Menschenwürde und Leidverständnis
Einleitung
Zu diesem Buch
Der vorliegende Sammelband ging aus zwei Tagungen der Humanistischen Akademie Deutschland und einem Kolloquium der Humanistischen Akademie Berlin hervor. Die Themen lauteten Politik der Menschenwürde und der Selbstbestimmung (in Kooperation mit der Politische Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2009), die Beiträge von Joachim Kahl, Guido Klumpp, Gita Neumann (hier mit dem von 2009 zusammengefasst) und Frieder Otto Wolf; Humanismus und Sterbebegleitung – Spannungsfeld „spirituelle Dimension“ (April 2010), die Beiträge von Erhard Weiher und Andrea Richau; Barmherzigkeit und Solidarität – nur säkularisierte Nächstenliebe? (mit dem Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Dezember 2010), der Beitrag von Hubert Cancik.[1]
Die Aufsätze von Ulrich Tünsmeyer und Andreas E. Kilian stehen im Zusammenhang mit den Debatten über „Spiritualität“. Der Text von Ernst Luther geht auf eine Leserzuschrift von Hartmut Kegler zum Band Humanismusperspektiven zurück,[2] wie man über Perspektiven des Humanismus ein Buch veröffentlichen könne ohne Albert Schweitzer zu würdigen. Da zu diesem Zeitpunkt gerade die Monographie von Ernst Luther erschienen war,[3] kam dieser Beitrag zustande, der gut in diesen Sammelband passt und ihn abrundet.
Titel und Untertitel verklammern die nun gedruckten Texte keinesfalls lediglich pragmatisch. Sie sind gewissermaßen Programm. So sehr das lateinische Wort humanitas – neben „Bildung“ – die Bedeutungen „Barmherzigkeit“ und „Menschenwürde“ einschließt, so zielen beide Ausdrücke doch zunehmend auf zweierlei „Anwendungen“ von „Humanität“: die helfende Hinwendung zum einzelnen Menschen und die Achtung der Menschlichkeit gegenüber jedem einzelnen. Dieser Doppelsinn ist in die moderne Auffassung von Humanismus eingegangen.
Während bis vor wenigen Jahren eine als konservativ zu beurteilende Konzeption von Humanismus – vereinfacht ausgedrückt – auf höhere Bildung in den Maßstäben der Antike setzte und das Vorurteil nährte, „Barmherzigkeit“ sei eine christliche Sache, gibt der vorliegende Band andere Einblicke sowohl hinsichtlich der Herleitung von „Barmherzigkeit“ aus der römischen Sprachwelt selbst durch Hubert Cancik als auch hinsichtlich der „Menschenwürde“ durch Frieder Otto Wolf.
Hatten sich vorherige Tagungen der beiden Akademien mit Menschenwürde, Menschenrechten und Bildung von Kindern und Jugendlichen gewidmet,[4] haben die genannten drei Tagungen, die diesen Band speisen, andere Gruppen und Praxisfelder des organisierten Humanismus in den Blick genommen – die Älteren, die Alten und die Sterbenden.
Angesichts dramatischer Alterungen der Gesellschaft sind Altersrollen und Altersbilder in Deutschland, wie Guido Klumpp plastisch zeigt, höchst strittig und in ihren Erklärungen durchaus handlungsleitend. Aus diesen Entwicklungen folgert, dass sich der Schwerpunkt der Probleme auf die letzte Lebensphase legt, die des Sterbens (Kahl, Neumann, Richau). Zudem kam, wesentlich durch diese Verlagerung bedingt, ein Themengebiet hinzu, die „Spiritualität“ (Weiher, Tünsmeyer, Kilian).
Im Mittelpunkt dieses Bandes steht zweifellos der Aufsatz von Gita Neumann, dies nicht nur wegen seines großen Umfangs. Die Autorin unternimmt es vielmehr, eine eigene Konzeption vom Zusammenhang der aktuellen Sterbekultur zu entwickeln, in dem sie hier offene Fragen (etwa die nach einem ärztlich begleiteten Suizid) mit dem unentwickelten Stand einer humanistischen Verarbeitung dieser Probleme und der eigenen – z. B. hospizlichen – Praxis zu konfrontiert.[5] Sie geht über den engen Bereich der Sterbehilfe hinaus, nimmt diese als Aufgabe in einer Lebensphase in den Blick und stellt Thesen über Humanismus und Tod in kulturhistorischer Perspektive auf.
Sterbehilfe, so ihre Auffassung, ist intensive Lebensende-Begleitung an der Grenzscheide zum Tod, am Ende des einmaligen und unwiederholbaren Individuums. Kahl interpretiert dieses Umgehen mit Sterben und Tod als Teil der Lebenskunst. Die Kunst, sich lebenslang darauf vorzubereiten in dem Sinne, dass das Sterben als natürlicher Vorgang verinnerlicht ist, beschäftigt auch den Text von Neumann. Die helfende Person bleibt stets zurück wie die nähere oder fernere Gesellschaft, sei es als Familie, Freundes- und Kollegenkreis oder die Weltgemeinschaft, die als solche nicht „erfahrbar“ ist.
Jedenfalls findet die Beziehung, die besonders die sterbende und die helfende Person eingingen – und an der viele andere direkt oder indirekt beteiligt waren – ihr Ende mit dem Tod der sterbenden Person. Richau meint in ihrem Beitrag, dass diese Vorgänge der rituellen Begleitung verdienen. Weiher berichtet, wie sich in Sterbebegleitungsvorgängen Spiritualität auch säkular sich findet. Tünsmeyer warnt vor den historischen und religiösen Tücken des Begriffs der Spiritualität, ist aber offen für präziseres Erfassen dessen, was da real stattfindet. Kilian schlägt vor, dann lieber gleich einen neuen (alten) Begriff zu nehmen, den der Imaginalität.
Leid ist sinnlos
Das Wort „Leid“ kommt aus dem mittelhochdeutschen Wort „Leit“ und ist etwas, das einem zugefügt wird.[6] Es gibt ein Subjekt des Verursachens von Leid und bedeutet zunächst – sehr vereinfacht erklärt – das angetane Böse, das Unrecht, die Schädigung, die Kränkung, die Beleidigung, die Sünde. Das Wort geht dann im 8. bis 10. Jahrhundert eine Verbindung mit dem althochdeutschen Adjektiv „leid“ ein, das so viel bedeutete wie schmerzlich, bedauerlich, widerwärtig, aber auch verabscheuen und freveln. Dieses Wort wird dann im 10.–12. Jahrhundert substantiviert und bleibt ein Neutrum – das Leid.
Wie diese Sprachgeschichte sich auch gestaltet hat, es musste erst entdeckt werden, dass Menschen leiden können, es aber eigentlich nicht müssen. Jacques Le Goff erklärt diese Entdeckung mit zwei Neuerungen im damaligen Christentum: [7] zum einen mit der Feminisierung der Frömmigkeit (Christus ist weniger der Siegreiche, der Bezwinger des Todes, als vielmehr der Leidensmann, der von einer Mutter geboren wurde, die es ebenfalls zu verehren gilt); und zum anderen mit dem mittelalterlichen Menschenbild des 12. Jh., in dem der Mensch nach dem Bilde Gottes geformt erscheint und als Individuum wertvoll wird.
Außerdem ist zu berücksichtigen, dass das Bild des leidenden Jesus am Kreuz erst am Ende des 11. Jh. aufkommt und sich gegen andere populäre Symbole (etwa den Totenkopf) erst durchsetzen musste – das fügt der Auseinandersetzung von Gita Neumann mit dem Kreuzsymbol in diesem Band noch eine Dimension hinzu. Jedenfalls führt die Entwicklung dahin, dass in unserer heutigen Kultur auch das metaphysische Leiden am Sein grundsätzlich zugelassen ist mit der Konsequenz in der christlichen Theologie, dass Gott zwar der Schöpfer der Welt ist, er aber das Leiden an der und in der Welt nicht beseitigen kann, weil es dazugehört.
Der Humanismus jedoch kann im Leiden keinen besonderen Sinn sehen, denn Leid hat keinen Wert an sich. Leid und Leiden gehören nicht zwangsläufig dazu und sie haben Ursachen, darunter solche, die beseitigt werden können. Es mag ja das gelten, was Äschylus im Agamemnon den Chor das Lob auf Zeus singen lässt, dass wir durch Leiden zu lernen haben. Doch was lernen wir? Im Humanismus ist das Leid keine anthropologische Konstante, sondern höchstens eine Lektion, die einem durch das Leben erteilt werden kann, ein Schicksal, gar nicht durch einen Gott oder ein Prinzip begründet.
Die Suche nach dem, was Leid ist und woher und seit wann wir wissen, was das für uns ist, stoßen wir auf eine Vielzahl bekannter Weisheiten, allen voran den Psalm 34,20, wonach der Gerechte viel leiden müsse, ihm aber der Herr aus dem allen heraushilft. Goethe hat zu diesem Spruch zwei unterschiedliche Interpretationen geliefert, die sich nur durch ein Wort – aber dadurch gründlich – unterscheiden: Im Tasso lässt er 1789 seinen Helden gegen Ende des Stückes sagen – und Gott gibt hier sozusagen die Sprache vor, verleiht die Befähigung zum Leidenausdruck durch den Glauben:
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.
Mehr als dreißig Jahre später ist Goethe hier kritischer. In seiner 1823 in Karlsbad verfassten Elegie bekommt der Spruch eine andere Wendung: Gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide. Die Sprache Gottes befähigt hier zur Leidenserklärung. Es geht nicht mehr vordergründig um den Glauben als ein Gefühl, das beim Gläubigen durch kein anderes zu ersetzen ist, sondern um ein Glaubenssystem, eine Religion, die das ganze Sein erklärt.
Leid ist – das zeigt das Goethe-Zitat – eine kulturelle Kategorie nicht nur in der Hinsicht, dass man hierzulande öffentlich oder privat leiden kann und dies sogar zeigen darf. Sie ist dies auch hinsichtlich ihrer rituellen Aufführungen. Dass Mann oder Frau (und das macht kulturgeschichtlich wie soziologisch und wohl auch medizinisch wichtige Unterschiede) in Gesten, in Worten oder durch Schreien zeigen wollen, sollen, müssen, dürfen oder nicht dürfen, dass sie leiden, ist in je historische, raum-zeitlich definierte Kulturen eingebettet. Selbst in aktuellen Kulturen Europas, auch in den oft so einheitlich erscheinenden christlichen, gibt es hierzulande sowohl Regeln, die zum stillen Leiden auffordern, als auch solche, die lautes Klagen erwarten.
Leid ist mehr als Schmerz. Der physische Schmerz kann zum Leid werden, wenn er sich auf dem Wege seiner Verbindung mit psychischer Schmerzverarbeitung verstetigt und sich mit einer mehr oder minder dramatischen Aufführung der Schmerzempfindens ausdrückt. Dass Menschen ihr Leiden zeigen, es sogar rituell aufführen, setzt wiederum voraus, dass sie erstens dieses subjektive Empfinden bei sich selbst überhaupt zulassen; und zugleich zweitens von anderen erwarten, dass diese ihr Leid teilen, relativieren, nachempfinden, bedauern oder auch als übertrieben oder unangemessen zurückweisen. In einer solchen Kultur kommt Sterbehilfe ein konstituierender Rang zu.
Denn es ist kultur-historisch und aktuell-ethnologisch keineswegs selbstverständlich, dass jemand Leid oder gar Mitleid zeigt und zudem noch zu erkennen gibt, dass er oder sie an etwas leidet – an einer nicht beherrschbaren Gewalt, z.B. an Schmerz; an einer Seelenlage des Ausgeliefertseins; am Bewusstsein der dauerhaften Einschränkung durch Krankheit; das Erkennens, dass eine Lebenshaltung bzw. ‑planung scheitert; oder an der Welt an sich.[8] Es ist diese schwierige Kommunikation über die Regeln, darüber zu reden, die uns die Moderne ausgetrieben hat. So pendeln wir in der Debatte in einer Spanne, die Leid zwischen dem eher belanglosen Leidtun und dem unsagbaren Schmerz, der kein Leid mehr ist, sondern unerträgliche Qual, ansiedelt.
Leiden in Würde?
Eben weil Leid eine kulturelle Kategorie ist, gehört sie zum Kernbestand nahezu aller Religionen und Weltanschauungen. „Leiden“ ist ein subjektiver quälender Zustand, in dem Menschen empfinden, dass sie objektiv „etwas erleiden“, dass ihnen Bedürfnisse und Wünsche versagt werden. Dabei reicht die psycho-physische Spanne sehr weit und hat auch ihre Film- und Theaterfiguren: der Verzweifelte, der Stadt- und Landneurotiker, der eingebildete Kranke und der beinharte Märtyrer.
Und der Leidenszustand selbst hat verschiedene Abstufungen, für die Kulturen ihre Verarbeitungsformen ausbilden. Der Bogen spannt sich vom kurzen Leid der schnell getrockneten Kindertränen und dem Liebesschmerz, über das zeitweilige Ach und Weh und den Kummer, den Gram und die Trauer bis zum Siechtum, dem erst mit dem Tod endenden Leiden – dem Leiden derer, die Leiden andrer leiden.
Da das Leid vielgestaltig sich zeigt, spielt „Menschenwürde“ im Umgang damit und spielen Sterbehilfebeziehungen auf doppelte Weise eine wichtige Rolle: als Maxime der Helferperson und als Anspruch und Recht der sterbenden Person, diese zu erfahren in konkreten Worten und Maßnahmen. Die Situationen, die hier immer wieder entstehen, sind nicht völlig objektivierbar, schon deshalb, weil Emotionen die Wahrnehmung und das Handeln beeinflussen; vor allem aber, weil hier je Einmaliges stattfindet, konkrete Menschen aufeinander treffen und schließlich Vergänglichkeitserfahrungen und Sterbesymptome sich zwar allen Beteiligten zeigen, aber nur von der sterbenden Person körperlich wirklich erlebt werden durch Krankheit, Leid, Schmerz, Demenz …
Erst dadurch – und zwar, nachdem die Moderne seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Notwendigkeit von Leid praktisch und geistig zu bestreiten begann – wird eine weiter gefasste Spiritualität nötig, den Weg zu Gott zu finden, an der Menschheit zu leiden oder geistig zumindest kurzzeitig aus der Welt in die der Ewigkeit zu gleiten.[9]
Zwar haben die Begriffe Spiritualität und spirituelle Begleitung, teils mangels eines anderen Begriffs, teils wegen der Führungsrolle christlicher Hospize noch eine dominante religiöse Note, doch – weil sich nun verstärkt Psychologen und Philosophen einmengen – drücken beide Begriffe stärker als vorher den „Geist“ aus, der die Ethik der Zwischenmenschlichkeit in diesem praktischen Gefüge leiten soll oder will.
Bei dem, was in diesen Künsten des Augenblicks der hospizlichen Hilfewirklichkeit abläuft, was hier gefühlt und gearbeitet wird und was sich zwischen Selbstdeutung von Lebenssinn und tatsächlichem Lebensende abspielt, sind alle Praktiker auf der Suche nach dem richtigen Tun und dem angemessenen Ausdruck. Diese Ermittlung wird durch religiöse wie weltanschauliche Positionen des jeweils Suchenden nicht einfach nur beeinflusst. Sie gibt durchaus Richtung vor und erwartet ein bestimmtes Ergebnis, will Wahrheiten bestätigt sehen. Wissenschaft entwickelt sich erst, etwa in der spirituell care (doch zeigt sich, dass die kirchlichen „Spezialisten“ auf diesem Feld ihren theologischen Vorsprung klug zu nutzen wissen, um die neuen Lehr-Stellen zu besetzen.
Dass Leiden im Leben passieren kann, das ist heute unbestritten. Es ist aber mehr als problematisch geworden, dem Leiden selbst einen Sinn zuzuschreiben, etwa weil Menschen nun einmal in Sünde leben würden, Schuld auf sich laden usw. Die alte christliche Zumutung von Leid wandelt sich, weil das Christentum nicht mehr vorrangig als Religion der Leidenden wahrgenommen wird, die daraus Hoffnung in Jesus und / oder / als Gott schöpfen, darzustellen vermag. Eine solche Grausamkeit in Zeiten von Medikamentierung von Beschwerden wird heute als wirklich mittelalterlich angesehen. Kirchen waren stets bemüht, zeitgemäß sein. Deshalb treten sie heute offensiv für Schmerzlinderung, Palliativmedizin und Hospizbetreuung ein.
Geblieben ist aber zweierlei, erstens die Grundannahme von der Unvermeidbarkeit von Leid (weil sonst der berufsmäßig gespendete priesterliche Trost im Namen eines gnädigen und liebenden Gottes überflüssig würde; der böse Gott ist schon gewichen); und zweitens die grundsätzliche Ablehnung hedonistischer, eudämonistischer und humanistischer Lehren über das Leid als einem Übel.
Wir finden heute viele Ethiken, die humanistisch sind, weil sie Leid vom Menschen her zu bestimmen und zu lindern, ja zu verhindern versuchen. Diese Selbstverständlichkeit ethischen Argumentierens greift inzwischen auch in Theologien Raum. Diese Selbstverständlichkeit des humanistischen Diskurses, der das Wort Humanismus nicht zwangsläufig erfordert, hat dazu geführt, den menschlichen Leidbegriff auf die Tierwelt auszudehnen.[10]
Die Achtung der Menschenwürde ist auch als Leidverhinderung zu sehen. Aus humanistischer Perspektive lautet die These dazu: Der Mensch – der immer ein konkretes, einmaliges Individuum ist – muss nicht leiden, aber er oder sie darf es. Das mag zynisch klingen angesichts Thematik dieses Buches. Aber es ist im Kulturenvergleich nicht nebensächlich festzuhalten, dass es in unserer Kultur weder verboten ist, Leid sichtbar zu empfinden, noch in bestimmten Situationen unbedingt Leid oder Mitleid vorzeigen zu müssen. Schon gar nicht darf man hierzulande – aus welchem bösen oder hehren Grund auch immer – von einem anderen Menschen zum Leiden gezwungen werden, nur damit dieser leidet, auch nicht zu einem höheren Nutzen, der sich aus einer besonderen Religiosität oder weltanschaulichen Behauptung ableiten mag.
Das ist nicht nur so, wenn es allgemein um Menschenwürde und Leid geht, wenn Probleme des Krieges, der Folter, des öffentlichen Quälens, der Vergewaltigungen und ähnliche gewaltsame Leidenszufügungen verhandelt werden, wo das Leid-Zufügungs-Verbot öffentlich anerkannt wird, obwohl auch hier, was die kulturellen Auffassungen vom Leiden und Leidenmüssen betrifft, praktisch sehr unterschiedlich sind (z.B. beim Umgang mit Todesstrafe, Strafvollzug, Sicherungsverwahrung. Einweisung in Anstalten usw.).
In der Sterbekultur ist dies leider noch anders. Die Gesundheitsindustrie hat Apparate und Chemikalien hervorgebracht, deren Anwendungen dazu dienen können, Leben, aber auch Leiden zu verlängern, zu verkürzen, zu mildern, gar ganz auszuschalten. Dies zwingt zum Nachzudenken darüber, was gesellschaftlich gewollt ist und welche Kriterien und Wertvorstellungen diesem Wollen zugrunde liegen (sollen), zumal die ethischen Regeln einer ganz neuen, allerletzten Lebensphase, sich nicht durch die moderne Medizin regeln lassen wird, sondern durch Lebensweisen, die sich (soeben, wir sind dabei) neu bilden, weil sich Menschen verhalten zu dem, was nach dem rüstigen Seniorendasein und vor dem Tod mit ihnen geschieht bzw. geschehen kann. Das gab es früher nicht, weil Menschen in Menge nicht so lange lebten.
Auch diese Lebensphase wird kulturell definiert werden, so wie um 1900 die „Erfindung der Jugend“ und die „Entdeckung der Kindheit“ die Sicht auf diese Abschnitte prägten. Der gesellschaftliche Umgang mit Kindheit und Jugend hat in den letzten hundert Jahren eine Vielzahl von Institutionen und Ideen hervorgebracht, die Wirtschaft und Staat und Familien heute prägen und die sowohl als selbstverständlich also auch als strittig gelten. Jedenfalls gehören sie zu unserer Kultur.
Gita Neumann fordert in ihrem Beitrag – was die neue letzte Lebensphase betrifft – neue Ideen für neue Institutionen, kann es doch ihrer Meinung nach nicht sein, dass die Debatte über Erfolge der Hospize über deren Marginalität hinwegsehen lässt, dass diese als beispielhaft gelten, wo doch das massenhafte Sterben in den Heimen unbewältigt ist. Darf man die Frage stellen, ob nicht staatliches Förder- und privates Kassengeld umgeleitet gehört? Was von dem, was in Hospizen (bei aller gewachsenen Zahl, bei aller Leistung) nur wenigen zugutekommt, ist zu verallgemeinern für eine Sterbekultur – und dann noch eine humanistische?
Der Humanistische Verband – so auch die Meinung des Herausgebers – kann nicht nur „Hospizmeister“ werden wollen. Er hat sich den Bedingungen der Sterbehilfe in Heimen und den damit verbundenen weltanschaulichen und politischen Fragen zu widmen.
Fazit
Erstens: Die Achtung der Menschenwürde schließt die Verhinderung oder Milderung von Leid ein. Dieses Bestreben ist barmherzig. Eine neue, konfessionell übergreifende, auch die politische Debatte über Sterbehilfe beeinflussende religiöse Leid-Deutung ist in der Defensive. Sie macht Menschen Angst mit ihrer These, dass wir rationalen Menschen völlig die Furcht vor Sterben und Tod aufgeben könnten mit – wie man meint – unabsehbaren Folgen, die – so scheint es – irgendwie zur Hölle auf Erden führen, wenn man diese Furcht aufgibt.
Zweitens: So wahr es ist, dass sich gegenwärtig eine neue Lebensphase ausbildet, um deren kulturelle Gestaltung gerungen wird, nämlich die Zeit zwischen dem rüstigen Seniorendasein und dem Tod, durchaus unter Umständen eine lange Phase des Sterbens, in der Menschen Siechtum erleiden können, so falsch ist es, diese Phase als eine Zeit des Leidens zu beschreiben, die man ertragen muss. Der Tod ist unausweichlich und eine Auferstehung wird es nicht geben. Nur noch 28 % der evangelischen und 47 % der katholischen Christen glauben an diese Grundaussage ihrer Religion. Noch so viele Pflegeheime mit noch viel mehr Palliativ- und Hospizversorgung (letztere definitiv nur für die letzten Wochen, allenfalls Monate) werden Schmerzen und Leiden nicht verhindern können. Es muss also möglich sein, dass Menschen selbst bestimmen, dass sie das nicht erleiden möchten. Also muss es möglich sein, ihnen beim Sterben zu helfen.
Drittens: Unmittelbar damit zusammenhängend, aber besonders perfide und anti-humanistisch (um es zuzuspitzen) sind Versuche, die Selbstbestimmung (den Patientenwillen) darüber, was überhaupt als erträgliches und unerträgliches Leiden empfunden wird, außer Kraft zu setzen bzw. durch „Berufene“ zu definieren. Auch hier wirken religiöse Bilder, v. a. das Wunder von der Wiederauferstehung vom Krankenbett; die Hoffnung auf den Retter, wenn die Not am größten ist. Damit verbunden ist oft die gebetsmühlenartige Behauptung, Sterbehilfe entsprechend dem Willen des Schwerkranken und spräche gegen das Fürsorgeprinzip, als ob es nicht auch eine Fürsorge gäbe, dem Leidenden gegenüber, der wünscht, sein Leiden zu beenden, auch und gerade dadurch, dass man beim Sterben Hilfe leistet – was ja schon der Name sagt: Sterbehilfe.
Fußnoten
- Weitere Beiträge dieser Tagung folgen in anderen Ausgaben der Schriftenreihen der Humanistischen Akademien. ↑
- Vgl. Humanismusperspektiven. Hrsg. von Horst Groschopp. Aschaffenburg 2010 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Bd. 1). ↑
- Vgl. Ernst Luther: Albert Schweitzer – Ethik und Politik. Berlin 2010. ↑
- Vgl. Humanismus und junge Generation. Hrsg. von Horst Groschopp. Aschaffenburg 2010 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin, Bd. 3). ↑
- Leider war es nicht möglich, die Beiträge der Vertreterinnen (ausnahmslos Frauen) der Sterbende begleitenden Praxis zu verschriftlichen. ↑
- Im Folgenden werden Grundgedanken eines früheren Textes wieder aufgegriffen. – Vgl. Horst Groschopp: Humanismus, Leid und politisches Sterbehilfekonzept des Humanistischen Verbandes. In: Selbstbestimmung am Ende des Lebens, hrsg. von Alexander Endreß und Michael Bauer, Aschaffenburg 2007, S. 170–180 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Bayern, Bd. 1). ↑
- Vgl. Jacques Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter.2. Aufl., München 2004, S.112 ff. ↑
- Dass dies nicht selbstverständlich ist in allen Kulturen zeigte 2011 z. B. der Umgang mit dem Tsunamie in Japan. ↑
- Ein Blick in die neuere Debatte über Leid und Leiden zeigt, dass die damit zusammenhängenden Fragestellungen einer Ethik der Sterbehilfe auch unter dem Begriff der „Spiritualität“ ventiliert werden, was diesem Begriff neues Leben eingehaucht hat und ihn zugleich reformiert. Er reicht inzwischen weit über bisherige Anbindungen an religiöse Gefühle und Bräuche, gar über die Reduktion auf Frömmigkeit hinaus. ↑
- Diese Beobachtungen ist der näheren Betrachtung wert. ↑
Quelle:
Horst Groschopp: Menschenwürde und Leidverständnis. Einleitung. In: Barmherzigkeit und Menschenwürde. Selbstbestimmung, Sterbekultur, Spiritualität. Hrsg. Von Horst Groschopp. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2011, S. 7–16 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin, Bd. 4).