Haus­halt als Sohn eines Klemp­ners und Loko­mo­tiv­füh­rers auf­ge­wach­sen; Gym­na­si­um in Ber­lin; 1866/70 kauf­män­ni­sche Leh­re im Bank­ge­schäft; seit 1871 Mit­glied der SDAP; ab 1872 Bekannt­schaft mit den Leh­ren von Karl Marx und Fer­di­nand Lass­alle; beein­flusst durch die Schrif­ten des ethi­schen Sozia­lis­ten Eugen Düh­ring, des anar­chis­tisch-frei­den­ke­ri­schen Johann Most und (spä­ter) des deut­schen Natio­nal­öko­no­men Georg von Schul­ze-Gäver­nitz. Bern­stein wird 1878 lite­ra­ri­scher Sekre­tär bei Karl Höch­berg in Zürich.

Dort lei­tet er 1881/90 das zen­tra­le Exil­or­gan „Sozi­al­de­mo­krat“ und gibt hier und Lon­don mar­xis­ti­sche Kur­se. In die­ser Zeit (mit Karl Kaut­sky) der bekann­tes­te Autor des Mar­xis­mus und viel­sei­ti­ger Publi­zist; beein­druckt von der eng­li­schen Arbei­ter­be­we­gung sowie den Schrif­ten des; ab 1896 Auf­sät­ze in der „Neu­en Zeit“ (NZ, dem theo­re­ti­schen Organ der SPD) „Pro­ble­me des Sozia­lis­mus“. Dar­aus for­mu­liert er 1899 eine Zusam­men­fas­sung in sei­nem Haupt­werk „Die Vor­aus­set­zun­gen des Sozia­lis­mus und die Auf­ga­ben der Sozi­al­de­mo­kra­tie“. Wegen sei­ner evo­lu­tio­nä­ren Sozia­lis­mus­vor­stel­lun­gen schied er unmit­tel­bar 1899 nach der Publi­ka­ti­on aus dem Mit­ar­bei­ter­kreis der NZ aus, die sich eher revo­lu­tio­när (im dama­li­gen Ver­ständ­nis) begriff. Er wird zum wich­tigs­ten Autor (bis 1914) der „Sozia­lis­ti­schen Monats­hef­te“. Sei­ne Schrif­ten in die­ser Zeit zeu­gen von einer guten Kennt­nis des dama­li­gen deut­schen wie eng­li­schen ethi­schen Humanismus.

1901 Rück­kehr nach Deutsch­land und Grün­dung der Monats­schrift „Doku­men­te des Sozia­lis­mus“, die er bis 1905 her­aus­gab. Publi­ka­tio­nen in sozia­lis­ti­schen Zeit­schrif­ten Eng­lands, Frank­reichs, Hol­lands, Öster­reich und den USA. Zwi­schen 1907 und 1910 erscheint in 3 Bän­den sei­ne umfäng­lich recher­chier­te und glän­zend geschrie­be­ne „Geschich­te der Ber­li­ner Arbei­ter­be­we­gung“, eine sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Stu­die, die ohne Bezug auf Reli­gi­on aus­kommt. Die­sem Werk folgt 1910 die ers­te kul­tur­ge­schicht­li­che Betrach­tung der „Arbei­ter­be­we­gung“ (Frank­furt a.M. 1910) und die (gemein­sam mit August Bebel) die Her­aus­ga­be des Brief­wech­sels 1844–1883 von Marx und Engels (Stutt­gart 1913), außer­dem Lass­al­les „Inti­me Brie­fe an Eltern und Schwes­ter“ (Ber­lin 1905) sowie des­sen „Gesam­mel­te Wer­ke“ (12 Bde, Ber­lin 1919–20).

Ab 1006 lehr­te Bern­stein an der Gewerk­schafts­schu­le in Ber­lin; stimm­te 1914 für, 1915 gegen die Kriegs­kre­di­te (ohne sich jedoch wie die Lin­ken Karl Lieb­knecht und Otto Rüh­le von der SPD-Füh­rung zu distan­zie­ren). 1917/19 Mit­glied der USPD, seit 1919 wie­der der SPD. Er setz­te sich wäh­rend der Novem­ber­re­vo­lu­ti­on für eine Natio­nal­ver­samm­lung ein; wird 1920/21 Mit­ver­fas­ser des „Gör­lit­zer Pro­gramms“ der SPD; wird stark gelobt wie von ganz links außen ange­fein­det wegen sei­ner Angrif­fe auf den Leni­nis­mus und die von ihm so genann­te bol­sche­wis­ti­sche Abart des Sozia­lis­mus; MdR bis 1928.

Die Dis­kus­si­on über das End­ziel der Bewe­gung ist auch für den orga­ni­sier­ten Huma­nis­ten bis heu­te wich­tig. Sei­ne Bern­steins The­se war der Ver­such, den geschicht­li­chen Stand­ort und die Dau­er der Eman­zi­pa­ti­on einer sozia­len Klas­se kul­tu­rell zu bestim­men, was zu sei­ner Zeit nur weni­ge ver­ste­hen konn­ten. Sie wur­de ledig­lich als Kor­rek­tur der zeit­ge­nös­si­schen Auf­fas­sung vom Sozia­lis­mus gese­hen (etwa Marx’ „Kri­tik des Gotha­er Pro­gramms“, in: MEW Bd. 19). Bern­stein waren dies uto­pi­sche Zie­le in der Arbei­ter­be­we­gung, die er als „Klas­sen­ro­man­tik“ (in: „Der Strom“, 1912, H.7, Ndr. in: Text­aus­ga­ben, Bd. 27). Sich abhe­bend vom frei­den­ke­risch-frei­re­li­giö­sen Ber­li­ner Sozia­lis­ten Bru­no Wil­le fass­te er dar­un­ter auch Kon­zep­te, die auf eine eige­ne pro­le­ta­ri­sche Kunst ori­en­tier­ten. Stär­ke und Auf­ga­ben der Arbei­ter lägen auf ande­ren Fel­dern und Gebie­ten. Mit Ein­schrän­kun­gen bezüg­lich der Archi­tek­tur sah Bern­stein mit dem Pro­le­ta­ri­at kei­ne neue Ära der Kunst empor­stei­gen und in ihm kein beson­de­res Kunst­ver­ständ­nis reifen.

Bern­stein teil­te damit in der Arbei­ter­be­we­gung damals fest ver­wur­zel­te Ansich­ten über Kunst und Pro­le­ta­ri­at. Er war vor allem der Mei­nung, dass die pro­gres­si­ve öko­no­mi­sche, sozia­le und kul­tu­rel­le Ent­wick­lung des Kapi­ta­lis­mus noch lan­ge fort­daue­re und der Kon­zen­tra­ti­ons­pro­zess des Kapi­tals und die Ver­ge­sell­schaf­tung der Arbeit sich erst am Anfang befän­den. Die von Marx und Engels vor­aus­ge­sag­te angeb­lich schnel­le Pro­le­ta­ri­sie­rung und damit Ver­elen­dung der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung wäre aus­ge­blie­ben, die­ser Pro­zess sei sogar rück­läu­fig. Dies erfor­de­re neue Überlegungen.

Dar­aus fol­ger­te er, dass das Pro­le­ta­ri­at nicht revo­lu­tio­nä­rer wer­de, son­dern ver­bür­ger­li­che als Fol­ge der Auf­wärts­be­we­gung der Lohn­ar­bei­ter. Die Arbei­ter­aris­to­kra­tie erhe­be sich als ers­te Schicht des Pro­le­ta­ri­ats in den Mit­tel­stand und die Zwi­schen­schich­ten (Gewer­be, Han­del, Ver­wal­tung) wüch­sen wegen der Sta­bi­li­tät der Klein­be­trie­be, der zuneh­men­den Arbeits­tei­lung und des nur all­mäh­li­chen Vor­marschs der Trusts und Kar­tel­le. Sie wür­den also nicht „ver­nich­tet“, wie K. Kaut­sky und W. Lieb­knecht pro­phe­zeit hätten.

Für eine moder­ne Huma­nis­mus-Theo­rie inter­es­sant sind auch Bern­steins The­sen über Sozia­lis­mus als eine Sache des Wil­lens und nicht allein der öko­no­mi­schen und sozia­len (gesetz­mä­ßi­gen) Ent­wick­lung. Unter Beru­fung auf Marx’ Theo­rien über den Mehr­wert war für Bern­stein die stän­di­ge Repro­duk­ti­on der pro­le­ta­ri­schen Klas­sen­be­find­lich­keit kei­nes­wegs öko­no­misch beweis­bar und dem­zu­fol­ge auch nicht durch grund­le­gen­de sozi­al­öko­no­mi­sche Wand­lun­gen ver­än­der­bar. Unter Kon­ti­nui­tät des Lohn­ar­bei­ter­sta­tus sei die kul­tu­rel­le Grund­si­tua­ti­on der Arbei­ter durch jede Reform, und zwar immer ein Stück näher in den Sozia­lis­mus hin­ein, verbesserbar.

Das von Bern­stein aus die­sen Annah­men abge­lei­te­te poli­ti­sche Pro­gramm rich­te­te sich an die Arbei­ter als Gewerk­schaf­ter. Genos­sen­schaf­ter. Wäh­ler und als kom­mu­nal inter­es­sier­te Bür­ger. Bern­stein sprach sich gegen jede gewalt­sa­me pro­le­ta­ri­sche Revo­lu­ti­on aus (Vor­wurf des Blanquismus).

Kul­tur­po­li­tisch ver­trat Bern­stein kein aus­ge­form­tes Pro­gramm, son­dern beweg­te sich inner­halb des refor­me­ri­schen Kon­zepts kul­tu­rel­ler „Ver­ede­lung“ der Arbei­ter, das die zeit­ge­nös­si­sche Bil­dungs- und Kunst­po­li­tik in der deut­schen Arbei­ter­be­we­gung präg­te. Es erstreb­te den bedürf­nis­rei­chen, auf­ge­klär­ten und mit­be­stim­men­den Pro­le­ta­ri­er ohne grund­sätz­li­che Ände­rung der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se, aller­dings unter Ein­füh­rung demo­kra­tisch ver­fass­ter Zustände.

 

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