Aus den Memoiren von Margarete von Pusirewsky (1872–1948)
Obwohl ich den Buchtitel seit spätestens 2018 kannte und einmal als Unterquelle nannte, weil es bei der Quelle selbst so angegeben war, hatte ich das Buch von Margarete von Pusirewsky fatalerweise nie in der Hand: „Kirschen im Kaukasus. Ein Schicksal zwischen Ost und West. Stuttgart 1984, 343 S.“. Wer kommt bei einem solchen Titel auf Penzig?
Die Angabe der Unterquelle erfolgte in einem Artikel über das Wirken von Adolph Hoffmann in der Revolution 1918 in der MIZ. Hoffmann war gemeinsam mit Konrad Haenisch Kultusminister und setzte die Staat-Kirche-Trennung vorübergehend durch. Zur Illustrierung war ich im Internet auf ein Foto seiner öffentlichen Aufbahrung am 6. Dezember 1930 im Krematorium Berlin-Wedding gestoßen. Als Quelle war angegeben, es sei „Familienbesitz Lars Hoffmann“ und den Lebenserinnerungen von Margarete von Pusirewsky entnommen, sogar eine Seitenzahl war angegeben. Das hat sich als falsch erwiesen.[1]
In Penzigs Schriften (sein Nachlass ist verschollen) fand sich kein Bezug auf Margarete von Pusirewsky, genauer: Der Weg war verstellt. Die wesentliche Quelle, sein Leben zu erschließen, sind seine eigenen Erinnerungen.[2] Darin geht er auf sein Buch „Briefe über Erziehung an eine Sozialistin“ von 1922 ein. Es enthält eine Widmung: „Meiner verehrten und lieben Freundin Frau Margarete von Pusyrewsky [sic] seien diese Briefe an eine Namensschwester hochachtungsvoll zugeeignet“. Dem Namen ging ich vergeblich nach, fand besonders keine Sozialistin dieses Namens. Darauf folgerte ich falsch,[3] sie sei als Sozialistin Adressatin dieser Briefe gewesen, die sich jedoch – zuerst in der „Gleichheit“ erschienen – an eine unbekannte Person oder den Typus „Sozialistin“ richteten. Ich fand zwischen 1921 und 1924 erschienene vier Texte einer Pusyrewsky [sic] in der „Ethischen Kultur“.
Der Weg zur Erkenntnis des Fehlers in meiner Arbeit war Zufall. Als ich dieses Frühjahr einige gesammelte Unterlagen meines inzwischen erschienenen Buches über Rudolph Penzig (1855–1931) für das Archiv ordnete, fiel mir eine Kopie der Titelseite der Pusirewsky-Memoiren in die Hände mit meinem handschriftlichen Vermerk „Freireligiöse Berlin Wille Penzig“. Weder dieser allgemeine Hinweis, noch der Titel der Memoiren ließen ahnen, welche Bedeutung das Buch selbst für meine Publikation hätte haben können, denn die Autorin pflegte über zwanzig Jahre regen Kontakt mit Penzig. Noch ahnte ich das nicht, aber ich machte mich auf die Suche nach ihr.
Dabei stieß ich auf die Forschungen von Katja Wezel in Riga, die in Deutschland promoviert hatte, in einigen Projekten mitarbeitet und zur komplizierten Gegenwart und Geschichte Lettlands publiziert. Da Penzig einige Jahre nahe Riga eine deutsche Schule leitete und dann der Vertreibung der zugereisten Deutschen unter Zar Alexander III. zum Opfer fiel, war ich auf die „Deutsch-Balten“, vorher „Baltendeutschen“, in der Verwaltungssprache „Deutschrussen“ gestoßen, eine für mich unbekannte Welt, die von Pusirewsky aus der Vergessenheit holt.
Alle drei Benennungen haben es in sich: „Deutsch-Balten“ drückte die Zugehörigkeit dieser Volksgruppe zu den Deutschen besonders während des NS zu Deutschland aus. Die Bezeichnung „Baltendeutsche“ verweist auf Eigenständiges, sowohl in Bezug auf das Deutschsein, aber auch hinsichtlich der anderen im Baltikum lebenden Ethnien. „Deutschrussen“ (ein heute kurios klingendes Wort) zeigt die Einvernahme dieser Volksgruppe, seit dem 12. Jahrhundert in Lettland und Estland siedelnd, durch das Russische Reich. Es finden sich Abstämmige von dort als teils hohe Offiziere in Diensten Russlands und später Deutschlands. So war Bernd Freytag von Loringhoven, bei dessen Vorfahr Penzig zu Gast war, zunächst in Guderians Panzerarmee, dann im Führerbunker und zuletzt stellvertretender Generalinspekteur der Bundeswehr.[4]
Frau Wezel sandte mir freundlicherweise ihren Aufsatz, der das Fluchtschicksal von Margarete von Pusirewsky plastisch und detailliert beschreibt, ihrem Leben Schritt für Schritt nachgeht. Im Mittelpunkt steht besonders die Zeit nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939, der die Baltendeutschen in den 1939 eigens eingerichteten „Reichsgau Wartheland“,[5] wo sie die Polen vertreiben, bis sie die Rote Armee sie westwärts treibt, und Lettland bis zu deren Auflösung zur Sowjetunion gehört.[6] Wezel geht in ihrer Studie nicht auf Penzig ein, bestätigte aber den engen Kontakt. Sie schickte mir sogar Kopien des Buches. Ich hatte es aber bereits antiquarisch bestellt.
Die Memoiren erwiesen sich als eine ebenso spannende wie abenteurliche Geschichte nicht nur der Autorin, sondern deren Eingebundensein in die Oberschicht und deren sozialer Abstieg durch das Hineingeraten in die Kriege hegemonialer Mächte, hier Deutschland und Russland. In ihrem Selbstverständnis sieht sich Margarete von Pusirewsky mit den anderen Baltendeutschen als Kulturvermittlerin zwischen Russen und Deutschen, bis der Erste Weltkrieg, dann die Revolution, schließlich der Zweite Weltkrieg sie kollektiv heimsuchen. Margarete von Pusirewsky kann als versuchte Verkörperung nicht nur der drei Kulturen, sondern auch der beiden sozialen Herkünfte gesehen werden, die die wohlhabende Oberschicht im Baltikum bildeten: Adel und Bürgertum. Sie war eine Tochter von Göggingers Schokoladen- und Konservenfabrik.[7]
Mit ihrem Vater durchreist sie den Kaukasus. Sie heiratet den älteren, gebildten, adligen russischen Militärarzt Wladimir von Pusirewsky, der zudem noch ukrainische Wurzeln hat, und lebt mit ihm zunächst im Kaukasus und anderen Militärstützpunkten, so in Krettingen im Baltikum. Lange Jahre besitzen sie im thüringischen Tabarz ein „Russenvilla“ genanntes Urlaubshaus im Lauchagrund. Mitunter kuren sie in einem Haus in Morschach am Vierwaldstätter See in der Schweiz. So pendelt Margarete von Pusirewsky zwischen Ost und West. Auf ihren Reisen lernt sie den russischstämmigen schweizer Neurologen Constantin Monakow (1853–1930) kennen,[8] und eben auch Rudolph Penzig, der sie in ihrer Suche nach einer Weltanschauung begleitet, die das Religiöse als Kulturelles bewahrt. Davon handeln die unten angefügten Auszüge.[9]
Der Abstieg beginnt mit dem Ersten Weltkrieg, der sie in der Schweiz ereilt, sie ins Exil nach Helsinki treibt, wird fortgesetzt mit der Konfrontation mit bolschwistischen Letten 1917, der Auseinandersetzung mit der Interessen Großbritanniens bei der Staatsgründung, schließlich den wechselnden Herrschenden in Riga und dem Untergang des Geschäfts. Hat sie in den Hochzeiten ihres Lebens mindestens fünf Bedienstete und ihr Mann diverse Burschen, haben beide Villen hier und Datschen da, so ist sie dann selbst Köchin und schließlich nach der großen Flucht zum Niederrhein sogar Hilfsbäuerin, wo sie im April 1945 erneut der Krieg erreicht und die amerikanisch-deutsche Front und deren Kämpfe mitten durch den Bauernbetrieb „Hasselshof“ ihres Gastgebers Ohlmann verläuft.
Besonders dramatisch ist die Zeit ab Herbst 1939 als sie nicht mit den anderen Deutsch-Balten Lettland verlässt, sondern gemeinsam mit ihrer Familie in ihrer Heimatstadt Riga verbleibt, der Mutter Ludmilla Goegginger, der Schwester Marta Busz, den beiden Töchtern und dem einem ihrer beiden Söhne (der andere starb an der Alkoholkrankheit).[10] Die Kinder sind künstlerisch veranlagt, zum Überleben müssen sie diese Ambitionen lassen.
Stets geht Margarete von Pusirewsky davon aus, bald zurückkehren zu können; selbst als sie 1944 Riga zum letzten Mal verlässt, um vor der herannahenden Roten Armee zu fliehen. Sie selbst ist sehr belesen, schreibt Tagebuch. Ihr Lebensbericht ist ein Geschichtsbuch und erzählt an ihrem Beispiel und dem ihrer Familie, was denen geschieht, die in die Mühlen der Weltpolitik geraten. Ihre Notizen wären fast beim Vorrücken der Amerikaner über den Rhein vernichtet worden, die jüngste Tochter klaubt tausende Maschinenseiten aus dem Müll.
Die Geschichte ihrer Memoiren bis zur Veröffentlichung 1984 gibt die Herausgeberin Elisabeth [Lilja] Ohlmann (jedenfalls hier) nicht preis. Sie heiratete in die Familie des letzten Gastgebers ein. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Memoiren war sie bereits 83 Jahre alt und ihre Mutter über dreißig Jahre tot.
Hier nun Auszüge aus den Memoiren über Penzig.[11]
- Wie es so läuft, bin ich nun selbst in den Weiten des digitalen Alls mitunter als Quelle angegeben. – Die Geschichte des Fotos wird hier nicht weiterverfolgt. ↑
- vgl. Rudolph Penzig: Apostata. Licht- und Schattenbilder aus meinem Leben. Berlin 1930. ↑
- Horst Groschopp: Rudolph Penzig. Atheist, Freimaurer und Humanist. Aschaffenburg 2022, S. 117. ↑
- Vgl. Bernd Freytag von Loringhoven mit François d’Alançon: Mit Hitler im Bunker. Die letzten Monate im Führerhauptquartier. Juli 1944-April 1945. Berlin 2006. ↑
- Mit den Regierungsbezirken Hohensalza, Litzmannstadt und Posen. ↑
- Katja Wezel: Exile, Flight and Loss of Homeland: Margarete von Pusirewsky – A Baltic Germann Life Lost Between War an Resettlement. In: Latvijas Vēstures Institūta Žurnāls. Journal of the Institute of Latvian History. Riga 2022, 2 (117), S. 99–132 [Exil, Flucht und Heimatverlust: Margarete von Pusirewsky. Ein deutschbaltisches Leben zwischen Krieg und Umsiedlung]. ↑
- Vgl. das Foto von ihr als junger Frau, entnommen ihren Memoiren. ↑
- Aus ihrem Nachlass erscheint 1953 in Zürich das Erinnerungsbuch „Monakow als Arzt und Erzieher“. ↑
- Ihr Buch enthält auch das beste der verfügbaren Fotos von Penzig, das oben kopiert abgebildet ist und zum Familiennachlass gehört. ↑
- Das erste Kind verstarb im Mutterleib, das zweite im Kleinkindalter. ↑
- Auf Schönheit der Text-Kopien wird kein großer Wert gelegt. ↑