Vorwort
Humanismus ist eine Kulturbewegung und eine Weltanschauung. Seine Anhängerschaft lebt und achtet die Prinzipien Individualität, Selbstbestimmung, Weltlichkeit, Solidarität, Toleranz und Kritik. Sie lehnt alle Dogmen ab, nicht nur religiöse. Humanismus geht bis in die Antike zurück. Seit dem fördert und fordert er Humanität, Demokratie, Bildung, Wissenschaft, Kunst, Philosophie – und eine eigene Pädagogik. All dies macht Humanismus zu einer Lernkultur. Doch wie lernt man Humanismus? Humanismus bündelt Wertvorstellungen. Doch wie geschieht Wertebildung im Kindes- bis Jugendalter?
Dieser Frage widmet sich der vorliegende Sammelband anhand einiger Beispiele. Ausgangspunkt ist, dass aus der „Sicht der sozialwissenschaftlichen Forschung … ein allgemeiner ‘Werteverfall’ oder eine ’Erosion’ der Moral nicht bestätigt werden [kann]. Vielmehr spricht man von einem Wandel der Moralvorstellungen und einem Wertepluralismus. Einen Grund dafür stellen im Wesentlichen die erweiterten Freiheitsspielräume jedes Einzelnen dar, die aus den weniger bedeutungsvoll gewordenen institutionellen Zwängen und Erwartungen resultierten.“ (Dietmar Sturzbecher / Eva Christina Schmidpeter)
Fragen der außerhäuslichen Wertebildung im Kindes- bis Jugendalter wurden auf drei Konferenzen und nach einem Vortrag (Jo Reichertz) ausgiebig diskutiert, veranstaltet von der Humanistischen Akademie Berlin im Jahr 2009. Die meisten der vorliegenden Beiträge gehen zurück auf folgende Tagungen: die vom 19. Juni über Gemeinschaft und Partizipation – Jugendliche und ihre Verbände. Empirische Befunde und ihre Deutung (gemeinsam mit der Jugendorganisation des HVD, den Jungen HumanistInnen (JuHu); die vom 7. November Zur Förderung von Wertebildungsprozessen in Humanistischen Kindertagesstätten (gemeinsam mit der Abteilung Kindertagesstätten des HVD Berlin); und die vom 15. November Politik der Menschenwürde und der Selbstbestimmung. Was heißt Selbstbestimmung für Kinder? Humanismus und Kinderrechte.[1]
Die Textanordnung in diesem Band gehorcht folgender Logik: Nach einer Einführung ins Thema Kinderrechte (Thomas Mohrs) und einer Beispielschilderung, wie der Stoff im Berlin-Brandenburger freiwilligen Schulfach Humanistische Lebenskunde (gegenwärtig etwa 50.000 Teilnehmende) mit Kindern behandelt wird (Eva Ellerkmann) wird in die Bereiche Wertebildung in Kindertagesstätten (Marie Wätke) bzw. Jugend- und Jugendverbandsarbeit (Margrit Witzke) jeweils von der Praxis des Humanistischen Verbandes (HVD) ausgehend einleitend eingeführt.
Den Abschluss bildet dann der Artikel von Jo Reichertz über Sinnbildung bei Jugendlichen und Fernsehkonsum. Er fragt: „Können die Medien – und hier vor allem das Fernsehen – wirklich, wie manche befürchten und andere hoffen, Sinn schaffen und verbindlich auf Sinn orientieren oder können sie lediglich liefern, was andere entwickelt haben und verbürgen? Sind die Medien wirklich ‘Sinnstifter’ …?“
Dem Herausgeber kam es bei der Auswahl der Referenten und dann der Autoren überhaupt nicht darauf an, ob diese in irgendeiner Beziehung zum HVD stehen oder gar selbst nichtreligiös sind. Es sind alles ausgewiesene Expertinnen und Experten, deren Texte zu drucken für die Akademie eine Ehre ist (siehe Autorenverzeichnis).
In dem Teil über Jugendarbeit wird sogar über religiöse Vereine berichtet. Es werden Befunde über die Evangelische Jugend vorgetragen, die Gegenstand einer Tiefenuntersuchung war (Katrin Valentin stellte sie auf der Tagung vor und sie besorgte die Texte von ihr, Arthur Fischer und Richard Münchmeier). Gerade hier zeigt dann die Lektüre insofern Vergleichbares mit der humanistischen Praxis, als „bekennende“ Organisationen wohl ähnliche strukturelle und inhaltliche Probleme haben.
So wird gerade in diesem Teil des Buches deutlich, wie verallgemeinerungsfähig das Beschriebene für jede organisierte Verbandsarbeit ist. Die Behandlung der Evangelischen Jugend zeigt an vielen Stellen große Ähnlichkeiten mit anderer Vereinsarbeit. Das wird besonders deutlich, wenn Katrin Valentin und Kollegen zwei Beobachtungen mitteilen: Es gäbe „Bereiche, bei denen es auch thematisch um das Religiöse geht“. Hier seien die Gruppen „nur für bestimmte Leute“ offen. Religionsbezogene Aktivitäten seien zwar generell gewollt (auch dies ließe sich, so der Einschub des Herausgebers, für alle weltanschaulichen Angebote verallgemeinern), hielten aber andere von der Teilnahme ab. So stehe der religiöse Zweck einer größeren Teilnahmezahl entgegen. Doch wie offen könne „ein Verband sein, ohne sein Selbstverständnis zu verraten oder seine konzeptionelle Ausrichtung zu verlieren? Wie offen muss ein Verband sein, damit er auch ausreichend Jugendliche hat, die ihn am Leben und lebendig erhalten?“
Und was bedeute überhaupt Gemeinschaft, angesichts der Tatsache, „dass das Zentrale für das Nutzungsverhalten von Jugendlichen, nämlich Gemeinschaft, von den Verbandsvertretern und Verbandsvertreterinnen gar nicht hergestellt werden kann. Diese Schlussfolgerung offenbart das Ausmaß der Abhängigkeit eines Verbandes von seinen Teilnehmenden. Eine derartige Abhängigkeit besteht in eben dem Maße, in dem Gemeinschaft eine Rolle spielt, sie ist – kurz gesagt – immens.“ (Katrin Valentin)
Die Verbindung zwischen Kinderrechten und Wertebildung in Kitas ist elementar. Wie soll ein Kind lernen, (humanistische) Werte zu leben, wenn es nicht von Lebensbeginn an erfährt, dass es selbst in seiner Umwelt, besonders den unmittelbaren Lebensbegleitern, wertvoll ist. Seine Weltanschauung bildet sich über das Anschauen und Verarbeiten des eigenen Lebens. Erst die Erfahrung eigener Würdigkeit ermöglicht es, in wechselvoller Anerkennung mit anderen Kindern, Eltern, Lebenspartnern (worunter auch Geschwister, Verwandte und Bekannte zählen) und schließlich in der Gesellschaft zu leben. Daraus folgt nicht nur, dass hier kein Trichterprinzip funktioniert. Bildung ist soziale Praxis und die Wertebildung zugleich stets „die (Neu-)Bildung von Werten“ (Christa Preissing), wie sich gerade auf dem komplizierten Feld der Geschlechterbeziehungen in Kindertageseinrichtung zeigt (Margarete Blank-Matthieu).
Demokratie gehört zu den humanistischen Wertvorstellungen. „Wo wird Mensch Demokrat?“ fragt Helmut Richter ganz grundsätzlich in seinem Beitrag. Es sei „heutzutage angesagt, von Partizipation zu sprechen, wenn es recht eigentlich um Demokratie geht.“ Dadurch werde die „Differenz zwischen Partizipation und Demokratie, zwischen Beteiligungs- und Entscheidungsrechten, nivelliert und dadurch der Eindruck erweckt, Beteiligungsrechte seien schon Entscheidungsrechte“.
Das Problem sei, dass beide Beteiligte – Entscheider und Betroffene – daraus Vorteile zögen, solange ein Demokratieverständnis praktiziert werde, „das sich in die Worte fassen lässt: Demokratie ist, wenn ich (bzw. meine Gruppe) machen kann, was ich (bzw. meine Gruppe) will.“ Da sich jede Verbandarbeit zudem noch zwischen den Extremen „Ersatz-Familie“ und „Betrieb“ abspiele, ergeben sich daraus zwei Gefahren für die Demokratie im Vereinsleben: Wo der Verein Ersatz sei für Familiäres, wüchsen feudalähnliche Abhängigkeitsverhältnisse. Werde der Verein zum Betrieb, führe dies zur Disziplinierung der Mitgliedschaft und der Haupt- und Ehrenamtlichen, um den Betriebszweck – die Dienstleistungen – erfüllen zu können.
Nun könne dagegen eingewendet werden, gerade bei der Feuerwehr (Helmut Richter untersucht die Jugendfeuerwehr Hamburg) sei Demokratie schwer möglich. Doch der Autor setzt entgegen, dass dies ein „Missverständnis gegenüber dem Demokratiebegriff“ sei. Demokratie müsse es auch geben, „wenn jemand sich freiwillig und für begrenzte Zeit aus einer Sachnotwendigkeit heraus, einer Leitung unterordnet – und wenn im Nachhinein die Möglichkeit besteht, die getroffenen Entscheidungen zu diskutieren und gegebenenfalls zu kritisieren.“
So möge es bitte auch die Leserschaft mit diesem Sammelband halten: Kritik ist herzlich willkommen.
- Tags zuvor fand Teil 1 der Veranstaltung mit und in der Friedrich-Ebert-Stiftung über „Menschenwürde in der ‘alternden Gesellschaft’. Humanismus und Seniorenethik“ statt. Hier erscheinen die Beiträge gemeinsam mit anderen 2011 in Band 4 dieser Schriftenreihe unter dem Titel „Menschenwürde und Lebensende. Selbstbestimmung, Sterben, Spiritualität“. ↑
Quelle: Horst Groschopp. Vorwort. In: Humanismus und junge Generation. Hrsg. Von Horst Groschopp. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2010, S. 7–10 (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin, Bd. 3).