Menschenwürde und Leidverständnis

Menschenwürde und Leidverständnis

Einleitung

Zu diesem Buch

Der vor­lie­gen­de Sam­mel­band ging aus zwei Tagun­gen der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Deutsch­land und einem Kol­lo­qui­um der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Ber­lin her­vor. Die The­men lau­te­ten Poli­tik der Men­schen­wür­de und der Selbst­be­stim­mung (in Koope­ra­ti­on mit der Poli­ti­sche Aka­de­mie der Fried­rich-Ebert-Stif­tung, Novem­ber 2009), die Bei­trä­ge von Joa­chim Kahl, Gui­do Klumpp, Gita Neu­mann (hier mit dem von 2009 zusam­men­ge­fasst) und Frie­der Otto Wolf; Huma­nis­mus und Ster­be­be­glei­tung – Span­nungs­feld „spi­ri­tu­el­le Dimen­si­on“ (April 2010), die Bei­trä­ge von Erhard Wei­her und Andrea Rich­au; Barm­her­zig­keit und Soli­da­ri­tät – nur säku­la­ri­sier­te Nächs­ten­lie­be? (mit dem Insti­tut für Gesell­schafts­ana­ly­se der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung, Dezem­ber 2010), der Bei­trag von Hubert Can­cik.[1]

Die Auf­sät­ze von Ulrich Tüns­mey­er und Andre­as E. Kili­an ste­hen im Zusam­men­hang mit den Debat­ten über „Spi­ri­tua­li­tät“. Der Text von Ernst Luther geht auf eine Leser­zu­schrift von Hart­mut Keg­ler zum Band Huma­nis­mus­per­spek­ti­ven zurück,[2] wie man über Per­spek­ti­ven des Huma­nis­mus ein Buch ver­öf­fent­li­chen kön­ne ohne Albert Schweit­zer zu wür­di­gen. Da zu die­sem Zeit­punkt gera­de die Mono­gra­phie von Ernst Luther erschie­nen war,[3] kam die­ser Bei­trag zustan­de, der gut in die­sen Sam­mel­band passt und ihn abrundet.

Titel und Unter­ti­tel ver­klam­mern die nun gedruck­ten Tex­te kei­nes­falls ledig­lich prag­ma­tisch. Sie sind gewis­ser­ma­ßen Pro­gramm. So sehr das latei­ni­sche Wort huma­ni­tas – neben „Bil­dung“ – die Bedeu­tun­gen „Barm­her­zig­keit“ und „Men­schen­wür­de“ ein­schließt, so zie­len bei­de Aus­drü­cke doch zuneh­mend auf zwei­er­lei „Anwen­dun­gen“ von „Huma­ni­tät“: die hel­fen­de Hin­wen­dung zum ein­zel­nen Men­schen und die Ach­tung der Mensch­lich­keit gegen­über jedem ein­zel­nen. Die­ser Dop­pel­sinn ist in die moder­ne Auf­fas­sung von Huma­nis­mus eingegangen.

Wäh­rend bis vor weni­gen Jah­ren eine als kon­ser­va­tiv zu beur­tei­len­de Kon­zep­ti­on von Huma­nis­mus – ver­ein­facht aus­ge­drückt – auf höhe­re Bil­dung in den Maß­stä­ben der Anti­ke setz­te und das Vor­ur­teil nähr­te, „Barm­her­zig­keit“ sei eine christ­li­che Sache, gibt der vor­lie­gen­de Band ande­re Ein­bli­cke sowohl hin­sicht­lich der Her­lei­tung von „Barm­her­zig­keit“ aus der römi­schen Sprach­welt selbst durch Hubert Can­cik als auch hin­sicht­lich der „Men­schen­wür­de“ durch Frie­der Otto Wolf.

Hat­ten sich vor­he­ri­ge Tagun­gen der bei­den Aka­de­mien mit Men­schen­wür­de, Men­schen­rech­ten und Bil­dung von Kin­dern und Jugend­li­chen gewid­met,[4] haben die genann­ten drei Tagun­gen, die die­sen Band spei­sen, ande­re Grup­pen und Pra­xis­fel­der des orga­ni­sier­ten Huma­nis­mus in den Blick genom­men – die Älte­ren, die Alten und die Sterbenden.

Ange­sichts dra­ma­ti­scher Alte­run­gen der Gesell­schaft sind Alters­rol­len und Alters­bil­der in Deutsch­land, wie Gui­do Klumpp plas­tisch zeigt, höchst strit­tig und in ihren Erklä­run­gen durch­aus hand­lungs­lei­tend. Aus die­sen Ent­wick­lun­gen fol­gert, dass sich der Schwer­punkt der Pro­ble­me auf die letz­te Lebens­pha­se legt, die des Ster­bens (Kahl, Neu­mann, Rich­au). Zudem kam, wesent­lich durch die­se Ver­la­ge­rung bedingt, ein The­men­ge­biet hin­zu, die „Spi­ri­tua­li­tät“ (Wei­her, Tüns­mey­er, Kilian).

Im Mit­tel­punkt die­ses Ban­des steht zwei­fel­los der Auf­satz von Gita Neu­mann, dies nicht nur wegen sei­nes gro­ßen Umfangs. Die Autorin unter­nimmt es viel­mehr, eine eige­ne Kon­zep­ti­on vom Zusam­men­hang der aktu­el­len Ster­be­kul­tur zu ent­wi­ckeln, in dem sie hier offe­ne Fra­gen (etwa die nach einem ärzt­lich beglei­te­ten Sui­zid) mit dem unent­wi­ckel­ten Stand einer huma­nis­ti­schen Ver­ar­bei­tung die­ser Pro­ble­me und der eige­nen – z. B. hos­piz­li­chen – Pra­xis zu kon­fron­tiert.[5] Sie geht über den engen Bereich der Ster­be­hil­fe hin­aus, nimmt die­se als Auf­ga­be in einer Lebens­pha­se in den Blick und stellt The­sen über Huma­nis­mus und Tod in kul­tur­his­to­ri­scher Per­spek­ti­ve auf.

Ster­be­hil­fe, so ihre Auf­fas­sung, ist inten­si­ve Lebens­en­de-Beglei­tung an der Grenz­schei­de zum Tod, am Ende des ein­ma­li­gen und unwie­der­hol­ba­ren Indi­vi­du­ums. Kahl inter­pre­tiert die­ses Umge­hen mit Ster­ben und Tod als Teil der Lebens­kunst. Die Kunst, sich lebens­lang dar­auf vor­zu­be­rei­ten in dem Sin­ne, dass das Ster­ben als natür­li­cher Vor­gang ver­in­ner­licht ist, beschäf­tigt auch den Text von Neu­mann. Die hel­fen­de Per­son bleibt stets zurück wie die nähe­re oder fer­ne­re Gesell­schaft, sei es als Fami­lie, Freun­des- und Kol­le­gen­kreis oder die Welt­ge­mein­schaft, die als sol­che nicht „erfahr­bar“ ist.

Jeden­falls fin­det die Bezie­hung, die beson­ders die ster­ben­de und die hel­fen­de Per­son ein­gin­gen – und an der vie­le ande­re direkt oder indi­rekt betei­ligt waren – ihr Ende mit dem Tod der ster­ben­den Per­son. Rich­au meint in ihrem Bei­trag, dass die­se Vor­gän­ge der ritu­el­len Beglei­tung ver­die­nen. Wei­her berich­tet, wie sich in Ster­be­be­glei­tungs­vor­gän­gen Spi­ri­tua­li­tät auch säku­lar sich fin­det. Tüns­mey­er warnt vor den his­to­ri­schen und reli­giö­sen Tücken des Begriffs der Spi­ri­tua­li­tät, ist aber offen für prä­zi­se­res Erfas­sen des­sen, was da real statt­fin­det. Kili­an schlägt vor, dann lie­ber gleich einen neu­en (alten) Begriff zu neh­men, den der Imaginalität.

Leid ist sinnlos

Das Wort „Leid“ kommt aus dem mit­tel­hoch­deut­schen Wort „Leit“ und ist etwas, das einem zuge­fügt wird.[6] Es gibt ein Sub­jekt des Ver­ur­sa­chens von Leid und bedeu­tet zunächst – sehr ver­ein­facht erklärt – das ange­ta­ne Böse, das Unrecht, die Schä­di­gung, die Krän­kung, die Belei­di­gung, die Sün­de. Das Wort geht dann im 8. bis 10. Jahr­hun­dert eine Ver­bin­dung mit dem alt­hoch­deut­schen Adjek­tiv „leid“ ein, das so viel bedeu­te­te wie schmerz­lich, bedau­er­lich, wider­wär­tig, aber auch ver­ab­scheu­en und fre­veln. Die­ses Wort wird dann im 10.–12. Jahr­hun­dert sub­stan­ti­viert und bleibt ein Neu­trum – das Leid.

Wie die­se Sprach­ge­schich­te sich auch gestal­tet hat, es muss­te erst ent­deckt wer­den, dass Men­schen lei­den kön­nen, es aber eigent­lich nicht müs­sen. Jac­ques Le Goff erklärt die­se Ent­de­ckung mit zwei Neue­run­gen im dama­li­gen Chris­ten­tum: [7] zum einen mit der Femi­ni­sie­rung der Fröm­mig­keit (Chris­tus ist weni­ger der Sieg­rei­che, der Bezwin­ger des Todes, als viel­mehr der Lei­dens­mann, der von einer Mut­ter gebo­ren wur­de, die es eben­falls zu ver­eh­ren gilt); und zum ande­ren mit dem mit­tel­al­ter­li­chen Men­schen­bild des 12. Jh., in dem der Mensch nach dem Bil­de Got­tes geformt erscheint und als Indi­vi­du­um wert­voll wird.

Außer­dem ist zu berück­sich­ti­gen, dass das Bild des lei­den­den Jesus am Kreuz erst am Ende des 11. Jh. auf­kommt und sich gegen ande­re popu­lä­re Sym­bo­le (etwa den Toten­kopf) erst durch­set­zen muss­te – das fügt der Aus­ein­an­der­set­zung von Gita Neu­mann mit dem Kreuz­sym­bol in die­sem Band noch eine Dimen­si­on hin­zu. Jeden­falls führt die Ent­wick­lung dahin, dass in unse­rer heu­ti­gen Kul­tur auch das meta­phy­si­sche Lei­den am Sein grund­sätz­lich zuge­las­sen ist mit der Kon­se­quenz in der christ­li­chen Theo­lo­gie, dass Gott zwar der Schöp­fer der Welt ist, er aber das Lei­den an der und in der Welt nicht besei­ti­gen kann, weil es dazugehört.

Der Huma­nis­mus jedoch kann im Lei­den kei­nen beson­de­ren Sinn sehen, denn Leid hat kei­nen Wert an sich. Leid und Lei­den gehö­ren nicht zwangs­läu­fig dazu und sie haben Ursa­chen, dar­un­ter sol­che, die besei­tigt wer­den kön­nen. Es mag ja das gel­ten, was Äschylus im Aga­mem­non den Chor das Lob auf Zeus sin­gen lässt, dass wir durch Lei­den zu ler­nen haben. Doch was ler­nen wir? Im Huma­nis­mus ist das Leid kei­ne anthro­po­lo­gi­sche Kon­stan­te, son­dern höchs­tens eine Lek­ti­on, die einem durch das Leben erteilt wer­den kann, ein Schick­sal, gar nicht durch einen Gott oder ein Prin­zip begründet.

Die Suche nach dem, was Leid ist und woher und seit wann wir wis­sen, was das für uns ist, sto­ßen wir auf eine Viel­zahl bekann­ter Weis­hei­ten, allen vor­an den Psalm 34,20, wonach der Gerech­te viel lei­den müs­se, ihm aber der Herr aus dem allen her­aus­hilft. Goe­the hat zu die­sem Spruch zwei unter­schied­li­che Inter­pre­ta­tio­nen gelie­fert, die sich nur durch ein Wort – aber dadurch gründ­lich – unter­schei­den: Im Tas­so lässt er 1789 sei­nen Hel­den gegen Ende des Stü­ckes sagen – und Gott gibt hier sozu­sa­gen die Spra­che vor, ver­leiht die Befä­hi­gung zum Lei­denaus­druck durch den Glauben:

Und wenn der Mensch in sei­ner Qual verstummt,

Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.

Mehr als drei­ßig Jah­re spä­ter ist Goe­the hier kri­ti­scher. In sei­ner 1823 in Karls­bad ver­fass­ten Ele­gie bekommt der Spruch eine ande­re Wen­dung: Gab mir ein Gott, zu sagen, was ich lei­de. Die Spra­che Got­tes befä­higt hier zur Lei­denserklä­rung. Es geht nicht mehr vor­der­grün­dig um den Glau­ben als ein Gefühl, das beim Gläu­bi­gen durch kein ande­res zu erset­zen ist, son­dern um ein Glau­bens­sys­tem, eine Reli­gi­on, die das gan­ze Sein erklärt.

Leid ist – das zeigt das Goe­the-Zitat – eine kul­tu­rel­le Kate­go­rie nicht nur in der Hin­sicht, dass man hier­zu­lan­de öffent­lich oder pri­vat lei­den kann und dies sogar zei­gen darf. Sie ist dies auch hin­sicht­lich ihrer ritu­el­len Auf­füh­run­gen. Dass Mann oder Frau (und das macht kul­tur­ge­schicht­lich wie sozio­lo­gisch und wohl auch medi­zi­nisch wich­ti­ge Unter­schie­de) in Ges­ten, in Wor­ten oder durch Schrei­en zei­gen wol­len, sol­len, müs­sen, dür­fen oder nicht dür­fen, dass sie lei­den, ist in je his­to­ri­sche, raum-zeit­lich defi­nier­te Kul­tu­ren ein­ge­bet­tet. Selbst in aktu­el­len Kul­tu­ren Euro­pas, auch in den oft so ein­heit­lich erschei­nen­den christ­li­chen, gibt es hier­zu­lan­de sowohl Regeln, die zum stil­len Lei­den auf­for­dern, als auch sol­che, die lau­tes Kla­gen erwarten.

Leid ist mehr als Schmerz. Der phy­si­sche Schmerz kann zum Leid wer­den, wenn er sich auf dem Wege sei­ner Ver­bin­dung mit psy­chi­scher Schmerz­ver­ar­bei­tung ver­ste­tigt und sich mit einer mehr oder min­der dra­ma­ti­schen Auf­füh­rung der Schmerz­emp­fin­dens aus­drückt. Dass Men­schen ihr Lei­den zei­gen, es sogar ritu­ell auf­füh­ren, setzt wie­der­um vor­aus, dass sie ers­tens die­ses sub­jek­ti­ve Emp­fin­den bei sich selbst über­haupt zulas­sen; und zugleich zwei­tens von ande­ren erwar­ten, dass die­se ihr Leid tei­len, rela­ti­vie­ren, nach­emp­fin­den, bedau­ern oder auch als über­trie­ben oder unan­ge­mes­sen zurück­wei­sen. In einer sol­chen Kul­tur kommt Ster­be­hil­fe ein kon­sti­tu­ie­ren­der Rang zu.

Denn es ist kul­tur-his­to­risch und aktu­ell-eth­no­lo­gisch kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich, dass jemand Leid oder gar Mit­leid zeigt und zudem noch zu erken­nen gibt, dass er oder sie an etwas lei­det – an einer nicht beherrsch­ba­ren Gewalt, z.B. an Schmerz; an einer See­len­la­ge des Aus­ge­lie­fert­seins; am Bewusst­sein der dau­er­haf­ten Ein­schrän­kung durch Krank­heit; das Erken­nens, dass eine Lebens­hal­tung bzw. ‑pla­nung schei­tert; oder an der Welt an sich.[8] Es ist die­se schwie­ri­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on über die Regeln, dar­über zu reden, die uns die Moder­ne aus­ge­trie­ben hat. So pen­deln wir in der Debat­te in einer Span­ne, die Leid zwi­schen dem eher belang­lo­sen Leid­tun und dem unsag­ba­ren Schmerz, der kein Leid mehr ist, son­dern uner­träg­li­che Qual, ansiedelt.

Leiden in Würde?

Eben weil Leid eine kul­tu­rel­le Kate­go­rie ist, gehört sie zum Kern­be­stand nahe­zu aller Reli­gio­nen und Welt­an­schau­un­gen. „Lei­den“ ist ein sub­jek­ti­ver quä­len­der Zustand, in dem Men­schen emp­fin­den, dass sie objek­tiv „etwas erlei­den“, dass ihnen Bedürf­nis­se und Wün­sche ver­sagt wer­den. Dabei reicht die psycho-phy­si­sche Span­ne sehr weit und hat auch ihre Film- und Thea­ter­fi­gu­ren: der Ver­zwei­fel­te, der Stadt- und Land­n­eu­ro­ti­ker, der ein­ge­bil­de­te Kran­ke und der bein­har­te Märtyrer.

Und der Lei­dens­zu­stand selbst hat ver­schie­de­ne Abstu­fun­gen, für die Kul­tu­ren ihre Ver­ar­bei­tungs­for­men aus­bil­den. Der Bogen spannt sich vom kur­zen Leid der schnell getrock­ne­ten Kin­der­trä­nen und dem Lie­bes­schmerz, über das zeit­wei­li­ge Ach und Weh und den Kum­mer, den Gram und die Trau­er bis zum Siech­tum, dem erst mit dem Tod enden­den Lei­den – dem Lei­den derer, die Lei­den and­rer leiden.

Da das Leid viel­ge­stal­tig sich zeigt, spielt „Men­schen­wür­de“ im Umgang damit und spie­len Ster­be­hil­fe­be­zie­hun­gen auf dop­pel­te Wei­se eine wich­ti­ge Rol­le: als Maxi­me der Hel­fer­per­son und als Anspruch und Recht der ster­ben­den Per­son, die­se zu erfah­ren in kon­kre­ten Wor­ten und Maß­nah­men. Die Situa­tio­nen, die hier immer wie­der ent­ste­hen, sind nicht völ­lig objek­ti­vier­bar, schon des­halb, weil Emo­tio­nen die Wahr­neh­mung und das Han­deln beein­flus­sen; vor allem aber, weil hier je Ein­ma­li­ges statt­fin­det, kon­kre­te Men­schen auf­ein­an­der tref­fen und schließ­lich Ver­gäng­lich­keits­er­fah­run­gen und Ster­be­sym­pto­me sich zwar allen Betei­lig­ten zei­gen, aber nur von der ster­ben­den Per­son kör­per­lich wirk­lich erlebt wer­den durch Krank­heit, Leid, Schmerz, Demenz …

Erst dadurch – und zwar, nach­dem die Moder­ne seit dem Ende des 18. Jahr­hun­derts die Not­wen­dig­keit von Leid prak­tisch und geis­tig zu bestrei­ten begann – wird eine wei­ter gefass­te Spi­ri­tua­li­tät nötig, den Weg zu Gott zu fin­den, an der Mensch­heit zu lei­den oder geis­tig zumin­dest kurz­zei­tig aus der Welt in die der Ewig­keit zu glei­ten.[9]

Zwar haben die Begrif­fe Spi­ri­tua­li­tät und spi­ri­tu­el­le Beglei­tung, teils man­gels eines ande­ren Begriffs, teils wegen der Füh­rungs­rol­le christ­li­cher Hos­pi­ze noch eine domi­nan­te reli­giö­se Note, doch – weil sich nun ver­stärkt Psy­cho­lo­gen und Phi­lo­so­phen ein­men­gen – drü­cken bei­de Begrif­fe stär­ker als vor­her den „Geist“ aus, der die Ethik der Zwi­schen­mensch­lich­keit in die­sem prak­ti­schen Gefü­ge lei­ten soll oder will.

Bei dem, was in die­sen Küns­ten des Augen­blicks der hos­piz­li­chen Hil­fe­wirk­lich­keit abläuft, was hier gefühlt und gear­bei­tet wird und was sich zwi­schen Selbst­deu­tung von Lebens­sinn und tat­säch­li­chem Lebens­en­de abspielt, sind alle Prak­ti­ker auf der Suche nach dem rich­ti­gen Tun und dem ange­mes­se­nen Aus­druck. Die­se Ermitt­lung wird durch reli­giö­se wie welt­an­schau­li­che Posi­tio­nen des jeweils Suchen­den nicht ein­fach nur beein­flusst. Sie gibt durch­aus Rich­tung vor und erwar­tet ein bestimm­tes Ergeb­nis, will Wahr­hei­ten bestä­tigt sehen. Wis­sen­schaft ent­wi­ckelt sich erst, etwa in der spi­ri­tu­ell care (doch zeigt sich, dass die kirch­li­chen „Spe­zia­lis­ten“ auf die­sem Feld ihren theo­lo­gi­schen Vor­sprung klug zu nut­zen wis­sen, um die neu­en Lehr-Stel­len zu besetzen.

Dass Lei­den im Leben pas­sie­ren kann, das ist heu­te unbe­strit­ten. Es ist aber mehr als pro­ble­ma­tisch gewor­den, dem Lei­den selbst einen Sinn zuzu­schrei­ben, etwa weil Men­schen nun ein­mal in Sün­de leben wür­den, Schuld auf sich laden usw. Die alte christ­li­che Zumu­tung von Leid wan­delt sich, weil das Chris­ten­tum nicht mehr vor­ran­gig als Reli­gi­on der Lei­den­den wahr­ge­nom­men wird, die dar­aus Hoff­nung in Jesus und / oder / als Gott schöp­fen, dar­zu­stel­len ver­mag. Eine sol­che Grau­sam­keit in Zei­ten von Medi­ka­men­tie­rung von Beschwer­den wird heu­te als wirk­lich mit­tel­al­ter­lich ange­se­hen. Kir­chen waren stets bemüht, zeit­ge­mäß sein. Des­halb tre­ten sie heu­te offen­siv für Schmerz­lin­de­rung, Pal­lia­tiv­me­di­zin und Hos­piz­be­treu­ung ein.

Geblie­ben ist aber zwei­er­lei, ers­tens die Grund­an­nah­me von der Unver­meid­bar­keit von Leid (weil sonst der berufs­mä­ßig gespen­de­te pries­ter­li­che Trost im Namen eines gnä­di­gen und lie­ben­den Got­tes über­flüs­sig wür­de; der böse Gott ist schon gewi­chen); und zwei­tens die grund­sätz­li­che Ableh­nung hedo­nis­ti­scher, eudä­mo­nis­ti­scher und huma­nis­ti­scher Leh­ren über das Leid als einem Übel.

Wir fin­den heu­te vie­le Ethi­ken, die huma­nis­tisch sind, weil sie Leid vom Men­schen her zu bestim­men und zu lin­dern, ja zu ver­hin­dern ver­su­chen. Die­se Selbst­ver­ständ­lich­keit ethi­schen Argu­men­tie­rens greift inzwi­schen auch in Theo­lo­gien Raum. Die­se Selbst­ver­ständ­lich­keit des huma­nis­ti­schen Dis­kur­ses, der das Wort Huma­nis­mus nicht zwangs­läu­fig erfor­dert, hat dazu geführt, den mensch­li­chen Leid­be­griff auf die Tier­welt aus­zu­deh­nen.[10]

Die Ach­tung der Men­schen­wür­de ist auch als Leid­ver­hin­de­rung zu sehen. Aus huma­nis­ti­scher Per­spek­ti­ve lau­tet die The­se dazu: Der Mensch – der immer ein kon­kre­tes, ein­ma­li­ges Indi­vi­du­um ist – muss nicht lei­den, aber er oder sie darf es. Das mag zynisch klin­gen ange­sichts The­ma­tik die­ses Buches. Aber es ist im Kul­tu­renver­gleich nicht neben­säch­lich fest­zu­hal­ten, dass es in unse­rer Kul­tur weder ver­bo­ten ist, Leid sicht­bar zu emp­fin­den, noch in bestimm­ten Situa­tio­nen unbe­dingt Leid oder Mit­leid vor­zei­gen zu müs­sen. Schon gar nicht darf man hier­zu­lan­de – aus wel­chem bösen oder heh­ren Grund auch immer – von einem ande­ren Men­schen zum Lei­den gezwun­gen wer­den, nur damit die­ser lei­det, auch nicht zu einem höhe­ren Nut­zen, der sich aus einer beson­de­ren Reli­gio­si­tät oder welt­an­schau­li­chen Behaup­tung ablei­ten mag.

Das ist nicht nur so, wenn es all­ge­mein um Men­schen­wür­de und Leid geht, wenn Pro­ble­me des Krie­ges, der Fol­ter, des öffent­li­chen Quä­lens, der Ver­ge­wal­ti­gun­gen und ähn­li­che gewalt­sa­me Lei­dens­zu­fü­gun­gen ver­han­delt wer­den, wo das Leid-Zufü­gungs-Ver­bot öffent­lich aner­kannt wird, obwohl auch hier, was die kul­tu­rel­len Auf­fas­sun­gen vom Lei­den und Lei­den­müs­sen betrifft, prak­tisch sehr unter­schied­lich sind (z.B. beim Umgang mit Todes­stra­fe, Straf­voll­zug, Siche­rungs­ver­wah­rung. Ein­wei­sung in Anstal­ten usw.).

In der Ster­be­kul­tur ist dies lei­der noch anders. Die Gesund­heits­in­dus­trie hat Appa­ra­te und Che­mi­ka­li­en her­vor­ge­bracht, deren Anwen­dun­gen dazu die­nen kön­nen, Leben, aber auch Lei­den zu ver­län­gern, zu ver­kür­zen, zu mil­dern, gar ganz aus­zu­schal­ten. Dies zwingt zum Nach­zu­den­ken dar­über, was gesell­schaft­lich gewollt ist und wel­che Kri­te­ri­en und Wert­vor­stel­lun­gen die­sem Wol­len zugrun­de lie­gen (sol­len), zumal die ethi­schen Regeln einer ganz neu­en, aller­letz­ten Lebens­pha­se, sich nicht durch die moder­ne Medi­zin regeln las­sen wird, son­dern durch Lebens­wei­sen, die sich (soeben, wir sind dabei) neu bil­den, weil sich Men­schen ver­hal­ten zu dem, was nach dem rüs­ti­gen Senio­ren­da­sein und vor dem Tod mit ihnen geschieht bzw. gesche­hen kann. Das gab es frü­her nicht, weil Men­schen in Men­ge nicht so lan­ge lebten.

Auch die­se Lebens­pha­se wird kul­tu­rell defi­niert wer­den, so wie um 1900 die „Erfin­dung der Jugend“ und die „Ent­de­ckung der Kind­heit“ die Sicht auf die­se Abschnit­te präg­ten. Der gesell­schaft­li­che Umgang mit Kind­heit und Jugend hat in den letz­ten hun­dert Jah­ren eine Viel­zahl von Insti­tu­tio­nen und Ideen her­vor­ge­bracht, die Wirt­schaft und Staat und Fami­li­en heu­te prä­gen und die sowohl als selbst­ver­ständ­lich also auch als strit­tig gel­ten. Jeden­falls gehö­ren sie zu unse­rer Kultur.

Gita Neu­mann for­dert in ihrem Bei­trag – was die neue letz­te Lebens­pha­se betrifft – neue Ideen für neue Insti­tu­tio­nen, kann es doch ihrer Mei­nung nach nicht sein, dass die Debat­te über Erfol­ge der Hos­pi­ze über deren Mar­gi­na­li­tät hin­weg­se­hen lässt, dass die­se als bei­spiel­haft gel­ten, wo doch das mas­sen­haf­te Ster­ben in den Hei­men unbe­wäl­tigt ist. Darf man die Fra­ge stel­len, ob nicht staat­li­ches För­der- und pri­va­tes Kas­sen­geld umge­lei­tet gehört? Was von dem, was in Hos­pi­zen (bei aller gewach­se­nen Zahl, bei aller Leis­tung) nur weni­gen zugu­te­kommt, ist zu ver­all­ge­mei­nern für eine Ster­be­kul­tur – und dann noch eine humanistische?

Der Huma­nis­ti­sche Ver­band – so auch die Mei­nung des Her­aus­ge­bers – kann nicht nur „Hos­piz­meis­ter“ wer­den wol­len. Er hat sich den Bedin­gun­gen der Ster­be­hil­fe in Hei­men und den damit ver­bun­de­nen welt­an­schau­li­chen und poli­ti­schen Fra­gen zu widmen.

Fazit

Ers­tens: Die Ach­tung der Men­schen­wür­de schließt die Ver­hin­de­rung oder Mil­de­rung von Leid ein. Die­ses Bestre­ben ist barm­her­zig. Eine neue, kon­fes­sio­nell über­grei­fen­de, auch die poli­ti­sche Debat­te über Ster­be­hil­fe beein­flus­sen­de reli­giö­se Leid-Deu­tung ist in der Defen­si­ve. Sie macht Men­schen Angst mit ihrer The­se, dass wir ratio­na­len Men­schen völ­lig die Furcht vor Ster­ben und Tod auf­ge­ben könn­ten mit – wie man meint – unab­seh­ba­ren Fol­gen, die – so scheint es – irgend­wie zur Höl­le auf Erden füh­ren, wenn man die­se Furcht aufgibt.

Zwei­tens: So wahr es ist, dass sich gegen­wär­tig eine neue Lebens­pha­se aus­bil­det, um deren kul­tu­rel­le Gestal­tung gerun­gen wird, näm­lich die Zeit zwi­schen dem rüs­ti­gen Senio­ren­da­sein und dem Tod, durch­aus unter Umstän­den eine lan­ge Pha­se des Ster­bens, in der Men­schen Siech­tum erlei­den kön­nen, so falsch ist es, die­se Pha­se als eine Zeit des Lei­dens zu beschrei­ben, die man ertra­gen muss. Der Tod ist unaus­weich­lich und eine Auf­er­ste­hung wird es nicht geben. Nur noch 28 % der evan­ge­li­schen und 47 % der katho­li­schen Chris­ten glau­ben an die­se Grund­aus­sa­ge ihrer Reli­gi­on. Noch so vie­le Pfle­ge­hei­me mit noch viel mehr Pal­lia­tiv- und Hos­piz­ver­sor­gung (letz­te­re defi­ni­tiv nur für die letz­ten Wochen, allen­falls Mona­te) wer­den Schmer­zen und Lei­den nicht ver­hin­dern kön­nen. Es muss also mög­lich sein, dass Men­schen selbst bestim­men, dass sie das nicht erlei­den möch­ten. Also muss es mög­lich sein, ihnen beim Ster­ben zu helfen.

Drit­tens: Unmit­tel­bar damit zusam­men­hän­gend, aber beson­ders per­fi­de und anti-huma­nis­tisch (um es zuzu­spit­zen) sind Ver­su­che, die Selbst­be­stim­mung (den Pati­en­ten­wil­len) dar­über, was über­haupt als erträg­li­ches und uner­träg­li­ches Lei­den emp­fun­den wird, außer Kraft zu set­zen bzw. durch „Beru­fe­ne“ zu defi­nie­ren. Auch hier wir­ken reli­giö­se Bil­der, v. a. das Wun­der von der Wie­der­auf­er­ste­hung vom Kran­ken­bett; die Hoff­nung auf den Ret­ter, wenn die Not am größ­ten ist. Damit ver­bun­den ist oft die gebets­müh­len­ar­ti­ge Behaup­tung, Ster­be­hil­fe ent­spre­chend dem Wil­len des Schwer­kran­ken und sprä­che gegen das Für­sor­ge­prin­zip, als ob es nicht auch eine Für­sor­ge gäbe, dem Lei­den­den gegen­über, der wünscht, sein Lei­den zu been­den, auch und gera­de dadurch, dass man beim Ster­ben Hil­fe leis­tet – was ja schon der Name sagt: Sterbehilfe.

Fuß­no­ten

  1. Wei­te­re Bei­trä­ge die­ser Tagung fol­gen in ande­ren Aus­ga­ben der Schrif­ten­rei­hen der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mien.
  2. Vgl. Huma­nis­mus­per­spek­ti­ven. Hrsg. von Horst Gro­schopp. Aschaf­fen­burg 2010 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Deutsch­land, Bd. 1).
  3. Vgl. Ernst Luther: Albert Schweit­zer – Ethik und Poli­tik. Ber­lin 2010.
  4. Vgl. Huma­nis­mus und jun­ge Gene­ra­ti­on. Hrsg. von Horst Gro­schopp. Aschaf­fen­burg 2010 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Ber­lin, Bd. 3).
  5. Lei­der war es nicht mög­lich, die Bei­trä­ge der Ver­tre­te­rin­nen (aus­nahms­los Frau­en) der Ster­ben­de beglei­ten­den Pra­xis zu ver­schrift­li­chen.
  6. Im Fol­gen­den wer­den Grund­ge­dan­ken eines frü­he­ren Tex­tes wie­der auf­ge­grif­fen. – Vgl. Horst Gro­schopp: Huma­nis­mus, Leid und poli­ti­sches Ster­be­hil­fe­kon­zept des Huma­nis­ti­schen Ver­ban­des. In: Selbst­be­stim­mung am Ende des Lebens, hrsg. von Alex­an­der End­reß und Micha­el Bau­er, Aschaf­fen­burg 2007, S. 170–180 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Bay­ern, Bd. 1).
  7. Vgl. Jac­ques Le Goff: Die Geburt Euro­pas im Mittelalter.2. Aufl., Mün­chen 2004, S.112 ff.
  8. Dass dies nicht selbst­ver­ständ­lich ist in allen Kul­tu­ren zeig­te 2011 z. B. der Umgang mit dem Tsu­na­mie in Japan.
  9. Ein Blick in die neue­re Debat­te über Leid und Lei­den zeigt, dass die damit zusam­men­hän­gen­den Fra­ge­stel­lun­gen einer Ethik der Ster­be­hil­fe auch unter dem Begriff der „Spi­ri­tua­li­tät“ ven­ti­liert wer­den, was die­sem Begriff neu­es Leben ein­ge­haucht hat und ihn zugleich refor­miert. Er reicht inzwi­schen weit über bis­he­ri­ge Anbin­dun­gen an reli­giö­se Gefüh­le und Bräu­che, gar über die Reduk­ti­on auf Fröm­mig­keit hin­aus.
  10. Die­se Beob­ach­tun­gen ist der nähe­ren Betrach­tung wert.

Quel­le:

Horst Gro­schopp: Men­schen­wür­de und Leid­ver­ständ­nis. Ein­lei­tung. In: Barm­her­zig­keit und Men­schen­wür­de. Selbst­be­stim­mung, Ster­be­kul­tur, Spi­ri­tua­li­tät. Hrsg. Von Horst Gro­schopp. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2011, S. 7–16 (Schrif­ten­rei­he der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Ber­lin, Bd. 4).

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