Holger Czitrich-Stahl
Horst Groschopp: Weltliche Schule und Lebenskunde. Dokumente und Texte zur Hundertjahrfeier ihrer praktischen Innovation 1920. Reihe Humanismusperspektiven, Bd. 8. 292 Seiten, kartoniert, 28 Euro, ISBN 978–3‑86569–219‑1
Rezension für die „Mitteilungen“
Wer wie ich in Nordrhein-Westfalen die Schule besuchte, wuchs in einem Schulsystem auf, das sich auf die sog. „Bekenntnisschule“ stützte. Dies bedeutete, dass erstens Religion als ordentliches Lehrfach unterrichtet und geprüft wurde und zweitens, dass staatliche Schulträger erst dann auf den Plan traten, wenn kirchliche Schulträger kein Schulangebot vor Ort unterbreiten konnten. Zwar befanden sich in NRW wie auch in allen anderen Bundesländern der „alten“ Bundesrepublik die meisten Schulen in öffentlicher Trägerschaft, doch existierte daneben eine nicht unbeträchtliche Anzahl privater Schulen, vorwiegend in der Trägerschaft einer der beiden christlichen Konfessionen. In der DDR wiederum setzte sich ein Schulwesen in ausschließlich öffentlicher Trägerschaft durch, das der Religion als einer Privatsache keinen innerschulischen Raum zuwies und das sich v.a. auf die Konzepte der weltlichen Schule aus der Weimarer Tradition stützte.
Beide Linien folgten Traditionen, die während des Kaiserreichs entstanden und nach der Novemberrevolution und während der Weimarer Republik heftig miteinander konkurrierten. Kein Wunder, prallten doch an der Frage weltliche Schule vs. Bekenntnisschule fundamentale Gegensätze aufeinander, deren Ursachen nicht zuletzt in gesellschaftlichen und machtpolitischen Konflikten begründet waren. Die Bekenntnisschule institutionalisierte nichts Anderes als das Bündnis zwischen Thron und Altar, eine Art „cuius regio, eius religio“ auch im Lokalen. Die weltliche Schule hingegen entsprach den Vorstellungen der Arbeiterbewegung und fortschrittlicher Liberaler und Humanisten und sollte anstelle des Gebets die Mündigkeit setzen. Noch heute finden sich nur in der Hansestadt Bremen und in Berlin Schulsysteme, in denen der Religionsunterricht außerhalb des obligatorischen Fächerkanons verbleibt. Der Versuch, in Berlin über ein Volksbegehren Religion an die Berliner Schule zurück zu bringen, scheiterte im Mai 2009.
Vor rund 100 Jahren öffneten die ersten weltlichen Schulen in Deutschland, in Berlin-Adlershof am 15. Mai 1920 zum ersten Mal mit ministerieller Genehmigung. Heute befindet sich hier die Anna-Seghers-Gemeinschaftsschule (Treptow-Köpenick).[1] Horst Groschopp nahm dieses Jubiläum zum Anlass, auf 100 Jahre weltliche Schule und das Fach Lebenskunde zurück zu blicken und diese schulpolitische und weltanschauliche Bildungstradition, die noch immer in einer Minderheitenposition verblieben ist, näher zu beleuchten. Unterstützt wurde er dabei von Eckhard Müller, Daniel Küchenmeister, Andreas Goeschen, Michael Schmidt und Peter Schulz-Hageleit. Horst Groschopp wirkt seit seiner Dissertation 1978 als Kulturwissenschaftler, Alltagshistoriker und kulturwissenschaftlicher Publizist und beschäftigt sich vor allem mit Fragen des Humanismus und seiner Verbandsgeschichte, Theorie und Praxis. In der Reihe „Humanismusperspektiven“ des Alibri-Verlages wirkt er als Herausgeber und Verfasser mehrerer Bände. 1989 zählte er zu den Mitbegründern des Freidenkerverbandes der DDR und trat 1994 dem Humanistischen Verband Deutschlands bei, dem er von 2004 bis 2009 vorstand. Historikerinnen und Historikern dürfte Horst Groschopp überdies als Autor des alltagsgeschichtlichen Buchs „Zwischen Bierabend und Bildungsverein“ bekannt sein.[2]
Der Versuch der Durchsetzung einer weltlichen Schule begann in Thüringen in den 1920er Jahren, als die linkssozialdemokratische Regierung von Ministerpräsident August Frölich — ihr Volksbildungsminister war Max Greil (USPD) — reformpädagogische Initiativen zu unterstützen begann. Carl Theil, ebenfalls ein Reformpädagoge und SPD-Mitglied, konzipierte den Lebenskundeunterricht als Gesellschaftskunde für den „Aufbau der kommenden Gesellschaft“ und als „gefährdete Vorpostenstellung“. (S. 11) Doch die frühe Etablierung des Faschismus als Regierungskraft in Thüringen 1930 zerstörte jäh das Aufblühen dieses fortschrittlichen Schulkonzepts, für das sich auch der bekannte Pädagoge Fritz Karsen engagierte. Mit welchen Hindernissen engagierte „dissidente“ Lehrkräfte in der Weimarer Republik zu kämpfen hatten verdeutlicht die von Groschopp zitierte Feststellung aus dem Jahr 1930, dass der Weg der Schulreform zur weltlichen Schule ein „Leidensweg“ sei, und dass „noch jetzt im zwölften Jahr des Bestehens der Verfassung der deutschen Republik dem dissidentischen Lehrer selbst an der ´Sammelschule‘ die Anstellung verweigert wird“. (S. 12)
Doch alle Bestrebungen, über die Durchsetzung weltlicher Schulen ein neues, kirchenunabhängiges Schulwesen zu etablieren, scheiterten am Beharrungswiderstand der konservativen und klerikalen Kräfte und wurden mit dem Beginn der Nazidiktatur unterdrückt. Doch nicht nur politischer Gegenwind behinderte eine säkulare Schulreform, auch die Laufbahnbenachteiligungen für dissidente Lehrkräfte, die Fußangeln des Föderalismus und der Bürokratie taten ihr Übriges. Nach dem Ende des Faschismus versuchte man vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone, an die reformpädagogische Tradition der weltlichen Schule sowie der Lebenskunde bzw. Staatsbürerkunde anzuknüpfen, wohingegen fortschrittliche Bestrebungen wie in Bremen und in Hessen durch die Grundgesetzberatungen des Parlamentarischen Rates unterlaufen wurden: Nicht der Staat könne bekenntnisfreie Schule als Regelschulen einrichten, sondern diese könnten allein auf Antrag von Erziehungsberechtigten staatlich geprüft und genehmigt werden, eine Einzelfallregelung also. (S. 32) Nur die „Bremer Klausel“, die außerhalb der Hansestadt noch für West-Berlin gilt, sichert die bekenntnisfreie Schule bzw. die Neutralität (Berlin).
Auf diese historische Einführung (S. 9–34) folgt eine Spurensuche entlang der freidenkerischen Wiege einer bildungspolitischen Konzeption unter der Überschrift „Weltliche Schule und Moralunterricht“. (S. 35–68) Die Spurensuche führt über die verschiedenen aufgewiesenen Diskurse und politischen Auseinandersetzungen zur Gründung der Schule in Adlershof und über die engagierte Lehrerin Maria Krische zum Vorsitzenden der Freireligiösen Gemeinde, Adolph Hoffmann, dem „Zehn-Gebote-Hoffmann“.[3] Spannend lesen sich auch die folgenden, die verschiedenen Handlungsebenen (Schulrecht/Schulpraxis, gescheiterte Reichsschulgesetzgebung, Konzeptionen und Wege des Lebenskundeunterrichts) betreffenden Kapitel. Wenn man dann reflektiert, dass mit der Herstellung der staatlichen Einheit 1990 ein drittes Mal der Stab über die weltliche Schule als Regelschule gebrochen wurde, muss man feststellen, dass die Debatten in der Weimarer Republik noch heute von erheblichem Belang sind.
Der zweite Teil des Bandes ist gefüllt mit einer Bibliographie zu weltlicher Schule und Lebenskunde und mit einem Dokumentationsteil mit 19 Dokumenten, in denen u.a. auch August Bebel, Konrad Haenisch, Heinrich Schulz, Clara Zetkin, SPD und KPD und Carl Theil zu Wort kommen. Ebenfalls enthalten sind darin Beiträge von Horst Groschopp und seinen Mitautoren, von denen Eckhard Müller und Daniel Küchenmeister Mitglieder unseres Förderkreises sind.
- https://hpd.de/artikel/startschuss-fuer-jubilaeumsjahr-weltliche-schule-18053, Zugriff am 29. Dezember 2020; https://www.anna-seghers-schule.de/ueber-uns/geschichte-der-schule.html, Zugriff ebendann. ↑
- Horst Groschopp: Zwischen Bierabend und Bildungsverein, Berlin 1985. ↑
- Hans-Wolf Ebert, Volker Heiermann, Lars Hoffmann (Hrsg.): Vom Waisenkind zum Minister der Revolution 1918 – Das Leben Adolph Hoffmanns, Berlin 2018, S. 24–30; vgl. die Buchvorstellung durch Volker Heiermann in Mitteilungen, Heft 54 (September 2018), S. 55ff. ↑
30. Dezember 2020