Heute gibt es in Deutschland zahlreiche Vereine und Verbände, die aus der Freidenkergeschichte hervorgegangen sind, darunter der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), der Internationale Bund der Konfessionsfreien und AtheistInnen (IBKA), die Giordano Bruno-Stiftung (gbs), Jugendweihe Deutschland (JWD) und der Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften (DFW), in dem auch die letzten Freireligiösen, die Unitarier und weitere kleinere Gemeinschaften sich zusammengefunden haben. Selbstredend gehört der Deutsche Freidenkerverband (DFV) in diese „säkulare Szene“.[1] Der Name „Freidenker“ ist zum einen nicht mehr eindeutig einer Organisation zuzuordnen, zum anderen wird mit dem Namen Verschiedenes assoziiert.
Das war aber schon immer so. Stets gab es mehrere Gruppierungen dieses Namens bzw. mit diesem Profil, wie auch der Begriff „freies Denken“ Unterschiedliches meinte und meint. Heute, da die sich „bekennenden“ und organisierten Atheisten, Freidenker und Humanisten innerhalb des konfessionsfreien Drittels der deutschen Bevölkerung noch viel deutlicher als früher eine Minderheiten sind, finden sich nur ganz wenige „Insider“ in diesem Gewirr aktueller wie historischer Vereine, Verbände und Strömungen zurecht.[2]
Für unseren Zusammenhang – die kurze Geschichte des Verbandes der Freidenker der DDR (VdF) – muss hier der Hinweis genügen, dass die freidenkerischen Verbände eine lange Tradition haben und allesamt und sofort im Nationalsozialismus verboten waren, die kommunistischen Freidenkerorganisationen durch Notverordnung des Reichspräsidenten schon 1932 und abgesehen (bis 1936) von der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, trotz jüdischer Leitung.[3] Von diesen Auflösungen ausgenommen waren einige sich anpassende, „gleichgeschaltete“ freireligiöse Gemeinden in Südwestdeutschland.[4]
Die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ist bis 1990 eine ost-west-geteilte. Auf sie ist ein kurzer Blick nötig, um die Geschehnisse in der DDR und den VdF zu verorten.
Keine Freidenker in Ostdeutschland
Die versuchte Offensive der SED – verballhornte „Glasnost“ in den Farben der DDR – war gegen die eigene Parteigeschichte gestrickt, stellte letztlich die Rücknahme einer „Wende“ in der eigenen Religions- und Kirchenpolitik dar. Diese hatte die KPD im sowjetischen Exil in ihrem Aktionsprogramm 1944/45 zur Vorbereitung auf die Machtübertragung durch die Rote Armee in deren besetztem Teil von Deutschland vollzogen.[5] Teile davon gingen in den Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945 ein. Einige vorherige Ausarbeitungen und Notizen von Teilnehmern sind in dem Buch Nach Hitler kommen wir dokumentiert, so eine druckfähige maschinenschriftliche Zusammenfassung (3. Entwurf, Ende 1944) von Anton Ackermann, die auch das neue Verhältnis zu den Kirchen (besonders der Katholizismus sei gut organisiert) und das Bildungskonzept der KPD formuliert.
Diejenigen Sozialdemokraten, die dann ab April 1946 in der Ostzone mit der KPD in die SED gingen, verzichteten ihrerseits nach einigen Widerständen auf die Weiterführung kirchenkritischer Positionen der Weimarer Zeit.[6] So forderte Willi Buch in der ersten Debatte über eine gesamtdeutsche Verfassung am 14. November 1946 in einer außerordentlichen und geschlossenen Tagung des Parteivorstandes, den vorgesehenen Artikel 34 Abs. 7 (in der Weimarer Reichsverfassung Art. 137 Abs. 7)[7] – Gleichbehandlung von Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften – so zu ändern, dass er alten freidenkerischen Forderungen der vollständigen Trennung von Staat und Kirche entspreche. Das bedeutete, Weltanschauungsgemeinschaften nicht mit den Religionsgesellschaften gleich zu stellen, also nicht „Organisationen, die sich die Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen“, zu Körperschaften des öffentlichen Rechts zu erklären. „Das ginge zu weit.“[8]
Otto Grotewohl, mit Wilhelm Pieck Co-Vorsitzender der SED, musste am Ende der Tagung ein Machtwort gegen seine ehemaligen Sozialdemokraten sprechen. Man wolle eine deutsche Verfassung. Diese könne nicht „das Ergebnis einer sozialistischen Parteikonferenz“ sein. Es sei töricht, Formulierungen zu treffen, die das Gesamtwerk gefährden.[9] In der Verfassung der DDR von 1949 war dieser Gleichstellungspassus schließlich eliminiert, „Weltanschauungsgemeinschaften“ – etwa Freidenker – nicht vorgesehen.
Schon vorher deutete sich die Richtung an, dass die SED keine neue Freidenkerbewegung zulassen würde, die ihre Unterstützung hätte (und ohne ihre Unterstützung wäre jeder solche Verein lebensunfähig gewesen). Die SED übernahm hier die Haltung der KPD. Diese hatte im Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern gegenüber deutschen Militärbischöfen 1944 einige Zusagen gemacht, genauer gesagt, zwei „stille Abkommen“ getroffen, wahrscheinlich sogar drei, wenn die Anerkennung der weiteren Gültigkeit des Reichsdeputationshauptschlußes von 1803 hinzugerechnet wird, woraus sich die staatlichen Finanzleistungen für die Kirchen ableiteten – auch in der DDR.[10] Die Gesamtsumme von fast 630 Millionen DDR-Mark zahlte der Staat von 1949 bis 1989 regelmäßig, jährlich zwischen zwölf und am Ende zwanzig Millionen, auch wenn er in Konfliktzeiten mit den Kirchen die Geldmengen reduzierte (besonders 1953 [Kürzung um 25 Prozent]-1958, 1962, 1969, 1971).[11]
Die erste Verabredung zwischen der KPD und Kirchenvertretern im NKFD erfolgte bereits im Dezember 1943. Es sollte im künftigen Deutschland keine neuen, von der KPD unterstützten Freidenker geben.[12] Der Gesprächspartner von Anton Ackermann, der damals in der KPD unter anderem für Kultur und Kirchen zuständige Funktionär, war Johannes Schröder, ein Wehrmachtspfarrer. Bei Stalingrad in Gefangenschaft geraten wurde er zum Mitbegründer des NKFD und arbeitete im Arbeitskreis für kirchliche Fragen. Schröder kehrte 1946 nach Schleswig-Holstein zurück und leitete dort die Innere Mission.
Nach dem Krieg hielt sich die KPD an ihre Zusage. Ein erster Antrag wurde bereits am 7. Oktober 1945 von dem KPD-Mitglied Ernst Jeske gestellt und zwar richtigerweise an die Sowjetische Militäradministration (SMAD), die prompt ablehnte.[13] Als im Frühsommer 1946 beim Zentralsekretariat der SED erneut ein von Jeske diesmal an Wilhelm Pieck persönlich am 5. Mai 1946 geschriebener Antrag einging, eine neue Freidenkerorganisation zu gründen, wurde er bereits am 12. Juni 1946 abgelehnt per Schreiben der Abteilung Kultur und Erziehung der Berliner Landesorganisation: In der SED würden verschiedene Konfessionen für die Partei und den wissenschaftlichen Sozialismus wirken. Jeske möge sich als Genosse nicht weiter damit befassen.[14]
Die Freireligiöse Gemeinschaft freigeistiger Sozialisten Berlin-Steglitz wandte sich wenig später, am 9. Juli 1946, an Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl als Vorsitzende des Zentralausschußes der SED, um zwar keine neue Freidenkerorganisation zu gründen, aber um „mehrere zentrale Jugendweihen zu veranstalten und auch baldmöglichst einen lebenskundlich-weltanschaulichen Unterricht für die Kinder solcher Eltern einzurichten, die gegen eine Teilnahme am christlichen Religionsunterricht sind“ (vgl. Dok. 1–1). Die Forderung widersprach der Bildungspolitik, für die letztendlich die SMAD zuständig war.
Die klaren Absagen von KPD und SED in Richtung Freidenker – die übrigens ab Sommer 1947 von Westberlin aus, wie noch gezeigt wird, in den Ostteil hineinwirkten – unterstützten die damalige, bereits unmittelbar nach Kriegsende begonnene Trennung von Staat und Kirche sowie von Schule und Religion in der SBZ beim Neuaufbau staatlicher Strukturen.
Die SED-Führung bereitete dann zum Jahreswechsel 1946/47 ihre Grundposition zu Kirchenfragen vor, die am 28. Januar 1947 Otto Meier als Mitglied des Zentralsekretariats der SED auf einer Kulturkonferenz vortrug.[15] Die Broschüre erschien mit einem Vorwort des ehemaligen sozialdemokratischen Kulturfunktionärs Richard Weimann. Die SED vermied es bis in die frühen 1950er Jahre hinein, als die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirchen einem „Kulturkampf“ glichen, ihre im NKFD gemachten Zusagen gänzlich zu revidieren.
Damit war das Problem aber noch nicht erledigt. Im Mai 1947 war die Fachkommission Kirche und Religion bei der Abteilung Kultur und Erziehung beim Zentralsekretariat der SED erneut zu einer Stellungnahme gezwungen und legte fest: Die SED verhalte sich zu den Freidenkern wie zu den Kirchen – neutral. Ebenso wenig wie die Religionsgemeinschaften dürften Freidenker auf Schule und Jugenderziehung Einfluss haben. In der SED sei Werbung für ihre Ziele untersagt.[16] Das war ein indirektes Freidenkerverbot – ein direktes, wie manchmal in der Literatur zu finden, gab es nicht.
Die Stellungnahmen verdeutlichen, dass die SED bestrebt war, einen Staat zu errichten, der sich jeder Stellungnahme für oder gegen eine Religion enthalten sollte. Das bedeutete zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dem Staat selbst freidenkerische Inhalte einzuimpfen. Das hieß aber sehr wohl, die Kirchen zu beruhigen.
Dennoch gab es viele ehemalige Freidenker in der SED, gerade in den Kultur- und Bildungsabteilungen. Deren Druck gab die SED-Führung innerparteilich nach, ohne außerhalb der Partei eine Sonderorganisation zuzulassen. So kam es Anfang Dezember 1947 zu dem Versuch, in der Partei christliches Weihnachten und freidenkerische Sonnenwendfeiern zusammen zu führen: „Unsere positive Einschätzung der humanistischen Werte des Christentums zeigt sich in den Weihnachtsfeiern, die von den Parteiorganisationen durchgeführt werden. In diesen Feiern vermischen sich die positiven Werte des Christentums mit den Gedanken, die in der Wintersonnenwende die Herzen der Menschen seit Jahrtausenden bewegt haben.“[17]
Ein weiteres Zeugnis für diese Integrationsbemühungen stellten die kulturpolitischen Leitlinien für die Parteiarbeit dar, die Anfang 1948 von Abteilung Parteischulung, Kultur und Erziehung vorgelegt wurden.[18] Besonders die Festlegungen zur Fest- und Feierkultur atmeten den Geist der sozialdemokratischen Freidenker, setzten sich aber nicht durch, weil die SED im Kalten Krieg ab 1948 durch die einsetzende „Stalinisierung“ andere Prioritäten setzte.
Dass sich dann die SED nach dem 17. Juni 1953 und besonders nach der Ausrufung der „Kulturrevolution“ 1958 wieder stärker auf ihre freidenkerischen Traditionen besann, hatte außer dem politischen Wunsch nach einer besonderen DDR-Kirche neben einer im Westen,[19] die Ursache, dass sich das „Bewusstsein“ der Bevölkerung nicht so sozialistisch entwickelte, wie die neuen Gesellschaftsverhältnisse nach alten Dogmen dies eigentlich hätten bewirken sollen.
Die Folgerung daraus war nun nicht etwa die Etablierung einer SED-Freidenkerorganisation. Diese wäre lediglich gegen christliche Überzeugungen vorgegangen, die aber bereits in den reformatorischen und freireligiösen deutschen Stammlanden im Osten Deutschlands rückläufig waren. Kulturorganisationen in einem breiten Sinne waren gefragt. Eine solche Einrichtung konnte nach dem damaligen Verständnis der SED aber nur der Staat selbst sein. Genau dies forderten Freidenker schon in den 1920ern. Diese Vorstellungen hatte Walter Ulbricht, selbst Freidenker, „verinnerlicht“. Sein kulturelles Denken folgte nicht nur hier Otto Rühle.[20] Überhaupt zeigten Ulbrichts Äußerungen zu kulturellen Fragen immer wieder Spuren der Erinnerungen „an die alten Zeiten der Leipziger Arbeiterbildung im sozialdemokratischen Milieu“.[21]
Aus seiner Jugendzeit stammten auch die 1958 entwickelten Vorstellungen über Jugendweihe und neue (zehn sozialistische) Moralgebote, die er auf den linken Sozialdemokraten Adolph Hoffmann zurückführte, den er stets verehrte, weil er 1918 in der Novemberrevolution die Staat-Kirche-Trennung durchsetzte.[22] Auch Alfred Kurella, ein hochgebildeter Parteisoldat, zu dieser Zeit der Hauptverantwortliche für Kulturfragen in der SED, war in der Sowjetunion in kulturellen Ämtern gewesen. In Anlehnung an den Psychologen und Philosophen Franz C. Müller-Lyer kannten und interpretierten Kurella und Ulbricht dessen Konzept der „Kulturbeherrschung“[23] und formten daraus ihre Idee einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“.
Bis zum Politbüro-Beschluss der Gründung des VdF im Dezember 1988 galt diese Grundannahme: Die DDR ist ein Kulturstaat, der als Erzieher zu einer neuen Lebensweise agiert, wobei die Inhalte dieser Kultur wissenschaftlich erarbeitet werden, so dass sie über das hinausgehen, was bisher Religionen und Weltanschauungen zu bieten hatten. Diese sterben sozusagen ab. Und als die Kirchen in den 1980er Jahren zu Treffpunkten einer politischen Opposition wurden, sollte dann ein neuer Freidenkerverband vielleicht helfen, den alten Zustand wieder herbeizuführen. Dass damit die SED selbst den Konsens infrage stellte, Traditionen der Weimarer Republik wach rief und damit faktisch ein anderes Gesellschaftsprogramm als das bisher geltende zu verfechten begann, das war den meisten Akteuren im Politbüro und im VdF wohl gar nicht bewusst.
Zweite Zusicherung: Kultfreiheit
Am 15. Juni 1944 sicherte der KPD-Parteivorsitzende Wilhelm Pieck im russischen Exil den „Gläubigen der katholischen und evangelischen Kirche“ zu, „daß im neuen Deutschland jede antifaschistische Kraft sich frei betätigen kann.“[24] Dieses zweite Versprechen – die Kultfreiheit der Kirchen im künftigen Staat – war zugleich eine Einschränkung. Denn die seit Juli 1945 von der sowjetischen Militärverwaltung in der SBZ eingesetzte deutsche Zentralverwaltung wie dann die Regierung der DDR legten Wert auf zwei Grenzziehungen, nämlich erstens, dass die den Kirchen zufließenden öffentlichen Mittel ausschließlich der Kultpflege dienen; und zweitens, dass die überwiesenen Summen ihre Leistungen seien, keine Rechte und schon gar keine Verhandlungssache. Das wurde 1958 festgeschrieben – in den Augen der Kirchen ein Diktat von Otto Grotewohl.[25] Es gäbe, formulierte er für die Regierung der DDR, keine Parität – eine Position, die sich von der Praxis der „hinkenden Trennung“ von Staat und Kirche in der Bundesrepublik bis heute unterscheidet. Diese Haltung hing aber auch mit der Nichtexistenz einer Kirche in der DDR zum damaligen Zeitpunkt zusammen, der Empfängerfrage.
Politisch folgte aus dieser staatlichen Zuwendungsform in der DDR, wie Horst Dähn in einer Geschichtsstudie Anfang der 1980er Jahre feststellte, eine stete Einschränkung, nämlich die Gewährung der Mittel allein für die Kultpflege: „Der Terminus ‘Erfüllung religiöser Aufgaben’ deutet allerdings darauf hin, die Aufgabenstruktur der Kirche auf den kultischen Bereich zu reduzieren, ihr jede praktisch relevante Verantwortung für und Einflußmöglichkeiten auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche (z. B. den Erziehungs- und Bildungssektor) zu nehmen.“[26]
In dem Maße, wie dann in den 1980ern kirchliche Einrichtungen politisch genutzt wurden und sich Kirchenfunktionäre politisch äußerten, entstand in der SED-Führung die Idee der Wiederauferstehung einer parteinahen Freidenkerbewegung.
Freidenker in der Bundesrepublik
Anders verlief die Geschichte der Freidenker in den Westzonen und dann der Bundesrepublik. Das kann hier, etwa hinsichtlich der Freireligiösen, nicht ausgebreitet werden. Für unseren Gegenstand ist wichtig, dass der Deutsche Freidenker-Verband, 1933 verboten, 1951 in der Bundesrepublik wieder gegründet wurde. In Berlin war allerdings bereits im Sommer 1947 ein Ausschuss von Freidenkern entstanden, der entsprechende Aktivitäten entfaltete, Jugendweihen durchführte und einen Freidenker-Verband Groß-Berlin vorbereitete, der dann am 20. Juni 1949 gegründet wurde mit Personen aus dem Sowjetsektor. Denn – wie beschrieben – im Osten Berlins und in der SBZ hatte sich die SED schon unmittelbar nach ihrer Gründung gegen den Wiederaufbau eines Freidenkerverbandes für die Ostzone entschieden.
Der Westberliner Verband gehörte dem 1951 neu gegründeten Deutschen Freidenkerverband an. Die Berliner standen in direkterer Konfrontation zu den Vorgängen in der DDR als etwa Verbände weiter westlich von der deutsch-deutschen Grenze. Außerdem zeichnete ihn eine Besonderheit aus: Er erhielt seit den 1950er Jahren öffentliche Mittel. Er anerkannte im Gegenzug den Staat (hier das Land Berlin), wollte ihn nicht mehr revolutionär beseitigen.
Die Ursache für diese Verhaltensänderung lag in seiner Anhängerschaft begründet. Ihm gehörten von Beginn an mehrheitlich Sozialdemokraten an, die sich in der Folge vom Freidenker-Verband – dem DFV – lösten, in den 1970ern völlig trennten und sich zum Deutschen Freidenker-Verband (Sitz Berlin) erklärten. Man warf den „Dortmundern“ schon vor dem Mauerbau mit einiger Berechtigung vor, er unterstütze einseitig die Kommunistische Partei und sei ein Sammelbecken für ehemalige KPD-Funktionäre. „Zwar bemühte man sich noch gemeinsam um die rechtliche Wiederherstellung des 1933 von den Nazis verbotenen Verbandes und die Herausgabe des Freidenkervermögens, faktisch aber ging man getrennte Wege.“[27] Die „Berliner“ wurden auf diese Weise zu einem Landesverband, der zugleich – juristisch gesehen – ein Bundesverein war.
Für den DDR-Freidenkerverband bedeutsam wurde diese Trennung durch erforderliche Richtungsentscheidungen ab Sommer 1990, für oder gegen den Dortmunder DFV, besonders, nachdem der DFV-Berlin den VdF in einem Offenen Brief (vgl. Dok. 2–56) zur Selbstauflösung aufgefordert hatte.
Im seit dem 3. Oktober 1990 wiedervereinigten Berlin löste sich der Ostberliner DFV – dessen Bildung aus dem VdF im folgenden Text noch beschrieben wird – im November 1990 auf. Die Versammlung beschloss, den Mitgliedern den Eintritt in den Deutschen Freidenkerverband (Sitz Berlin) zu empfehlen.[28] Dieser Verband wurde am 13. Januar 1993 zum Mitbegründer des bundesweiten Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD). Der DFV (Sitz Berlin) wurde zwar, unter anderem wegen damals offener Restitutionsfragen, nicht aufgelöst, war aber nun nicht mehr aktiv.
Die Westvereinigungen, die den HVD gründeten, waren überwiegend traditionelle Weltanschauungsverbände – ohne soziale Dienstleistungen. Die stärkste Organisation in den Altbundesländern stellte damals die Freigeistige Landesgemeinschaft Nordrhein-Westfalen (KdÖR) dar, zu der auch Wuppertaler Freidenker gehörten, die nicht zum Dortmunder DFV rechneten. Die traditionsreichen Freien Humanisten Niedersachsen (KdÖR) blieben bis 1999 lediglich in einem Kooperationsstatus, waren also nicht ordentliches Mitglied.
Die Abwesenheit von Dienstleistungen bei denen, die den HVD ins Leben riefen, unterschied die West- von den Ostverbänden grundsätzlich. Besonders zwei Ostverbände waren an Finanzen, Mitgliedern und Sozialprojekten (etwa Kindergärten) reiche Gründungsmitglieder des HVD. Es handelte sich bei ihnen um zwei aus dem VdF der DDR hervorgegangene, sich der Vereinigung mit dem DFV (Sitz Dortmund) verweigernde Verbände, zum einen die Interessenvereinigung der Konfessionslosen (Land Brandenburg), vorwiegend beheimatet im ehemaligen Bezirk Potsdam, weniger im Bezirk Frankfurt / Oder, und zum anderen die Freien Humanisten Sachsen-Anhalt.
Freidenker der DDR gründeten diesen Verband am 1. Dezember 1990 in Dessau mit Hilfe der Freien Humanisten Niedersachsen. „Die Bezirksvorstände der Freidenker hatten sich zu diesem Zeitpunkt in Wohlgefallen aufgelöst, bzw. waren … handlungsunfähig. Ich selbst war bis dahin Vorsitzender des Stadtverbandes Halle der Freidenker und wurde in Dessau zum Landesvorsitzenden der Freien Humanisten Sachsen-Anhalt gewählt. In Magdeburg hat es danach noch eine kleine Gruppe der Freidenker gegeben, in Halle nicht.“[29]
Den beiden Neugründungen gegenüber verfolgten die Verfasser des Offenen Briefes eine moderatere Haltung als zum Berliner VdF. Brandenburg und Sachsen-Anhalt gegenüber war die ursprüngliche Aufforderung der Selbstauflösung wegen der Projektträgerschaften nicht durchzuhalten.[30] Beide Verbände gingen allerdings Ende der 1990er Jahre in Konkurs und zerfielen in mehr oder minder lebensfähige Regionalverbände, bis sich im Jahr 2000 der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg neu gründete. In Sachsen-Anhalt kam es bisher zu keinem neuen Landesverband.
Für die Frühgeschichte des HVD sind diese Vorgänge nicht nebensächlich, denn die Neuorientierung auf einen praktischen Humanismus mit Dienstleistungen wurde durch ehemalige VdF-Mitglieder kräftig gefordert und gefördert, schon dadurch, dass sie solche Einrichtungen besaßen und mitbrachten, inklusive kundigem Personal.[31] Mit dem Ausscheiden der beiden großen Ostverbände durch Insolvenzen entstand eine Lücke mit konzeptionellen Folgen. So erhoben sich etwa mehr Stimmen gegen einen „Dienstleistungsverband“, ohne dass sich diese allerdings im HVD durchsetzen konnten. Die ost-west-geteilte Situation im HVD – Berlin ausgenommen –, hier Sozialprojekte, dort keine, begann sich erst zu wandeln, als der HVD Nürnberg (KdÖR), der seit 1994 Kindergärten in eigener Trägerschaft besitzt, 1997 seine Vollmitgliedschaft im HVD erklärte und sich 2011 zum HVD Bayern ausdehnte. Der Osten ist aber für den HVD seitdem weitgehend verloren.
Fußnoten
- Vgl. Horst Groschopp: Säkulare Organisationen in Deutschland (zuletzt 2011), siehe http://horst-groschopp.de/sites/default/files/S%C3%A4kulare%20Organisationen%20Stand%20Herbst%202011.pdf (abgefragt am 18.3.2013). ↑
- Zur Geschichte vgl. Jochen-Christoph Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik. Stuttgart 1981, S.82 (Industrielle Welt, 32). – Frank Simon-Ritz: Die Organisation einer Weltanschauung. Die freigeistige Bewegung im Wilhelminischen Deutschland. Gütersloh 1997 (Religiöse Kulturen der Moderne, 5). – Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenker und Kultur in Deutschland. Marburg 2011 (zuerst Berlin 1997). ↑
- Vgl. Hilde Schramm: Meine Lehrerin Dr. Dora Lux. 1882–1959. Nachforschungen. Reinbek bei Hamburg 2012. ↑
- Vgl. Christian G. Langenbach: Freireligiöse und Nationalsozialismus. In: Säkulare Geschichtspolitik. Berlin 2007, S. 43–54 (= humanismus aktuell, 20). ↑
- Vgl. Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie – Maschinenschriftliche Abschrift des Entwurfs von Anton Ackermann von Ende 1944. In: „Nach Hitler kommen wir.“ Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland. Hrsg. von Peter Erler / Horst Laude / Manfred Wilke. Berlin 1994, S. 290–303. – Das Aktionsprogramm wurde erst 1965 bekannt. ↑
- Das ist bisher wenig untersucht und soll auch hier nicht weiter verfolgt werden. Verwiesen wird auf Horst Groschopp: Der ganze Mensch. Die DDR und der Humanismus. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. Marburg 2013. – Der folgende Abschnitt verwendet Material aus dieser Publikation. ↑
- Heute Bestandteil des Grundgesetzes durch Art. 140. ↑
- Stenographische Niederschrift über die ausserordentliche (7.) Tagung des Parteivorstandes [der SED] am Donnerstag, dem 14. November 1946. Protokoll. BAB DY 30/IV/2/1/12, S. 16. ↑
- Stenographische Niederschrift … 14. November 1946, S. 32. ↑
- Wann und wie die Anerkennung des Reichsdeputationshauptschlußes von 1803 und damit die Fortführung bestimmter Staatsleistungen an die Kirchen zustande kam, ist bisher nicht untersucht. ↑
- Vgl. hierzu die erstmaligen Berechnungen von Johann-Albrecht Haupt, die er für die Humanistische Union erarbeitete: http://www.humanistische-union.de/typo3/ext/naw_securedl/scure.php?u=0&file=uploads/media/DDR_Gesamtdaten1949-1989.pdf&t=1361805501&hash=b7f56b05078d8613cb50b9d6e6f53a10 (abgerufen am 25.2.2013). ↑
- Vgl. Johannes Schröder / Anton Ackermann: Kirche und Freidenkertum, gestern, heute und morgen [Rundfunkgespräch am 19. Dezember 1943]. In: Christen im Nationalkomitee „Freies Deutschland“, Eine Dokumentation. Hrsg. und eingeleitet von Klaus Drobisch, Berlin 1973, S. 145–147. ↑
- Vgl. Anke Reuther: Annäherungen an die Lebensstationen des Freidenkers Ernst Jeske (1905–1984). Der anarchistische Traum eines disziplinierten Weltverbesserers. In: „Kein Jenseits ist, kein Aufersteh’n“, Freireligiöse in der Berliner Kulturgeschichte. Konzept und Redaktion: Horst Groschopp, Berlin 1998, S. 208–215, hier S. 210. ↑
- Vgl. Reuther: Annäherungen, S. 211. – Das Dokument ist abgedruckt ebenda, S. 213. ↑
- Vgl. Otto Meier: Partei und Kirche. Berlin 1947. ↑
- Vgl. Dokument 32 in Gerd Dietrich: Politik und Kultur in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) 1945–1949. Mit einem Dokumentenanhang. Berlin u. a. 1993, S. 281 (vgl. Dok. 1–3). ↑
- Vgl. Rundschreiben der Abteilung Parteischulung, Kultur und Erziehung beim Parteisekretariat der SED. Dezember 1947. Dokument 37 in Dietrich: Politik und Kultur, S. 290. ↑
- Vgl. Leitsätze der Abteilung Parteischulung, Kultur und Erziehung beim Zentralsekretariat der SED. Januar 1948. In: Um die Erneuerung der deutschen Kultur, Dokumente zur Kulturpolitik 1945–1949, zusammengestellt und eingeleitet von Gerd Dietrich. Berlin 1983, S. 204–207. ↑
- Vgl. Martin Greschat: Protestantismus im Kalten Krieg 1945–1963. Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland. Paderborn 2010. ↑
- Vgl. Horst Groschopp: Utopie vom „neuen Menschen“. Otto Rühle als Freidenker und Kulturwissenschaftler. In: Otto Rühle, Leben und Werk (1874–1943). Hrsg. von Gerd Stecklina / Joachim Schille, Weinheim / München 2003, S. 135–148. ↑
- Vgl. Dietrich Staritz: Geschichte der DDR 1949–1985. Frankfurt a.M. 1985, S. 126. – Das betraf nicht nur die Erfindung der „Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik“, wie Staritz anmerkt und die Ulbricht unter Berufung auf den „10-Gebote-Hoffmann“ (den Freidenker Adolph Hoffmann) entwickelte. – Vgl. „Los von der Kirche!“ Adolph Hoffmann und die Staat-Kirche-Trennung in Deutschland. Texte zu 90 Jahre Weimarer Reichsverfassung. Hrsg. von Horst Groschopp. Aschaffenburg 2009 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin, Bd. 2). ↑
- Vgl. „Los von der Kirche!“ ↑
- Vgl. Franz C. Müller-Lyer: Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft. Grundlinien einer Volksphilosophie. München 1910. – Ders.: Wege zur Kulturbeherrschung. Schriften aus dem Euphoristen-Orden. München 1913 ff. ↑
- Wilhelm Pieck: Für Zusammenarbeit von Christen und Kommunisten. Grundsätzliche Stellungnahme des KPD-Vorsitzenden vom 15. Juni 1944, abgegeben auf der 10. Vollsitzung des Nationalkomitees … In: Christen im Nationalkomitee, S. 234. ↑
- Vgl. Greschat: Protestantismus, S. 210–215. ↑
- Horst Dähn: Konfrontation oder Kooperation? Das Verhältnis von Staat und Kirche in der SBZ-DDR 1945–1980. Mit einem Vorwort von Reinhard Henkys. Opladen 1982, S. 22. ↑
- Manfred Isemeyer: Freigeistige Bewegungen in der Bundesrepublik 1945 bis 1990. Ein Überblick. In: Säkulare Geschichtspolitik. Hrsg. im Auftrag der Humanistischen Akademie … von Horst Groschopp. Berlin 2007, S. 84–95, hier S. 92 (humanismus aktuell, Hefte für Kultur und Weltanschauung, 20). – Vgl. ebd.: „Als Fußnote der Freidenkergeschichte soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Bundesgerichtshof in den 1970er Jahren schließlich entschied, dass die Nachfolgeorganisation des Deutschen Freidenker-Verbandes von vor 1933 die IDEAL-Lebensversicherung sei, nicht der nach 1945 von Altfunktionären wieder gegründete Verband. Die Begründung des Gerichts: Die Mehrheit der Mitglieder des von den Nazis verbotenen Verbandes blieb 1933 Mitglied der gleichgeschalteten Neuen Deutschen Bestattungskasse, aus der nach 1945 die IDEAL-Versicherung hervorging – um der durch ihre Mitgliedsbeiträge erworbenen Versicherungsleistungen nicht verlustig zu gehen.“ ↑
- Vgl. Haas: Freidenker-Verbände Ost und West vereinigen sich. ↑
- Aus einer Mail am 19.4.2013 von Werner Lange an den Autor. ↑
- Vgl. Volkmar Bachmann: … Kongress „Humanismus – die Alternative“ in Hannover. In: Freidenker. Dokumente und Informationen, H. 3. Hrsg. vom Deutschen Freidenker-Verband, Berlin 1990, S. 39: „Das Streben nach Gemeinsamkeit wurde in Hannover [21.–22.4.1990, HG] getrübt durch die Diskussionsbeiträge einiger Westberliner Freidenker, die ihren ‘Offenen Brief’ mit der Forderung nach Selbstauflösung des Freidenkerverbandes der DDR verteidigten … Die Westberliner Vorsitzende, Frau Renner, erklärte allerdings, der Brief sei nur als solidarische Anregung zur selbstkritischen Diskussion … zu verstehen.“ ↑
- Das sollte endlich Gegenstand einer Geschichte des HVD sein. ↑
Quelle: Horst Groschopp / Eckhard Müller: Letzter Versuch einer Offensive. Der Verband der Freidenker der DDR (1988–1990). Ein dokumentarisches Lesebuch. Aschaffenburg 2013, S. 11–22 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin, Bd. 8).