Am 10. April 2019 erschien im Aschaffenburger Alibri Verlag in der Reihe “Humanismusperspektiven” (Band 5) der von mir herausgegebene und mit einem Vorwort versehene Sammelband von Johannes Neumann: Humanismus und Kirchenkritik. Beiträge zur Aufklärung. Mit einer biographisch-bibliographischen Studie von Theodor W. Beine und einem Nachwort von Ursula Neumann (294 S., ISBN 978–3‑86569–288‑7); zum Inhaltsverzeichnis. Das Werk ist auch ein Beitrag zur Biographieforschung und erweitert das Spektrum meiner Arbeiten dazu.
Zu dem Sammelband ist beim hpd das folgende Interview erschienen.
hpd: Johannes Neumann (1929–2013) gehört zu den bekanntesten und prägendsten Personen der „säkularen Szene“. Es verwundert, dass so ein Buch erst jetzt erscheint. Worum geht es darin?
Horst Groschopp: Das verwundert tatsächlich. Der Sammelband verfolgt an ausgewählten Publikationen, wie und warum der renommierte Kirchenrechtler Johannes Neumann Ende der 1970er Jahre das katholische Gehäuse verließ, sich seine Kirchen- zu einer Gesellschafts- und Staatskritik erweiterte, er über Atheismus schrieb, Humanismusforschungen unternahm und schließlich humanistische Organisationen ratgebend unterstützte.
hpd: Wieso erscheint ein Buch mit vorwiegend historischen Texten in einer Reihe, die „Humanismusperspektiven“ heißt.
Horst Groschopp: „Perspektiven“ sind nicht nur Zukunftsfragen, sondern auch Sichtweisen. Johannes Neumann war fast zwei Jahrzehnte ein gefragter Theoretiker in denjenigen Organisationen, die wesentlich heute den KORSO bilden plus Humanistsche Union. Eine Bibliographie im Buch listet diese vielen Publikationen allein für diese Klientel auf. Neumanns Werk und Wirken steht an der „humanistischen Wende“ (ein Begriff von Stefan Schröder) vom traditionellen Freidenkertum hin zum Humanismus. Er verknüpfte historische Fragen immer mit solchen nach der Zukunft allgemein und der Konfessionsfreien im besonderen.
hpd: Sie sind ja nicht gerade als jemand bekannt, bei dem Kirchenkritik im Vordergrund des Interesses steht. Wieso jetzt plötzlich dieses Thema?
Horst Groschopp: Als ich – ehemaliger Mitgründer des DDR-Freidenkerverbandes – 1993/94 in die westdeutsch dominierte „Szene“ kam, fiel mir diese Zentriertheit auf, die Legitimation vieler Verbände, damals auch des HVD, durch Distanz und Alternative zu den Kirchen, verbunden mit welthistorischem Anspruch. Wenn man sich mit Humanismusperspektiven beschäftigt sind diese Verankerung und dieses Selbstverständnis bis in die Gegenwart wesentlich. Das hat mich damals verwundert und irritiert mich bis heute, weil Humanismus ja kein Säkularisierungsprodukt ist.
hpd: Um es einmal salopp zu formulieren, das Problem mit den Kirchen kam zu Ihnen?
Horst Groschopp: 1990 hatten die Kirchen in Ostdeutschland ihr (inzwischen gescheitertes) Missionierungswerk begonnen, ganz massiv. Es war verbunden mit der Legende, die Kirchen hätten die „friedliche Revolution“ gemacht und verdienten nun Wiedergutmachung. Wegen der massenhaften Übernahme von Sozialeinrichtungen durch Caritas und Diakonie, durch politische Denunziationen anderer Einrichtungen als atheistisch, systemnah usw. schenkte der Staat den Kirchen das Monopol und einträgliche Verträge. Die meisten Politiker hörten auf die Kirchen. So bekam ich ganz persönlich ein „Westproblem“ aufgedrückt.
hpd: … und Johannes Neumann erklärte dann den Westen?
Horst Groschopp: Das kann man so sehen. Aber vielen im Westen war auch vieles sehr neu, was er erzählte. Ich möchte aber unbedingt betonen, dass Neumann, trotz der Rückgabe seiner „missio“ und seiner radikalen Kirchenkritik, nie als „Kirchenkämpfer“ auftrat, auch nicht im Ton, sondern sich streng an historische Befunde hielt. Das war mir sympathisch. Er pflegte stets die sachliche Argumentation. Vor allem aber war er ein Lernender in allen Angelegenheiten, die praktischen Humanismus betrafen. Er ging dabei so weit, dass er schließlich empfahl, und das war sehr an Westverbände gerichtet, die Säkularen sollten eigene Sozialdienste aufbauen.
hpd: Können Sie das an einem Beispiel zeigen?
Horst Groschopp: Zunächst: Das war ein Geben und Nehmen. Zum einen wurde Neumann nach überall eingeladen. Er reiste durchs Land, hörte bei den Freireligiösen ebenso gut zu wie bei strengen Atheisten. Er engagierte sich besonders in der Humanistischen Union und im IBKA, zuerst in der Freien Akademie, dann in der Humanistischen, schließlich in der gbs und bei Fowid. Er beförderte Neues und die Gemeinsamkeiten.
Zum anderen: Je mehr er mit den Unterschieden und den realen Mitgliederzahlen vertraut wurde, desto mehr spitzte er seine Hauptbotschaft zu. Sie wurde nicht überall gern gehört. Er trug den Verbänden auf, dass sie sich „zu systemrationalen ‘Zweckvereinen’ modernisieren“ sollen. „Aber: Haben wir solche Angebote, die ebenso hilfreich wie interessant sind? … Falls nicht, sollten wir uns nicht Humanisten nennen.“
hpd: Was lässt sich über die Gründe dieser Zuspitzung anhand der Textlektüre sagen?
Horst Groschopp: Da kann und sollte sich die Leserschaft sich selbst ein Urteil bilden. Nach meiner Interpretation lotete er im historischen wie aktuellen Humanismus belebbare Elemente aus – auf der Suche nach Gründen für historischen Optimismus. Er verbot sich jeden Zweckoptimismus, wie ihn Verbände vorzeigten, die im Hier und Jetzt agierten und ihre Anhängerschaft vergrößern wollten, sich dabei permanent überschätzten.
hpd: Wollen Sie damit andeuten, dass für Johannes Neumann Humanismus und Kirchenkritik konträre Phänomene sind?
Horst Groschopp: So weit würde ich nicht gehen. Aber für ihn war klar, dass Kirchenkritik eine politische Sache ist, Religionskritik eine ganz andere, eine philosophische, weltanschauliche, kulturelle. Kirchenkritik ist ihm nur ein Aspekt unter anderen, wichtigeren für Humanismus. Zentraler Punkt war für Johannes Neumann, die Fragen des Lebens humanistisch zu beantworten (ich zitiere hier einmal aus dem Buch): „Ob für Gläubige oder Nichtgläubige: Es geht um ein der Gattung Mensch zukommendes verantwortliches Verhalten.“
hpd: Neumann war also kein Freidenker?
Horst Groschopp: Er war ein freier Denker, das ist leider nicht dasselbe. Er sah – schon durch seine teilnehmende Beobachtung – das Ende einer tradierten organisierten Freidenkerbewegung gekommen. Die Restbestände und die Arbeiterfreidenker blieben ihm als bürgerlichem Intellektuellen sowieso immer kulturell fremd. Die größte Anziehungskraft für ihn besaß die Humanistische Union. Zudem beackerte er zahlreiche andere Arbeitsfelder.
hpd: Sollte nicht bei einer historischen Wertung der Bedeutung, die Neumann in der „Szene“ hatte, seine biographische „persönliche Wende“ stärker beachtet werden?
Horst Groschopp: Unbedingt. Die „Szene“ wollte aber vor allem den „neuen“ Neumann rezipieren, nicht die Zeit davor als Amtsbruder von Ratzinger und Küng. Damalige Kollegen waren sich sogar sicher, er würde Bischof oder gar Kardinal werden. Deshalb war mir wichtig, die biographisch-bibliographische Studie von Theodor W. Beine in den Sammelband aufzunehmen, weil der Verfasser, ein Theologe, fragt, wie und wo sich diese „Wende“ andeutete bzw. vollzog. Darin lag dann rückblickend eine innere Logik eines sich befreienden Denkers. Das drückt sich übrigens auch so aus: Konsequenter Ausstieg aus der „Großfamilie“ Kirche und Gründung einer eigenen „Kleinfamilie“.
hpd: Wir hatten vorhin kurz das Thema des Buches angesprochen, das Verhältnis von Humanismus und Kirchenkritik. Darauf will ich noch einmal zurückkommen und fragen: Wie fand Neumann zum Humanismus, zum organisierten zudem?
Horst Groschopp: Theodor W. Beine verdeutlicht in seinem Text, dass Johannes Neumann schon als berufsmäßiger Kanoniker historisch exakt an den Quellen arbeitete mit zwei Folgen für das Später:
Er versuchte zunächst, bestimmte kirchenpolitische Grundsatzfragen in ihrer Entstehung und Entwicklung zu Lösungen zu führen und zu helfen, die Kirche im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils zu modernisieren: die Firmung im Zusammenhang mit der Kindstaufe; das Prinzip der Synode als Problem der Mitbestimmung in der Kirche; die „Mischehe“ als Sakrileg der aus Kircheninteressen erfundenen lebenslangen Ehe und des Umgangs mit Andersgläubigen.
Dann versuchte er ernstlich, Bürger- und Menschenrechte in der römischen Kirche durchzusetzen. Doch er musste die Zwecklosigkeit der Unternehmung erkennen. Denn es gibt in diesem quasi-staatlichen Gebilde nicht einmal ein modernes Prozessrecht, so seine bittere Erkenntnis. Was soll ein Kanoniker tun, der erkennt, er betreibt eine brotlose, aber gut bezahlte Kunst, in der es den Boden gar nicht gibt, auf dem er zu stehen meint. Er kann nur nach den Quellen suchen, aus denen Menschenwürde und Menschenrechte, Demokratie und Bildung, Barmherzigkeit und Solidarität gewachsen sind: der antike Humanismus, die Idee der Humanität.
hpd: Wollen Sie damit sagen, Neumann habe sich von Kirchenkritik verabschiedet?
Horst Groschopp: Nein. Er kritisiert nur anders. Er wurde sogar zum Provokateur unter den Atheisten. Er meinte, sie besäßen zwar Philosophie, gehörten aber ebenfalls zu den Gläubigen. Sie müssten akzeptieren, dass sie an den Humanismus glauben: „Wer an den Menschen und seine Möglichkeiten glaubt – und um seine Grenzen und Fehlbarkeiten weiß – braucht sich nicht als ‘Nicht-Gläubiger’ beschimpfen zulassen.“
Größter Fehler aller Bewegungen mit frischen Ideen sei die Systembildnerei. Mit dem „Humanum“ sei versucht worden, den Menschen menschlich und seine Gesellschaft durch clementia, iustitia und misericordia erträglich zu machen. Die Geschichte des ursprünglichen Christentums zeige allerdings – und hier setzt seine Kirchenkritik an –, dass eine revolutionäre Idee, die selbst im Sklaven noch den Menschen sah, sich dem Primat einer „rechten Lehre“ unterworfen habe, wobei das Menschliche verlorenging.
hpd: Sie haben sich in Ihren Büchern „Pro Humanismus“ und nun „Humanismus und Kirchenkritik“ historischen Fragen der jüngeren Vergangenheit gewidmet, insbesondere der Haltung von Akteuren der „Szene“ zum organisierten Humanismus. In dem Johannes-Neumann-Band gibt es einen Text von ihm mit dem Titel „Humanismus organisieren“. Überall geht es irgendwie um das, was neuerdings nicht mehr „Staatskirchenrecht“, sondern „Religionsverfassung“ genannt wird. Haben Sie hier einen Plan?
Horst Groschopp: Eher ein gedankliches Projekt und eine große Sorge. So wie es in der „säkularen Szene“ zugeht, wie sie sich darstellt, wird sie keine Perspektive haben, was nicht heißt, dass mal gleich alles völlig den Bach runtergeht. Der vorliegende Sammelband führt in die Ideengeschichte zurück, zeigt das Unerledigte.
In anderthalb Jahren wird über dreißig Jahre deutsche Einheit große Bilanz gezogen werden. Die Bundesregierung bereitet das gerade höchstoffiziell vor. Was ist unsere Zwischenrechnung? Ich vermute, „unsere“ Fragen, ob es um Abtreibungen oder Religionsunterricht geht, überhaupt Staat-Kirche-Religion-Weltanschauungsfragen werden da kaum eine oder gar keine Rolle spielen oder im Konsensgesülze untergehen. Es wird Zeit, dass die „Szene“ – sehr breit verstanden – vor sich selbst Rechenschaft ablegt und dabei nicht das macht, warum die CDU den ehemaligen Ministerpräsidenten von Brandenburg als Vorsitzenden des Komitees ablehnt: Er gehe zu kritisch mit der Geschichte der deutschen Einheit um.
hpd: Aus dem ursprünglich geplanten einen Sammelband mit Texten von Johannes und Ursula Neumann sind nun zwei Bücher geworden. Was erwartet uns im 6. Band der „Humanismusperspektiven“?
Horst Groschopp: Beide Bände trennt keine chinesische Mauer. In den folgenden Band von Ursula Neumann sind auch drei Texte in gemeinsamer Autorschaft aufgenommen worden. Der Buchtitel soll den Unterschied verdeutlichen „Tätiger Humanismus. Historische Beiträge zu aktuellen Debatten“. Es geht in ihm wesentlich polemischer und persönlicher zu, auch ist der Inhalt weiter gefasst. Das Buch bringt Debatten über Glaubensfragen und Humanismus, Kirchen- und Religionskritik, Ethik und Umgang mit Geflüchteten sowie weibliche Selbstbestimmung.
hpd: Eine letzte Frage: Wird es einen Band 7 geben?
Horst Groschopp: Ja, 2020, gemeinsam mit Dr. Eckhard Müller über die deutschen Humanistengemeinden, von denen der praktische Humanismus herkommt, von der „weltlichen Seelsorge“, über die Sexualreform bis zur „weltlichen Schule“ und dem Lebenskunde-Unterricht, in denen bedeutende Gelehrte organisiert waren wie Ferdinand Tönnies und Georg Simmel.