Beobachtungen
Wir Sachsen hatten am 21. November 2018 unseren „Bett-Tag“. Wir sind die einzigen Deutschen, die sich Jahr für Jahr für durchschnittlich achtzig Euronen pro Steuerzahler einen Feiertag kaufen. Den hat der Biedenkopf ausgehandelt gegen mehr Einzahlungen von jedem von uns in die Pflegekasse, prozentual nach Einkommen vor Steuern. Wir feiern und zahlen lieber. Wir wollen an einem Tag, immer einem Mittwoch, also mitten in der Woche, nicht arbeiten, wo alle andren es müssen. Wir leisten uns in einem kirchenfernen Land einen Buß- und Bettag nach dem Volkstrauertag, an dem wir in der Heimat die Toten der Kriege in der Fremde beklagen, und dem Totensonntag, wo wir in der Heimat der Toten von Daheim gedenken – was für ein Zeichen in die Welt.
Der ursprünglich evangelische Feiertag geht auf Notzeiten zurück, in denen durch Glaubensbesinnung und Reue auf Umkehr gehofft wurde. Die Zeiten, wo wir verzichten mussten, sind seit dem Anschluss vorbei – und wir sind frei, so ungebunden, dass wir uns den Frei-Tag geben konnten, obwohl er zu den „belasteten“ Feiertagen gehört. Er wurde Anfang 1934 als gesetzlicher Feiertag im Deutschen-Nazireich eingeführt. In Deutschlands Osten war er die ganze Zeit weg, aber 1990 wieder eingeführt, um dann 1995 bundesweit abgeschafft zu werden, der Pflegeversicherung wegen – aber wir Sachsen haben ihn 1995 behalten. Er wurde wahrlich zum „Sachsentag“.
Wir Sachsen haben mal frei, machen blau und können in Ruhe in Brandenburg oder Thüringen für Weihnachten einkaufen oder zu den „Vietschies“ nach Johannstadt fahren, auf „Tschechenmarkt“ hinüberwandeln oder in andere böhmische oder schlesische Orte. Dort können wir dann zollfrei Zigaretten kaufen oder andre Sachen, die woanders Markenwaren sind. Das schmiedet uns zusammen, trägt zur Gemeinschaftsbildung der Sachsen bei, erzeugt Heimatbewusstsein. Das ist ein schöner Anlass, über Heimat nachzudenken.
Bevor wir das tun, wollen wir uns auf den großen Beförderer alles Sächsisch-Heimatlichen besinnen, der seit Beginn des Ersten Weltkrieges bis in die DDR hinein, also über vier Systeme hinweg, ein tatkräftiger und des treffenden Wortes mächtiger Heimatschutzbündler war, der Heimatkunst und Heimatgefühl nicht einfach nur bestärkte, sondern viel davon erfand. Er hat sogar bewiesen, dass es ein „Sächsisches Lachen“ (1926) gibt.
Es handelt sich um den Sänger des vogtländisch-sächsischen „Mutterlandes“ von 1914, dass es zu verteidigen galt, den Sammler von Weihnachtsgeschichten, des Erzählers über Stülpner Karl, den „Sohn der Wälder“, den Robert Schumann und Bach und Händel und Seume, alles berühmte Sachsen, wie wir nun wissen, über die er gut gängige Roman-Biographien schrieb.
In der Geschichte des Historienromans hat er seinen festen Platz, aber auch als NS-Autor eines anti-tschechischen Volksstückes im Vorfeld der Heimholung der Sudeten ins Reich, ab 1935 ein paar Jahre lang aufgeführt vor der Kirche in Schneeberg. Das „Spiel vom getreuen Horlemann“ galt offiziell als theatralische Umsetzung des NSDAP-Parteitages der „Treue“ von 1934 in einem Heimatstück. Dies und seine Verdienste um die Heimat waren wohl auch die Ursache, dass sein Kopf in Kupfer gegossen und in München auf der Großen Deutschen Kunstschau 1944 als Objekt 1033 ausgestellt wurde. Von dort kam der „Nischel“ nach Bautzen und harrt dort im Archiv, auf dass er bald als Großer Sachse in eine Galerie kommt.
Hier ist unbedingt einzufügen, dass sich der NS-Gauleiter Martin Mutschmann und seine Partei zwölf Jahre lang sehr verdient gemacht haben bei der Pflege des sächsischen Heimatgefühls und der schöpferischen Weiterentwicklung des hiesigen Brauchtums, nicht zurückschreckend vor neuen Weisheiten über die Theorie des Tannenbaums und Lesarten des Klöppelns, Schnitzens und der Bergparaden, die in der DDR gern, neu erklärt, übernommen wurden, eben wegen des Heimatgedankens in uranschwerer Zeit, aber auch wegen der nichtchristlichen Symbolik.
Der, um den es hier geht, dem wir verdanken zu wissen, was unsere Heimat ist, war Balladendichter, Dramatiker, Heimatfachbuchredakteur (der Zeitschrift „Sächsische Heimat“), Herausgeber, Sammler von Volkskunst (in Dresden 1945 durch Bomben zerstört), Schriftsteller und Radio-Pionier erst beim Heimatfunk des Nebensenders Dresden und dann in der Schulfunkabteilung des Mitteldeutschen Rundfunks. Aber trotz NSDAP-Mitgliedschaft entließen ihn die Nationalsozialisten 1933, weshalb er 1945 als nicht belastet galt, rasch entnazifiziert wurde, dann auch in der DDR viel publizierte und sich im Kulturbund der Heimat widmete.
Dieser Kurt Arnold Findeisen (Pseudonym: Wendelin Dudelsack) wurde 1883 im gleichen Zimmer im gleichen Haus wie ich dann später 1949 geboren. Er starb 1963 in Dresden. Es hängt eine Tafel an seinem (und meinem) Geburtshaus, die ihn als „Dichter des Sachsenlandes“ würdigt. Sein Leitspruch war: „Die Heimat ist das Herz der Welt“. Von wem kann man schon sagen, er habe sich sein Leben lang der Heimat gewidmet? Es war immer dieselbe. Wenn ich in der Parkstraße 3 auch einmal eine Tafel will, muss ich wohl oder übel der Heimat dienen; vielleicht: Im Humanismus war der Horst daheim.
Wenn ich zu diesen Behufen auf die lange Publikationsliste über „Sachsen als Heimat“ einen Blick werfe und ich mich umschaue in aktuellen Äußerungen von „Kulturauffassung“, dann ist Heimat vor allem eine Sehnsucht. Danach hat man „Heimweh“, wie Findeisen 1925 schrieb („Heimat und Heimweh“). Und wie jede Begierde, gleich dem Alkohol oder dem Morphium, braucht sie zur Befriedigung einen bestimmten Stoff, der in uns chemische Prozesse auslöst, die das psychische Erlebnis von Glück herbeiführen helfen. Glück selbst ist ein seltenes Gut, was die Begierde danach steigert.
Das hat nicht sehr viel mit Beheimatung zu tun. Ich war 45 Jahre in Berlin gut beheimatet, meine Heimat blieb Zwickau: die Herkunft mit ihren Klängen, Speisen und Gerüchen und den frühkindlichen und jugendlichen Prägungen. Doch seit ich wieder hier bin, fühle ich mich heimatlos, denn die Welt ist eine andere geworden. Bestimmte Gerüche sind einfach weg, besonders der Koksqualm vom „VEB August Bebel“, auf dessen Grund und Boden, dem „Glückauf-Gelände“, heute „Porta“ und „OBI“ stehen sowie der „Globus-Einkaufsmarkt“, wo es am Eingang nach Rostbratwurst riecht, der guten aus Thüringen.
Viel Heimat ist also verschwunden. Es wird aber heimatlich, wenn „Trabanten“ vorbeifahren, kein Wunder, dass hier mehr als anderswo herumrattern, die wurden hier gebaut. Auch die Simson-Suhl-Mopedfans treffen sich hier Jahr um Jahr, was für ein Lärm und was für Massen an Menschen.
Fremd vorkommen mir die Leute, ihre Sensationen des Alltags, von denen sie immerfort erzählen, besonders diejenigen, die hier nie herausgekommen sind. Das fällt bei den alljährlichen Klassentreffen auf: Sie sind herzlich und ganz selbstverständlich beheimatet; das Tradierte, die Sprache, die Witze und die Art, sie zu erzählen, erinnern an früher. Sie waren meist mal auf Teneriffa oder diversen Reisen weit in die Fremde. Davon erzählen sie gern. Es bestätigt ihre Heimatgefühle, besonders wenn es dort im Hotel mal Grüne Klöße („Griene Klies“) gab: „Daheeme is daheeme“, „dr G‘schmagg daheeme is enfach annersch, besonners dr Gafee“.
Meine Generation ist zu einem tiefen Heimatgefühl erzogen worden, denn wir kamen ja nicht groß heraus. Also waren der Rennsteig, die anderen Wanderwege und die Lieder darüber Heimat-Erziehungsstoffe. Das ganze West-Erzgebirge, erinnere ich mich, wurde schulisch erschlossen und durch Schule besucht. Alle eines Jahrgangs waren mal in Mylau unter der Göltzschtalbrücke, in der Prinzenhöhle … Generation über Generation lernte im „Johannisbad“ schwimmen. Das Ost-Erzgebirge war weit weg, kam auch in „Heimatkunde“ nicht so gründlich vor. Heimat wurde erzeugt.
„Heimat“ war eine gemeinsam erlebte Gegend, Städte, Dörfer und Landschaften, zugleich ein stets hoch aufgeladenes Gefühl. Wir lernten und sangen das Spanienlied in der Schule, in dem die Heimat mit ihren Sternen immer auf uns herabschien: „Die Heimat ist weit, doch wir sind bereit.“ Wenn nun täglich im Radio „Bella Ciao“ erklingt, was wir in der Schule auf Italienisch lernten und abends in jedem Ferienlager sangen (wie auch das Spanienlied), sahen wir die Blume des Partisanen als Blaue Blume der Heimat. Das war ein starker Sinnesreiz, auch dann noch und dann besonders, wenn der Kompaniechef, an der Seite marschierend, befahl: „Ein Lied!“ Was sollte uns Soldaten im Grundwehrdienst da einfallen; also rief irgendeiner „Spaniens Himmel!“ – und wir sahen in dem Stumpftrott den Himmel Heimat, was meinte, ab nach Hause, eine Sehnsucht.
„Wieder nach Hause“, das ist der Wunsch, der heute Heimat kämpferisch werden lässt, denn während die „Jungschen“, wie wir hier sagen, im „Ausland“ (im Westen) ihr Geld verdienen und „beheimatet“ wurden, wartet der in der DDR Dank Wismut, „Sachsenring“, Textilindustrie und und und in Häusern und Gärten manifestierte Leistungsbeleg vergeblich auf seine Erben. Ein starker Druck wirkt auf alle Seiten, besonders auf die in der Heimat Verbliebenen. Er zeigt sich als „Perspektivenverlust“. Die Kinder und inzwischen die Kinder der hier verbliebenen Kinder von Vielen sind „abgehauen“, bauen selbst, aber nicht in der Heimat, sondern in Bayern oder wo sie jetzt wohnen. Sie suchen ihr Glück fern der Heimat, was das Thema emotionalisiert: Was soll werden, wenn wir mal alt sind? Niemand wird Haus und Hof kaufen, der schöne Garten verkommt, wenn ich nicht mehr kann.
Weihnachten fallen die Ausreiser in Scharen in die alte Heimat ein, die voll ist von „Lichteln“, „Männeln“, Kurrendesängern, Nussknackern, Engel- und Bergmannskapellen, Schwibbögen und was es alles gibt, was auf Heimat verweist, das hier anders wirkt, als das teure Zeug, das man mitgenommen hat in die ferne Gegend als Souvenirs der Heimat. Hier kommt noch der Weihnachtsmann, nicht das Christkind, und er kommt durch die Tür, nicht durch den Schornstein … was für eine Sauerei.
Die Heimatbesucher stoßen, zu Besuch in der Heimat, auf das Erbe, dass sie nie antreten werden, auf die Traditionen, die sich in der Fremde nur schwer fortführen lassen, so sehr man sich auch Mühe gibt. Sie würden ja zurückkommen, aber wovon sollen sie hier leben? Scheiße das alles. Sie stoßen auf ihre zurückgebliebenen Kumpels und Kumpelinen, die auch nicht schlecht leben, aber deutlich weniger haben; wenn sie denn nicht einer toten Gegend wohnen, von denen es viele gibt: Heimat ohne etwas dazu.
Das alles politisiert das Reden über Heimat. Man ist fern, während die Fremden die Heimat besetzen und einem das Wichtigste rauben, die Grundlage der Sehnsucht. Gemeint ist nicht der Italiener, der das gute Eis schon in der DDR verkauft hat und jetzt zumacht, weil die Innenstadt kaufmännisch gesehen austrocknet. Wer etwas will, fährt in die Passagen gleich daneben, in die Keller des ehemaligen Wismut-Kaufhauses mit seinen hundert Läden – und mehreren Eisgeschäften.
Wenn über Heimat und die Fremden geredet wird, immer und an jedem Ort, beim Einkaufen, in der Schwimmhalle, im Lokal … und dies seit drei Jahren immer lauter, öffentlich und ungeniert, dann geht es um die neuen Ausländer. Man schaukelt sich hoch, macht sich verrückt.
Das waren zunächst die Wessis, die „uns bis heute nicht verstehen“, dann kamen die „Flüchtlinge“ hinzu, eigentlich gering an Zahl laut Statistik. Es war die Zeit, als „Praktiker“ und „Bahr“ pleitegingen, kürzlich erst, und „Bahr“ zum Aufnahmelager wurde, bis ganz kürzlich „Pocco-Domäne“ einzog. Wenn die zugewanderten jungen Männer abends im Trupp spazieren gingen, schlossen sich die Omis ein und erzählten am nächsten Tag beim „Lidl“ ihre Angstgeschichten. Da waren die Fremden noch alle auf einem Haufen, man hatte den Überblick, doch dann wurden sie aufgeteilt.
Aber wenn man sie in eine ansonsten tote Gegend schickt, wo vom Schicksal gebeutelte Sachsen bisher unter sich waren, weil die andren weggezogen sind und öffentliche Gebäude leer standen, dann ist es eine Beleidigung der Heimat, die ganz tief empfunden wird. Wer zeigt schon gern, dass er selbst Probleme hat, andere zwar, aber Probleme. Heimat ist das Geheimnis der Hiergebliebenen. Sie schauen aus dem Fenster oder stehen vor dem Gartentor und sehen dunkelhäutige Männer und ebensolche Frauen mit Kopftüchern und Kinderwagen, soweit diese sich tagsüber auf die Straße wagen. Es sind meist nur wenige je Ort, sie bilden aber den Anlass, den Verlust von Heimat vor Augen zu haben, der hier erlitten wird: Unsere „Jungschen“ sind weg und die laufen hier einfach so herum, zeigen ihre Kinder, so alt wie unsere abwesenden Enkel, wie um uns zu provozieren.
Die Ausländer sind alle in der gleichen Gruppe. Darin bilden die Euro-Zonen-Ausländer zwar eine besonders zahlreiche und auffällige Abteilung ohne Zuzugsbeschränkung – aber es gibt nur diesen einen Topf, die Ausländer, die „Türken“ und „Neger“, allesamt „Messerträger“. Die Rumänen-Sinti und Tschechen-Roma sind Europäer, haben Rechte wie wir und bekommen Geld wie wir in Hartz IV. Sie alle sind das gleiche „Gesoggs“, „Schmarotzer“. Die Syrer, so sagt man, wollen arbeiten, dürfen aber nicht. Europafeindschaft liegt weniger an Brüssel, sondern an Bukarest und Prag. Und peinlich genau werden die Sozialleistungen aufgerechnet. Schuld sind Berlin und die Merkel. Nur Seehofer und die AfD sagen die Wahrheit. Die Nazis übertreiben, kämpfen aber für die Heimat, sonst hören die oben ja nicht zu.
Verstörendes geschieht: In mein Schwimmbad, ich komme noch darauf, rückt die Polizei ein. Der Großfamilie G., Bürger Tschechiens, Roma, jetzt hier ortsansässig und hilfeberechtigt in einem sonst leergezogenen Haus gleich um die Ecke wohnend, ist es wieder einmal gelungen, geschickt den Eingang an der Kasse zu überwinden und badet – in gewöhnlicher Straßenkleidung. Volkszorn und großes Geschrei und Gegengeschrei, „ihr Schweine, mein Kind ist da im Wasser“ steht gegen „ihr Rassisten, wir haben Rechte“. Personal und Gäste werden sich in halböffentlicher Debatte einig, die kriegen Hausverbot und ein Schild muss an die Pforte. Ruhe tritt ein, das Thema hält wochenlang. Doch soll auf dem Schild „Zigeuner müssen draußen bleiben!“ stehen? Oder „Bestimmte EU-Bürger, auf diesem Bild zu sehen, dürfen hier nicht rein, es sei denn, sie zeigen vorher ihre Badesachen!“
Da darf man nicht lachen, denn „Freund der Fremden“ ist kein Ehrentitel und Humor kein Element ernster Heimatdiskurse. Hier geht es um die Ehre und das ist das, wie Ferdinand Tönnies sagt, was den Herrn vom Knecht unterscheidet. Wem gehört das Land? Uns, dem deutschen Volk.
Ich habe mich gefragt, warum ist das mit der Heimat so politisch und so erfolgreich rechts geworden, gerade hier in Sachsen. Heimat, wurde oben gesagt, sei eine Sehnsucht. Sie erreicht eine höhere Dimension, wenn gemeint wird, sie gehe verloren. Es geht ums und ans Eingemachte.
Nehmen wir Zwickau. Die Stadt, aktuell rot-rot regiert, hat seit der Wende über ein Drittel seiner Bevölkerung verloren. Wir sind hier nicht mehr 137.000 wie 1990, sondern nur um die 90.000 (etwa 50.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigt; 6.000 Arbeitslose), obwohl wir Mosel, wo der VW hergestellt wird, und andere Orte eingemeindet haben. In den Kleinstädten ringsum, man sieht es, gibt man sich Mühe, gibt man sich nicht auf, aber immer mehr ist einfach weg. Wo die Arbeit wegging, keine nennenswerte neue kam, sehen die Orte schlimm aus, obwohl sie mal „Zentren“ waren wie Werdau, 15 km von hier.
Werdau (wie wir Sachsen sagen „Werde“) heißt wie andere Städte rein verwaltungsmäßig „Große Kreisstadt“. Das steht zur Verwirrung am Ortseingangsschild. Aber Werdau, einst Lastwagen- und Textil-Stadt, seit hundert Jahren ziemlich konstant 20.000 Einwohner, kann das 2002 eröffnete Schwimmbad, siehe oben, einst ein Vorzeigeprojekt, nicht mehr bezahlen, wohlgemerkt die Zinsen; die roten Zahlen sollen bei etwa 20 Mio. Euronen liegen. Sie haben das Bad gerade durch Anheben der Grundsteuern wieder einmal gerettet. Nicht sehr investitionsfördernd. Und der Witz ist (wir haben da unsere Sauna), man trifft nur Greizer (Thüringen!) und Zwickauer. Ich danke den Werdauern.
Wie gesagt, die an Zwickau grenzenden Städte magern ab, Stück für Stück. Jeder Besuch zeigt Heimatverlust. Es ist, neben dem Verlust der großen Sehnsucht, dann doch zuerst das Sichtbare, was fehlt, Heimat als lebende Städte und Dörfer. Mittendrin stehen leergezogene Häuser in großen Mengen, daneben nach der „Wende“ sanierte, nur teilweise bewohnt, neue Geschäftshäuser, geschlossen, aber an den Hängen in guter Lage die Villen derer, die es geschafft haben, oft irgendwie tätig in der von VW abhängigen Zulieferindustrie. Kleinindustrie dominiert.
Den Handwerkern geht es gut, wenn sie fern der Heimat gute Aufträge bekommen oder hier von VW-Arbeitern, den Angehörigen der neuen Wismut, auch, was die Löhne betrifft, meist auf Westniveau. Handwerker sind knapp, wenn sie was gelernt haben, geht es ihnen gut, doch in der Woche sind sie oft auswärts, Heimatverlust. Immer diese Reiserei, da kann ich auch gleich in Franken bleiben, Folge: Handwerkermangel.
In Zwickau beträgt die Zahl der Einpendler werktäglich etwa 30.000 aus einem Umkreis von 50 km und die Zahl der Auspendler liegt bei 13.000, davon zehn Prozent in den Westen, raus aus der Heimat, abends zurück oder am Freitag, Verlusterfahrung ganzer Familien. Von den Wessis ist man in den Orten abhängig, man gibt es nicht zu, lässt sie in Ruhe, redet hinter ihrem Rücken. Sie gehören noch nicht zur Heimat, denn ihre Kinder sind sehr wessihaft in Kleidung, Sprache und Auftreten – und Religion. Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, lebt ebenfalls gut. Lehrer werden? Klar … und dann ab nach Schweinfurth. So wichtig ist, wenn es um Persönliches geht, die Heimat auch wieder nicht.
Wie oben gesagt, meine Generation ist zur Heimatliebe erzogen worden, egal wie wer die DDR fand. 1951 entstand zu diesem pädagogischen Zweck das vielgesungene Pionierlied „Unsere Heimat“, das uns regelrecht verfolgte. Darin wurde Heimat definiert. Wir wissen also im Osten, was Heimat ist. Es gehören „nicht nur die Städte und Dörfer“ dazu, sondern „die Bäume im Wald“, „das Gras auf der Wiese“, „das Korn auf dem Feld“, „die Vögel in der Luft“, „die Tiere der Erde“ und „die Fische im Fluss sind die Heimat“, die wir lieben und schützen … und jetzt kommt der Kern: „weil sie unserem Volke gehört“ – nicht anderen Völkern, auch wenn sie hierherkommen.
Da haben wir es, das Problem mit der Heimat, die Sehnsucht nach dem Eigenen, nach dem Fleckchen, wo wir Sachsen Sachsen sein können. Das Volk sind die, die hier sind. Ich höre die intellektuelle Überheblichkeit gegenüber diesem Anspruch, das philosophische Kopfsausen.
„Heimat“ ist einfach da und wird doch nie zu erfüllen sein. Der Kommerz wird sie auch diesmal erobern, wie er sie in Sachsen in den 1920ern bis in die 1990er immer wieder eroberte nach je anderem politischem Gewirr, wie Manuel Schramm in seiner profunden Dissertation „Konsum und regionale Identität in Sachsen 1880–2000“ (2001) nachgewiesen hat. Das Verlangen nach Heimat war immer da, wird immer bleiben und sich neue Nahrung suchen. Heimat hat Konstanten und Variablen. Heimat ist die Sehnsucht und der Verlust, also ein ernsthaftes Thema. Und Heimat ist so real, dass sie den Stoff hergeben kann, der sich vermarkten lässt, wenn man so will: Heimat in der Tüte. Oder es kommt anders, man weiß es ja nie. Es bleiben Städte und Dörfer und ihre Bewohner.
Der Text erschien zuerst bei „kulturation“:
http://www.kulturation.de/ki_1_report.php?id=210
Das Titelfoto zeigt einige Bücher von Kurt Arnold Findeisen, die sich im Privatarchiv des Autors befinden, das Weihnachtsfest-Buch ist allerdings von Ingeborg Weber-Kellermann.