Definition “Weltanschauung”
Weltanschauungen sind alle kulturellen Deutungssysteme, Religionen eingeschlossen, mit denen die Menschen gemeinschaftlich ihre Stellung in der Natur und die Formen ihres sozialen Lebens zu verstehen und zu regeln suchen, und die ihnen Orientierung geben hinsichtlich des Ganzen ihrer Lebensumstände. Entsprechungen für das Wort in anderen Sprachen fehlen, oder es ist dort – im Französischen und Englischen – ein Lehnwort.
Im engeren Verständnis und im deutschen Verfassungsrecht seit 1919 gebräuchlich ist Weltanschauung „eine wertende Stellungnahme zum Weltganzen, welche allein unter immanenten Aspekten Antwort auf die letzten Fragen nach Ursprung, Sinn und Ziel der Welt und des menschlichen Lebens zu geben sucht.“ (Mertesdorf 2008, S. 129). Diese eine Transzendenz verneinende Sicht ist wesentlich Produkt der Freidenkerbewegung, der Säkularisierung und besonders der Revolution von 1918.
In deren Folge ist heute Humanismus, neben anderen Weltanschauungen (etwa Freireligiöse, Unitarier, Deutschgläubige, Monisten) im eng führenden deutschen Staat-Kirche-Recht gedacht als eine Art Religionsersatz für konfessionsfreie Menschen. Denn eine Weltanschauungsgemeinschaft ist „ein Zusammenschluss von Personen, der ein Minimum an organisatorischer Binnenstruktur aufweist, im Sinne der Gewähr der Ernsthaftigkeit auf Dauer angelegt ist“ und die ihre im Konsens erzielten Ansichten nach außen manifestiert (Mertesdorf 2008, S. 243).
Daraus folgt, dass die Bedingung „gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung“ im Sinne einer Anwendung von Artikel 140 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 137 Absatz 7 Weimarer Reichsverfassung erfüllt sein muss, um die staatliche ‘Anerkennung als Gemeinschaft der Weltanschauungspflege‘ zu erreichen, die allerdings, wegen deren ‘Kulturhoheit‘, von den Bundesländern ausgesprochen werden kann, was nicht unbedingt deren Erhebung in den Status einer ‘Körperschaft des öffentlichen Rechts verlangt‘ (Groschopp 2010a). Sinngemäß folgt daraus für humanistische Organisationen, die diesen privilegierten Status beanspruchen: ‘Humanismuspflege‘.
Weltanschauung und Humanismus
Humanismus als Weltanschauung ist wenig untersucht. ‘Weltanschauung‘, wie sie das ‘Dritte Reich‘ kultiviert hatte, ließ diese als „Schau des Mystikers“ (Klemperer 1970, S. 178) erscheinen und beförderte nach 1945 die grundsätzliche Abrechnung mit dieser Kategorie. Dabei griffen Philosophen in der Bundesrepublik Positionen wieder auf, die schon vor 1933 versucht hatten, den Begriff zu entlarven (Eucken 1896; Scheler 1929). Das führte zu einer nachwirkenden Abwertung des Einflusses vorwissenschaftlicher Bewusstseinselemente auf das Denken und Handeln von Menschen und zu einer Überbetonung von Wissenschaft und Philosophie in Bezug auf Humanismus.
Hinzu kam der staatliche Gebrauch von ‘Humanismus‘ als Bestandteil der Weltanschauung in der DDR (Groschopp 2013). Hier hatte aus anderen Motiven die philosophische Vergangenheitsbewältigung das gleiche Ergebnis, aber andere Anwendungen und Funktionen. Subjektive Ansätze in der Bestimmung von ‘Weltanschauung‘ wurden zurückgewiesen, der Niedergang des philosophischen Denkens beklagt – stattdessen die angeblich richtige Widerspiegelung des materiellen gesellschaftlichen Seins in der ‘wissenschaftlichen Weltanschauung‘ des Marxismus-Leninismus als Erkenntnis- und Handlungslehre etabliert (Schuffenhauer 1976).
Begriffsgeschichte “Weltanschauung”
Von der Anschauung zur Ideologie
Das Wort entstand Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland zunächst in der transzendentalen Philosophie. Es bildete sich in der „Fachsprache der Philosophie aus, nicht aber in der Sprache der Dichtung oder etwa in der Alltagssprache“ (Meier 1967, S. 73). Noch wörtlich genommen wird es von Immanuel Kant 1790 in seiner ‘Kritik der Urteilskraft‘ (Erster Teil, Zweites Buch, § 26), dann von Johann Gottlieb Fichte 1792 im ‘Versuch einer Kritik aller Offenbarung‘ übernommen, um erstmals eine Zusammenschau der Welt auszudrücken.
Bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel rückte das Wort nach 1818 in den Rang einer philosophischen Kategorie, bezeichnenderweise in seiner ‘Ästhetik‘, um Kunst mit Religion und Philosophie zu vergleichen. Er legte dabei eine Stufenfolge der Weltanschauungen fest, die in der Geschichte der Völker jeweils Verkörperungen des Zeitgeistes darstellen.
Der Bezug auf die anschauende Wahrnehmung wurde auf dreifache Weise prägend. Erstens wurde der Begriff am Ende des Vormärz nahezu ein Ersatzwort für Ästhetik (Hebenstreit 1843). Die Bindung von Welterklärungen an die Sprache der Künste und Künstler rückte das sinnenmäßige Erfassen der Welt in eine zwar niedere, aber doch akzeptierte Form der Erkenntnis (Hegel 1965, S. 291). Später sah der Freidenker Albert Kalthoff ‘Weltanschauung‘ als „Poetenphilosophie“ (Kalthoff 1905, S. 79).
Zweitens wurde zuerst in den ästhetischen Äußerungen die Entdeckung ausgedrückt, „dass das Individuelle des Individuums absolut gesetzt werden kann. Das vollzieht sich in der Subjektivierung von Meinungen, Neigungen und des eigenen Geschmacks“ (Meier 1967, S. 67). Seitdem sind Weltanschauungen subjektive Systemversuche, das Ich, Wir und die Welt zu bewältigen, die sich aufladen können zu Sphären „der zum System erhobenen Meinung“, verbunden mit dem „Versprechen, die geistige Welt und schließlich auch die reale eben doch aus dem Bewusstsein einzurichten“ (Adorno 1989, S. 118, 125).
Drittens produzierten die Kunstdebatten eine intellektuelle Öffentlichkeit, in der sich Friedrich Wilhelm Klopstock (1795), Heinrich Heine (1837) und viele andere über ‘Weltanschauungen‘ äußerten, während der Staat mit Kulturpolitik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Regeln und Grenzen der Freiheit einführte.
Die drei genannten Diskurse ebneten Wege, „auf denen das Wort der Philosophie seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts in die Sprache der ‘Laienwelt’ eindringt“ und zu einem Modewort wird, das die spätere „Verflachung des Wortgebrauchs“ vorbereitet. (Meier 1967, S. 36) Dieses Urteil gewann die Oberhand, als Gebildete, Vereine, soziale Bewegungen und politische Parteien um 1900 den Begriff ‘Weltanschauung‘ okkupierten, um Dogmen in Kirchen und Theologien sowie die Deutungsmacht von Berufsphilosophen in Frage zu stellen oder eigene Systeme errichteten.
‘Weltanschauung‘ geriet wegen des gleichzeitigen Bezugs auf Kultur und Religion in die Spanne zwischen Metaphysik und Wissenschaft. Hinzu kam, dass Weltanschauungen stark „in ihrem Anderssein von anderen Weltanschauungen“ leben. (Nebel 1947, S. 68) Die Eigenheit des Weltanschaulichen, beliebig Grundfragen aufzuwerfen, aber die eigenen Antworten nicht verifizieren zu müssen, weil sich die Wahrheit von selbst aus der jeweiligen Hauptannahme ergibt (‘Die Juden sind unser Unglück‘ oder ‘Die Arbeiterklasse hat eine historische Mission‘), machte Weltanschauungen zu Ideologien, die im 20. Jahrhundert Massenbewegungen leiteten.
Weltanschauung versus Religion
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff verengt und zur Sammelbezeichnung nichtreligiöser Weltanschauungen. Dabei wurden frühe Entwürfe neu bewertet. So hatte Friedrich Schleiermacher bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Rede von der ‘Weltanschauung‘ aufgegriffen und als individuelle Weltsicht des gläubigen Menschen akzeptiert und definiert. Bei ihm erhielt das Wort die Funktion eines Gegenbegriffs zu den verschiedenen Formen, die Gottesidee zu erfassen (Krause/Müller 2003, S. 550 ff.).
In diesem Verständnis als „Gesamtsicht von Gott, Welt und Menschen“, so 1907 in ‘F. Kirchner’s Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe‘ (1911, S. 1093) und als seelisch-geistige Grundhaltung und Einstellung fand das Wort Eingang in ‘Meyer’s Konversationslexikon‘ von 1909 (Bd. 20). Auch andere Wörterbücher bezeugen, dass Weltanschauungen ‘Gesinnung‘ und zunehmend die Neigung ausdrücken, aus subjektiver Perspektive Weltsichten auszubilden (Schmidt 1916, Eisler 1904). Martin Heidegger, als Philosoph ein Weltanschauungsproduzent, formulierte schließlich, „daß überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus.“ (Heidegger 1977, S. 88)
Um die allgemeine Erlaubnis individueller Weltsichten und um das Recht, diese gemeinschaftlich zu organisieren, auszudrücken, kam das Wort ‘weltanschaulich‘ 1919 in die Weimarer Verfassung und 1949 ins Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Seitdem ist „jede Lehre, welche das Weltganze universell zu begreifen und die Stellung des Menschen in der Welt zu erkennen und zu bewerten sucht“, ganz formal eine Weltanschauung. (Anschütz 1960, S. 649) Dabei handele es sich per Definition um „irreligiöse oder doch religionsfreie Weltanschauungen“ (Anschütz 1960, S. 650). Im Grundgesetz Artikel 4, Absatz 1 ist diese Bestimmung übernommen, ähnlich Artikel 33, Absatz 3.
Begriffskritik
Seit sich um 1900 Weltanschauungen in diversen Kulturbewegungen ausdrückten, gerieten sie in den Generalverdacht der Kulturlosigkeit, der Begriff sei eine Bezeichnung „der dümmsten Lebens- und Geschichtsphilosophie“. (Stern 1915, S. 45). So hielt Fritz Mauthner 1924 fest: „Der müsste schon ein ganz armseliger Tropf sein, wer heutzutage nicht seine eigene Weltanschauung hätte.“ (Mauthner 1924, S. 430) Humanistische Weltanschauungsgemeinschaften haben es angesichts dieser Verdikte schwer, ihre Anliegen angemessen vorzutragen.
Innerhalb des Humanismus prägte Victor Klemperer den Ausdruck ‘Klüngelwort‘. Er arbeitete heraus, dass der Begriff, wie er besonders im Nationalsozialismus verstanden wurde, den genauen „Gegensatz zur Tätigkeit des Philosophierens“ ausdrückte und in Tradition einer Opposition „gegen Dekadenz, Impressionismus, Skepsis und Zersetzung der Idee eines kontinuierlichen und damit verantwortlichen Ichs“ stand (Klemperer 1970, S. 177 f.).
In der Gegenwart ist der Begriff ‘Weltanschauung‘ wegen seiner Geschichte kompromittiert (Dornseiff 1946). ‘Wirkungszusammenhänge‘, wie sie Wilhelm Dilthey herstellte (Dilthey 1931), oder Fragen nach den ‘Existenzweisen‘ der Vernunft, wie sie Karl Jaspers stellte (Jaspers 1994), werden aktuell in den empirischen Kulturwissenschaften wieder aufgegriffen und wären auf Humanismus zu projizieren. Für Weltanschauungsgemeinschaften bestehen wegen der deutschen Rechtslage kaum Chancen, auf den Begriff zu verzichten, wenn sie sich innerhalb des Religionsverfassungsrechts sozial und politisch bewegen und öffentliche Mittel wie die Kirchen bekommen wollen (Groschopp 2010b) – es sei denn, das Religionsverfassungsrecht wandelt sich zu einem ‘Kulturverfassungsrecht‘, wohin es in der Tat bereits tendiert (Fritsche 2015) und sich in neue Widersprüche verwickelt.
Literatur
- Adorno, Theodor W. (1989): Philosophische Terminologie. Zur Einleitung (1973). Frankfurt am Main.
- Anschütz, Gerhard (1960): Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919 (1921). Bad Homburg.
- Dilthey, Wilhelm (1931): Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Leipzig.
- Dornseiff, Franz (1946): Weltanschauung. Kurzgefasste Wortgeschichte. In: Die Wandlung. Eine Monatsschrift. Heidelberg. 1. Jahrgang. Heft 12, S. 1086–1066.
- Eisler, Rudolf (1904): Rudolf Eislers Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, historisch-quellenmäßig bearbeitet. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin.
- Eucken, Rudolf (1896): Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung. Leipzig.
- Fritsche, Thomas (2015): Der Kulturbegriff im Religionsverfassungsrecht. Berlin.
- Groschopp, Horst (2010a): Konfessionsfreie und Weltanschauungspflege. In: Horst Groschopp (Hrsg.): Konfessionsfreie und Grundgesetz. Aschaffenburg, S. 143–168.
- Groschopp, Horst (2010b): „Von den Dissidenten zu den Religionsfreien. Zur Konzeption einer Konfessionsfreienpolitik in Deutschland“. In: Yvonne Boenke (Hrsg.): „Lieber einen Knick in der Biographie als einen im Rückgrat“. Festschrift zum 70. Geburtstag von Horst Herrmann. Münster, S. 395–412.
- Groschopp, Horst (2013): Der ganze Mensch. Die DDR und der Humanismus. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. Marburg.
- Hebenstreit, Wilhelm (1843): Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache. Wien.
- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1965): Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen … (1802). In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Hermann Glockner (Hrsg.). Jubiläumsausgabe. Bd. 1, Stuttgart.
- Heidegger, Martin (1977): Die Zeit des Weltbildes (1938). In: Martin Heidegger: Holzwege. Gesamtausgabe. Bd. 5. Frankfurt am Main.
- Jaspers, Karl (1994): Psychologie der Weltanschauungen (1919). Frankfurt am Main.
- Kalthoff, Albert (1905): Die Religion der Modernen. Jena, Leipzig.
- F. Kirchner’s Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe (1911). 6. Auflage. Leipzig.
- Klemperer, Victor (1970): LTI. Notizbuch eines Philologen (1947). Leipzig.
- Krause, Gerhard/Müller, Gerhard (Hrsg.) (2003): Theologische Realenzyklopädie. Band 35. Berlin.
- Mauthner, Fritz (1924): Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 3. 2., vermehrte Auflage. Leipzig.
- Meier, Helmut Günter (1967): „Weltanschauung“. Studien zu einer Geschichte und Theorie des Begriffs. Inaugural-Dissertation. Münster.
- Mertesdorf, Christine (2008): Weltanschauungsgemeinschaften. Eine verfassungsrechtliche Betrachtung mit Darstellung einzelner Gemeinschaften. Frankfurt am Main.
- Nebel, Gerhard (1947): Tyrannis und Freiheit. Düsseldorf.
- Scheler, Max (1929): Philosophische Weltanschauung. Gesammelte Aufsätze. Bonn.
- Schmidt, Heinrich (1916): Philosophisches Wörterbuch. 2., umgearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig.
- Schuffenhauer, Werner (1976): „Weltanschauung“. In: Georg Klaus/Manfred Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Bd. 2. Leipzig, S. 1287–1289.
- Stern, William (1915): Vorgedanken zur Weltanschauung. Leipzig.
Quelle:
Horst Groschopp: Weltanschauung/Weltanschauungsgemeinschaften. In: Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf: Humanismus: Grundbegriffe. Berlin/Boston 2016, S. 409–416.