Antworten auf das Rätsel, was heute Humanismus ist, hängen von den Sichtweisen und Sehmotiven der jeweils fragenden Subjekte ab. Daraus ergeben sich sowohl die Perspektiven, unter denen Humanismus betrachtet wird, sein Anblick, als auch die Perspektiven, die ihm gegeben werden, Einblicke in seine Vergangenheit und Ausblicke in seine Zukunft. Je nachdem kann Humanismus eine vergangene Kulturströmung sein, die heute zu pflegen wäre, eine Antike- und / oder Renaissance-Angelegenheit. Das Verständnis kann noch weiter eingeschränkt werden auf das so genannte Humanistische Gymnasium. Dieser Blick teilt sich dann durchaus noch in einen, der die heutigen Schuleinrichtungen betrachtet, und in einen, der ihre Gestalt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert studiert. Es gibt also viele Möglichkeiten, Humanismus zu begreifen.
Das allgemein vorherrschende Verständnis von Humanismus sieht diesen als Folge der Antikeaneignung seit der Renaissance und als von Oberitalien ausgehende demokratische und aufklärerische Kulturbewegung, die „Menschenwürde“ definiert. Annahmen und Grundsätze über menschliche Würde spiegeln sich schließlich in den Menschenrechten und weiteren Verabredungen über Humanität, die in den Verfassungen Europas, Amerikas und schließlich in den Vereinten Nationen ihren Niederschlag finden.
Daraus wuchs – durchaus in Distanz zu christlich-kirchlichen Glaubens- und Würdevorstellungen – eine weitere, engere, durchaus zuspitzende Auffassung von Humanismus, die sich der soeben genannten inhärent sieht. Sie spitzt den weltanschaulichen Kern von Humanismus zu, in dem sie behauptet und dafür gute Gründe nennt, dass Menschen sich selbst Verfassungen geben, als Individuen, als Gesellschaften bzw. als Staaten, und dass diese Verfassungen von keinem Gott oder einem höheren Prinzip sich ableiten bzw. darauf zurückführen lassen.
Diese Ansicht haben die Mitglieder des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD) gemeinsam mit anderen international agierenden humanistischen Verbänden zu ihrer „Weltanschauung“ gemacht, weil dies – besonders in Deutschland – sowohl verfassungsrechtlichen Vorgaben als auch eigenen Orientierungsbedürfnissen folgt.
Das vorliegende Buch sollte ursprünglich „Was ist heute Humanismus?“ heißen, dem Titel der Konferenz der Akademie der Politischen Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung (fes) und der Humanistischen Akademie Deutschland (HAD) am 15. und 16. November 2008 in Berlin folgend. Da aber die Humanistische Akademie Bayern im gleichen Verlag in ihrer Schriftenreihe, der die Bundesakademie in Layout und Anliegen folgt, 2007 schon den Titel „Was heißt Humanismus heute?“ herausgegeben hat, haben sich Herausgeber und Verlag auf die hintergründige Überschrift „Humanismusperspektiven“ verständigt.
Die Beiträge in diesem Sammelband bewegen sich – wie der Untertitel der Konferenz sagte – „zwischen Antikerezeption und Weltanschauungskampf“, in diesem Buch noch deutlicher als auf der Tagung. Die gehaltenen Vorträge Texte finden sich in der originalen bzw. überarbeiteten Fassung in diesem Band. Weitere Beiträge zum Thema wurden aufgenommen. Damit wird der Leserschaft ein breit gefächertes Werk über Humanismus vorgelegt.
Argumenten von Kritikern am Konzept eines „Humanismus als Weltanschauung“ (bzw. Bekenntnis, Konfession …) wird mit Aussagen begegnet, nach denen Philosophien durchaus Bekenntniselemente besitzen; nach denen Weltanschauungen zwar (kulturelle) Glaubenselemente schon per Definition aufweisen, das aber noch nicht besagt, dass der Bekennende „blind glaubt“; und dass Bekenntnisse noch immer in religiösen Traditionen gedacht werden, die davon absehen, dass Mann oder Frau oder Gruppen sich auch zu politischen Haltungen, für unschuldig Verurteilte oder solidarisch zu den Armen im Land oder zu Fußballmannschaften bekennen können.
Die in diesem Band versammelten Autoren und eine Autorin sehen Humanismus durchweg als ein in der Gegenwart „lebendes“ Phänomen mit einer langer Geschichte. Er ist eine „Bewegung“ und zugleich Philosophie. Er „geschieht“ – wird gedacht und gemacht – in realen kulturellen und politischen Vorgängen, ist streitbar und strittig. Die Debatten über ihn beleben sich gerade. Das will der vorliegende Band befördern.
Am 15. und 16. November 2008 fand in Berlin die neunte jährliche Konferenz über Probleme des Humanismus statt. Die erste hieß Humanistischer Aufbruch 2000 – Situation und Perspektiven freigeistiger Verbände in Deutschland und tagte am 11. und 12. November 2000. Es war die erste gemeinsame Konferenz der Politischen Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Humanistischen Akademie Berlin. Seit 2007 ist die Humanistische Akademie Deutschland der Partner und die Berliner Akademie übernimmt seitdem den zweiten Konferenztag.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts – um es pathetisch ein wenig zu erhöhen – treffen sich um die hundert Vertreter der freigeistigen und humanistischen Verbände und einfach am Stoff Interessierte zu Bildungszwecken und Streitgesprächen mit Referentinnen und Referenten, die zum jeweiligen Thema Bedenkenswertes zu sagen haben. Alle Tagungen (bis auf die erste) sind in den 25 Bänden der Reihe humanismus aktuell dokumentiert. Ab 2009 – mit dieser Ausgabe – übernimmt die neue Schriftenreihe der Bundesakademie des Humanistischen Verbandes Deutschlands die Drucklegung beim Alibri Verlag Aschaffenburg.
Charakter und Verlauf der Konferenzen haben sich seit dem ersten Treffen gründlich geändert. Aus „Klassentreffen“ wurden anspruchsvolle intellektuelle Diskurse, in die immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einbezogen werden konnten, die dem organisierten Humanismus sonst eher fern stehen. Auch die „Hörerschaft“ ist viel breiter geworden. Das lag wesentlich an den Themen:
- 2001: Säkularisierung in Deutschland. Soziologische Befunde und die Perspektiven freigeistiger Verbände
- 2002 (mit der Humanistischen Union). 200 Jahre Säkularisation. Staat, Kirche, Recht und Weltanschauungsverbände heute und der Reichsdeputationshauptschluß 1803
- 2003 (mit der Humanistischen Union): Humanes Leben bis zuletzt. Patientenwille und gesetzliche Regelung der Sterbehilfe in Deutschland
- 2004: Säkularisierung der Menschenbilder? Ludwig Feuerbach 200. Geburtstag
- 2005 (mit der Giordano-Bruno-Stiftung): Umworbene „dritte Konfession“. Befunde über die Konfessionsfreien in Deutschland
- 2006: Säkulare Geschichtspolitik in Deutschland und freidenkerisches Erbe
- 2007: Säkularisation und Freiheitsgarantien des Staates. Humanismus und „Böckenförde-Diktum“.
Die Novemberkonferenz 2008 stand am ersten Tag unter der Überschrift Humanismus in Deutschland – zwischen Antikerezeption und Weltanschauungskampf. Sie hatte zwei Zugänge, einen philosophischen durch Julian Nida-Rümelin und einen historischen durch Hubert Cancik. Ausgehend von der Annahme, dass sich der aktuelle Humanismus in Deutschland wesentlich in programmatischen sozialen und politischen Variationen darstellt, die sich auch organisatorisch ausdrücken, fand danach eine Podiumsdebatte statt, in der sich Humanismusofferten in Deutschland vorstellten. Es sprachen Frieder Otto Wolf über Modernen Humanismus, Johann Albrecht Haupt über Bürgerrechtlichen Humanismus, Michael Schmidt-Salomon über Evolutionären Humanismus, Joachim Kahl über Weltlichen Humanismus und Armin Pfahl-Traughber über Demokratischen Humanismus.
In vier spezialisierten Arbeitskreisen ging es anschließend um Die Erfindung des „Humanismus“ bei Herder und Niethammer (Martin Vöhler), Lebenskunde – humanistischer Bekenntnisunterricht!? (Jaap Schilt), Der Evolutionäre Humanismus als Integrationswissenschaft (Gerhard Engel) und Humanismus als kulturelle Weltanschauung (Horst Groschopp).
Der zweite Tag der Konferenz war eine Veranstaltung der Humanistischen Akademie Berlin und widmete sich aktuellen verbandspolitischen Theorie- und Streitfragen. Die Debatte knüpfte direkt an das Jahr 2000 an und fragte nach Zusammenhängen zwischen „Neuem Atheismus“ und politischem Humanismus – Bedeutung für Konfessionsfreie. Die Tagung ist teilweise dokumentiert in der letzten Lieferung von humanismus aktuell (Heft 23, Berlin 2009). Der Beitrag von Volker Mueller am zweiten Tag wurde in die vorliegende Publikation aufgenommen. Der erwähnte 23. Band von humanismus aktuell enthält auch eine Bibliographie aller in dieser Reihe erschienenen Texte – weitere über hundert Text-Angebote zum Verständnis dessen, was heute Humanismus ist.
Der Titel „Humanismusperspektiven“ verspricht unterschiedliche Gesichtspunkte bei der Betrachtung von Humanismus. Es wird auf Humanismus geschaut und „humanistisch“ auf die Welt. Dabei sind sinnbildliche Anklänge an die ursprünglichen lateinischen Wortbedeutungen von humanitas und perspicere durchaus gewollt. Diesen Übersetzungen folgend, geht es in diesem Sammelband darum, besser durchzusehen, was Barmherzigkeit, Bildung und Menschenfreundlichkeit bedeuten. Was trägt es ein, auf das dreidimensionale Objekt Humanismus zu blicken, wenn es auf eine zweidimensionale Fläche (hier schwarzweiße Buchseiten) projiziert wird? Entsteht bei der Leserschaft ein räumlicher Eindruck von diesem Gebilde Humanismus? Das dies gelingt, das hoffen immer alle Autoren. Ob es gelungen ist, das hoffen Verlag und Herausgeber.
Quelle: Horst Groschopp: Vorwort. In: Ders. (Hrsg.): Humanismusperspektiven. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2010, S. 7–10 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Bd. 1).