Interview mit der Studentin Sandra Sch. (Frankfurt am Main) am 21. Juni 2010
Vorinformation
Das Interview ist Bestandteil meiner Diplomarbeit über den Themenbereich Jugendweihe als Übergangsritual. Dafür habe ich ein paar Fragen vorbereitet. Da das Interview per Email gehalten wird, soll es eher ein Austausch von Antworten und Fragen werden.
Sie sind im „Humanistischen Verband Deutschlands“ aktiv. Welche Position haben Sie da inne?
Ich bin seit 1994 im HVD. Er ist 1993 gegründet worden. Z.Z. bin ich Direktor der Humanistischen Akademie Deutschland und der von Berlin. Ich war Landesvorsitzenden in Brandenburg und lange Jahre im Bundesvorstand des HVD und hier 2003–2009 Präsident.
Was sind ihre Aufgaben?
Ich bin Lehrkraft am Institut für Humanistische Lebenskunde des HVD Berlin und gebe dort Unterricht in einem Aufbaustudiengang für Lehrer. Als Direktor der Akademie organisiere ich Theoriearbeit, Tagungen, Publikationen und trage für die Homepages der beiden Akademien inhaltliche Verantwortung.
Der HVD bietet auch die Jugendfeier an. Gibt es einen Unterschied zwischen der Jugendfeier und der Jugendweihe?
Eine Antwort auf diese Frage setzt voraus, von welcher Zeit wir reden, denn Jugendweihen gibt es seit 1852 und nicht erst seit sie 1954 in der DDR eingeführt wurden. Die Umbenennung in Jugendfeiern erfolgte vor Gründung des HVD in Westberlin bei den Freidenkern, um sich vom Weihecharakter zu verabschieden und von den Staatsweihen der DDR abzugrenzen. Heute sehe ich hinsichtlich der Angebote keine großen formalen Unterschiede, außer dem Grundsätzlichen, dass die Feiern des HVD eben solche einer Weltanschauungsgemeinschaft sind und nicht eines weltanschaulichen Vereins wie Jugendweihe e.V.
Hatten Sie selbst Jugendfeier/-weihe?
Ja, am 10 März 1963 in der DDR. Ich betone hier die DDR, weil es zu dieser Zeit bei den Freidenkern und Freireligiösen in der BRD und Westberlin auch Jugendweihen gab mit teilweise tausenden Teilnehmern.
Welche Bedeutung hat die Jugendfeier für Sie?
Für mich persönlich, heute? Es ist ein nicht tot zu kriegendes Übergangs-Feierangebot an Familien in Kontrast zu Konfirmationen und Kommunion. Und es ist für mich persönlich ein Theoriefeld, zu dem ich publiziert habe.
Wie schätzen Sie den Stellenwert der Jugendweihe in den ostdeutschen Bundesländern ein?
Im Osten Deutschlands gehören Jugendweihen ganz normal zur Kultur, wobei es zwei große Anbieter gibt und zahlreiche kleinere, private. Das Fest wird tradiert, es gehört zum Leben und ein Großteil jeden Jahrgangs feiert hier. Auch hier können wir die Entritualisierung einer Übergangspassage erkennen und die Perspektive ist offen wegen der Individualisierungen.
Im Gegensatz dazu, wie den Stellenwert in den westdeutschen Bundesländern?
Hier ist mit dem Zerfall der Arbeiterbewegungsmilieus in den 1960er Jahren und dem Druck der kirchlich bestimmten Öffentlichkeit in den Zeiten des Kalten Krieges die Teilnahme mit der Zahl der Vereinsmitglieder geschrumpft. Es ist auch stark ein Angebot der Gemeinschaften geblieben, kein allgemeines öffentliches geworden, was viele hier her gezogene Ostdeutsche hindert, hier Jugendfeiern des HVD anzunehmen, die es regelmäßig im Frühjahr gibt. Viele, die sich von Kirche verabschiedet haben, feiern eher gar nichts oder privat in Familie.
In älteren Zeitungsausschnitten beschreiben manche Geistliche die Jugendweihe als „Hohle Form“ oder „verkümmerte Konfirmation“. Wie sehen Sie diese kritische Stellung der Kirche gegenüber der Jugendweihe?
Jugendweihen sind aus der Konfirmation im 19. Jh. herausgewachsen und wurden für Arbeiterkinder besonders in Großstädten in den 1920ern üblich, wobei alle Arbeiterorganisationen so etwas anboten. Die Kirchen selbst waren nicht arbeiterbewegungsfreundlich.
Ähnliche diskriminierende Urteile finden sich z. B. über die humanistischen Bestattungsfeiern. Dass diese Feiern Theologen als „verkümmert“ erscheinen, ist aus deren Sicht doch aber selbstverständlich, denn was gibt es inhaltlich „Höheres“ als die Anbetung eines Gottes in einem liturgisch streng geregelten Ritual, eigentlich einem Ritus, einem Kult. Jugendfeiern sind seit jeher moderner und offener. Es wird eben gefeiert und nicht geweiht. Es gibt Studien, die in Richtung Konfirmationen von „Abschiedsfeiern aus den Kirchen“ sprechen. Dem ist wohl so.
Man kann eher bei Konfirmationen, ein Zitat von Freud über Rituale nehmend, von „inhaltsleeren Zwangshandlungen“ reden. Ich würde das also eher umdrehen und sagen, da wird etwas gefeiert. weil es sich so gehört und weil das in dem Alter dran ist.
Das kann man sicher auch über manche Jugendweihen im Osten sagen, so das einige Theoretiker Jugendweihen Ost und West und Konfirmationen Ost und West unterscheiden und sinngemäß von Ähnlichkeiten der Konfirmationen Ost mit den Jugendweihen West reden.
Welche Erfahrung machen Sie heute in Bezug auf die Stellung der Kirche zur Jugendweihe?
Die Haltung hat sich besonders im Osten geändert, nachdem eigene „Zwischenangebote“ wie „Maiglocke“ ebenso gescheitert sind wie jede Re-Missionierung. Dort stehen die Angebote in den Zeitungen sozusagen parallel. Im Westen sind diese Feiern keine große Konkurrenz mehr, da ist eher die Gleichgültigkeit gegenüber den Konfirmationen das Thema.
Geben Sie mir bitte kurz eine Definition, was für Sie ein Übergangsritual ist.
Der Begriff Übergangsritual kommt von Arnold van Gennep. Danach wird ein Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere überführt, hier: aus einem Kinde wird ein Erwachsener und alle Teilnehmer der Feiern geben durch ihr kulturell definiertes symbolisches Verhalten kund, dass dieser Übergang vollzogen und in seinem Ergebnis anerkannt wird. Das Ritual muss nicht sakral sein, aber bestimmte Regeln haben: Die Anlässe können verschiedene sein (z. B. Hochzeit) oder ein Mensch wird begrüßt (Taufe, Namensgebung) oder verabschiedet (Totenfeier). Auch wenn jemand Meister geworden ist oder andere berufliche Etappen hinter sich gebracht hat, werden Rituale begangen. Auch eine Schiffstaufe ist so etwas.
Würden Sie behaupten, dass die Jugendweihe Ihrer Definition nach ein Übergangsritual ist? Und warum?
Ja, denn es gibt eine Rahmung, ein durch Zeichen definiertes Beginnen und Enden. Dann gibt es einen förmlichen Beschluss, einen meist selbst ritualisierten Entschluss über Zeit und Ort und Handlung. Dann gibt es Förmlichkeit (auch in der Kleidung), Unwiderrufbarkeit, Performanz und Öffentlichkeit.
Damit ist die Nachahmbarkeit und Wiederholbarkeit gegeben. Das befördert die stabilisierende und solidarische Funktion des Rituals, den Übergang zu vollziehen und dabei Freude auszudrücken und sich ästhetischen Reizen auszusetzen, aber auch die Anerkennung des Verfahrens zu vollziehen bezogen auf den Übergang. Das sind alles sehr weltliche Prozesse, auch in Religionen. Und schließlich findet ein Statuswechsel statt. Man ist danach jemand anderes, ein Erwachsener, auch wenn die Person die gleiche ist.
Obwohl jedes Ritual in seiner Ausführung eine historische Dynamik aufweist, lassen sich mit der soeben gegebenen Begründung auch Jugendweihen / Jugendfeiern sinnvoll von Alltags- und Routinehandlungen abgrenzen und als Ritual definieren. Aber es kann durchaus zu Überschneidungen mit verwandten Handlungen kommen, so dass es stets nötig ist, Rituale in Abgrenzung zu solchen Handlungen zu bestimmen. Ich würde hier, Bezug nehmend auf den Ritualforscher Axel Michaels, sagen, dass es immer nötig ist zu beantworten, warum jemand etwas als Ritual sieht und warum jemand nicht.
Wie hat sich dies, Ihrer Meinung nach, seit der ersten Jugendweihe Ende des 19. Jahrhunderts geändert?
Das ist ein langes Thema: Die Jugendweihen begannen im Vormärz vor 1848 als bürgerliche „andere Konfirmation“. Sie wurden dann nach 1852 zu einer „Jugendweihe“ der Freireligiösen und parallel dazu nach 1889 zur „Jugendweihe“ der proletarischen Freidenker. Nach 1900 fand eine Öffnung hin zum großstädtischen Fest der Arbeiterbewegung statt, wobei zugleich die Konfirmation zum Familienfest wurde.
Um 1914 besuchen die Kinder Jugendunterricht, dazu gibt es heute verschiedene Formen mit diversen Inhalten. Während sich Eltern, Verwandte, Freunde und die Mitglieder des Vereins sich in einem Saal versammelten, sind heute nicht nur die Mitglieder der Gemeinschaft anwesend, sondern auch Teilnehmende, die sich dieses Fest gekauft haben. Die Jugendlichen sitzen von der Familie getrennt, es gibt eine Festveranstaltung oder eine Show, nicht mehr der Jugendlehrer hält den Festvortrag, sondern jemand anderes oder das ist Teil der Show. Auch die gemeinsamen Gesänge sind weggefallen (auch der Gesang von Arbeiterliedern; keine roten Fahnen mehr) und das Gelöbnis sowieso. Meist gibt es noch ein Gedenkbuch. Die Feiern finden nicht mehr im Vereinshaus, eher in einer Gaststätte oder in Familie statt.
Die Jugendweihen in der DDR waren Rituale der Aufnahme in die Staatsgemeinschaft und in die Rechte- und Pflichtenwelt der Erwachsenen. Sie waren zentral geleitet, aber regional organisiert, meist schulisch und damit Teil der ehrenamtlichen Schularbeit (z. B. der Pionierleiter). Am Ende der DDR war das Ritual inhaltlich „entleert“.
Bis heute sind Unterschiede zwischen religiösen und säkularen Anbietern feststellbar, z. B. ein differenter Sinnbezug (das Fehlen des Gottesbezug als die Kerndifferenz); ein differenter Quellen- und Traditionsbezug; zum einen Beziehung zur Taufe, zum anderen kein Bezug auf Namensgebungsfeier; eine heterogene Gewichtung und Anordnung der Festelemente sowie symbolische Inszenierung versus fester Ritus (Firmung und Konfirmation sind nicht ohne Kirche möglich) mit Folgen für die Verbindlichkeit / Mitgliedschaft (Konfirmationsvorgang ist Bekräftigung des formalen Mitgliedschaftsverhältnisses zur Kirche, die mit der Taufe begründet wird, während Jugendweihe und Jugendfeier nicht zwanghaft zu einer Gemeinschaft hinführen, jedoch gibt es hier Unterschiede West und Ost.
Der katholische Theologe Eberhard Tiefensee, von dem die Formel vom „ostdeutschen Volksatheismus“ stammt, betont für die ostdeutsche Situation der Konfessionsfreien generell, dass sich hier um Geburten und Geburtstage, Weihnachten und Ostern, Schulaufnahme und Jugendweihe, standesamtliche Hochzeit und nichtkirchliches Begräbnis über Jahrzehnte hinweg eine eigenständige Feierkultur ausgebildet hat: „Warum diese areligiöse Feierkultur durch eine kirchliche ausgetauscht werden soll, dürfte Ostdeutschen schwer einsichtig zu machen sein.“ Das gilt auch immer mehr für Westdeutschland angesichts eines Drittels der Bevölkerung, die konfessionsfrei lebt.