Humanismus und Pazifismus – Beitrag zu einer aktuellen Debatte in der „säkularen Szene“

Pazifismus

SPD Maifestzeitung 1914_NEW.jpg_800.jpgSucht man heu­te in der Pres­se das Wort Pazi­fis­mus, dann fin­det es sich meist in nega­ti­ver Anwen­dung als fei­ges Ver­hal­ten, aber zugleich als etwas, was im Bewusst­sein der deut­schen Bevöl­ke­rung zu über­win­den sei, weil die Welt­la­ge es erfor­de­re. Im Umkehr­schluss kann man fol­gern, dass Pazi­fis­mus weit ver­brei­tet ist.

2011 wur­de in Deutsch­land die All­ge­mei­ne Wehr­pflicht aus­ge­setzt. Seit­dem erüb­ri­gen sich Ein­rich­tun­gen wie die am 2. März 1957 gegrün­de­te „Zen­tral­stel­le für Recht und Schutz der Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer aus Gewis­sens­grün­den“ (Zen­tral­stel­le KDV in Frei­burg). Damals, im Kal­ten Krieg, galt schon als Pazi­fis­mus, was nur den Anschein erweck­te, sich den Rus­sen zu erge­ben. Die „Badi­sche Zei­tung“ erin­ner­te in der Aus­ga­be vom 2. März 2007, aus Anlass des 50. Jah­res­ta­ges der Grün­dung, an den exem­pla­ri­schen Fall des Udo Hegar, Jahr­gang 1934, Arzt, zum so genann­ten Wei­ßen Jahr­gang gehö­rend, den man 1967 gern unter die Reser­vis­ten gesteckt hät­te: „In jenen Zei­ten der Eksta­se, als vie­le im Kal­ten Krieg noch von „roll back“ träum­ten – ‚Sieg­reich wol­len wir Russ­land schla­gen‘ –, ruh­te ein begehr­li­cher Blick auf allen halb­wegs Gesun­den.“[1]

Das Wort „Pazi­fis­mus“ gehört zu den­je­ni­gen Kate­go­rien in poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, bei denen fal­sches Ver­ste­hen vor­aus­ge­setzt wer­den kann. Es wird meist mit einer Hal­tung iden­ti­fi­ziert, die einer Pas­sa­ge aus dem Neu­en Tes­ta­ment folgt. Dort schreibt Mat­thä­us (5, 39) dem Jesus fol­gen­den Spruch zu: „daß ihr nicht wider­stre­ben sollt dem Übel; son­dern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf dei­ne rech­te Backe, dem bie­te die ande­re auch dar“, wor­auf (5, 40) sogar noch folgt, dass, wenn mir jemand mei­nen Rock stiehlt, ich ihm noch den Man­tel schen­ken soll.

Pazi­fis­ten wird in die­ser Inter­pre­ta­ti­ons­li­nie unter­stellt, sie wür­den jede Gewalt ableh­nen, auch jede Selbst­ver­tei­di­gung. Doch ist genau dies nicht der ethi­sche Kern des Pazi­fis­mus,[2] son­dern die Ableh­nung bewaff­ne­ter Kon­flikt­lö­sun­gen. Um die­sen gro­ßen Unter­schied teils klein zu reden, teils bewusst zu igno­rie­ren, wird Pazi­fis­mus häu­fig gese­hen als Ableh­nung jeder Gewalt – als ob nicht die Gewalt fried­li­cher Demons­tra­ti­on auch eine Gewalt­form wäre. Über die Gewalt, die von Pazi­fis­ten akzep­tiert wird und deren zivil­ge­sell­schaft­li­chen For­men, gibt es von Beginn an wider­strei­ten­de Diskurse.

Gewalt“ steht immer in kon­kre­ten kul­tur­his­to­ri­schen Zusam­men­hän­gen, in denen sich das Ver­ständ­nis davon wan­delt. Das führt dazu, dass als „gewalt­frei“ gel­ten­de Wider­stands­for­men, wie etwa Sitz­blo­cka­den, in ande­ren Zei­ten als psy­chi­sche Gewalt inter­pre­tiert und ent­spre­chend juris­tisch als nicht pazi­fis­tisch beur­teilt und mit Stra­fen belegt wer­den kön­nen. Die gesam­te Geschich­te pazi­fis­ti­schen Den­kens kann in die­sem Sin­ne als stän­di­ges Auf­tür­men sol­cher „Miss­ver­ständ­nis­se“ gese­hen wer­den. Bel­li­zis­ten nei­gen dazu, jedes Auf­be­geh­ren gegen ihre als „Real­po­li­tik“ vor­ge­tra­ge­ne Hal­tung als nicht legi­ti­mes, nicht über­le­gens­wer­tes oder ganz und gar nicht effek­ti­ves Mit­tel poli­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zung und Inter­es­sen­durch­set­zung zu hal­ten. Sie beschrei­ben Pazi­fis­ten als welt­fer­ne Spin­ner, die fern wirk­li­cher Kri­sen­sze­na­ri­en agie­ren oder (wenn man freund­lich zu ihnen sein will) uto­pi­sche Gedan­ken haben.

Die­ses „Miss­ver­ständ­nis“ beginnt schon bei der Defi­ni­ti­on. Der heu­te geläu­fi­ge Aus­druck „Pazi­fis­mus“ ist abge­lei­tet vom latei­ni­schen Sub­stan­tiv „pax“ (Frie­den, Geni­tiv: „pacis“) und dem Verb „face­re“, das tun, machen und her­stel­len aus­drückt. Ein „paci­fi­cus“ ist dem­nach ein Frie­den stif­ten­der Mensch, der „paci­fi­ca­re“ betreibt. Er schließt Frie­den, befrie­det, besänf­tigt. Es geht beim Pazi­fis­mus um das „Frie­den­ma­chen“ oder „Frie­den machend“. Die ent­spre­chen­de Stel­le im „Neu­en Tes­ta­ment“ („Berg­pre­digt“) beginnt „Selig sind die Fried­fer­ti­gen …“ („bea­ti paci­fi­ci“).[3] Radi­ka­le Pazi­fis­ten – und in die­sem Sin­ne sind sie reli­gi­ons­kri­ti­sche Frei­den­ker – leh­nen die „Berg­pre­digt“ als Begrün­dung ab, weil sie nicht von „Waf­fen­lo­sig­keit“ spricht und sich vor allem an Chris­ten wen­det: „Lie­bet eure Fein­de; [seg­net, die euch flu­chen; tut wohl denen, die euch has­sen;] bit­tet für die, so euch [belei­di­gen und] has­sen.“[4]

Die heu­te geläu­fi­ge Her­lei­tung des Begriffs Pazi­fis­mus aus „pacis“ und „face­re“ knüpft an den „Neu­hu­ma­nis­mus“ des 18./19. Jahr­hun­derts an. Bei­des geht unbe­dingt zusam­men: Huma­nis­mus – ver­stan­den als Barm­her­zig­keit, Ent­ro­hung, Men­schen­wür­de und Bil­dung – und Pazi­fis­mus ange­sichts der zum Ende des 19. Jahr­hun­derts als Poten­zi­al zur Mensch­heits­ver­nich­tung gese­he­nen Auf­rüs­tung in Euro­pa, die zum ers­ten Welt­krieg führ­te. Alfred Nobel stif­te­te gera­de des­halb den nach ihm benann­ten Preis.

Es war der fran­zö­si­sche Anwalt und Schrift­stel­ler Émi­le Arnaud, dem 1901 die Erfin­dung des Wor­tes in sei­nem Werk „Code de la Paix“ zuge­schrie­ben wird. Wort und Pro­gramm des „Pazi­fis­mus“ wur­de von einer zunächst sehr klei­nen Grup­pe von Intel­lek­tu­el­len vor­ge­tra­gen, um ein Völ­ker­recht zu schaf­fen.[5] Bereits nach dem Ende der Napo­leo­ni­schen Krie­ge nah­men in eini­gen euro­päi­schen Staa­ten pazi­fis­ti­sche Bestre­bun­gen einen beschei­de­nen Anfang. Sie for­mier­ten sich nach 1866/1871 neu. Es war dies auch die Zeit (1870), in der sich in Paris eine inter­na­tio­na­le Frei­den­ker­be­we­gung kon­sti­tu­ie­ren woll­te. Deren Grün­dung fand jedoch wegen des Deutsch-Fran­zö­si­schen Krie­ges erst zehn Jah­re spä­ter (1880) statt. Die deut­sche Sek­ti­on folg­te ein Jahr später.

Arnaud woll­te sich in sei­ner Arbeit klar von nur kari­ta­tiv gemein­ten, stark mora­li­sie­ren­den, eher huma­ni­ta­ris­ti­schen und ledig­lich reli­gi­ös argu­men­tie­ren­den poli­ti­schen Kon­zep­ten abset­zen und ein Pen­dant zu den Begrif­fen und Bewe­gun­gen des Libe­ra­lis­mus und Sozia­lis­mus schaf­fen. Hier­für blieb ihm und sei­nen Mit­strei­te­rin­nen und Mit­strei­tern nur der Rekurs auf Huma­nis­mus und des­sen Humanitätsidee.

Schon damals gebrauch­te die deut­sche Anhän­ger­schaft von Arnaud das Wort „Pazi­fis­ten“ syn­onym mit „Frie­dens­freun­de“. Doch die­ser Aus­druck erschien, so Ber­tha von Sutt­ner 1899, als nicht sehr „glück­lich gewähl­ter Name“. Denn ein „Freund des Frie­dens ist fast jeder, Bekämp­fer des Krie­ges, davon gibt es erst eine klei­ne Schar“.[6] Man begrüß­te nun bei den Frie­dens­freun­den die Wort­schöp­fung von Arnaud, weil sie ver­bind­li­cher und kla­rer schien. Die Anhän­ger der Frie­dens­be­we­gung erstreb­ten einen „gesi­cher­ten inter­na­tio­na­len Rechtszustand“.

Dies war ein neu­er Gedan­ke: Absa­ge an jede krie­ge­ri­sche Gewalt­stra­te­gie, aus­ge­schlos­sen auch die Andro­hung bewaff­ne­ter Gewalt (modern: Abschre­ckung), mit dem Ziel der Kriegs­ver­hin­de­rung durch Abrüs­tung. Das Kon­zept schloss die Orga­ni­sa­ti­on der Kriegs­geg­ner eben­so ein wie das der indi­vi­du­el­len und kol­lek­ti­ven Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung. Es gehört zu den kul­tur­his­to­ri­schen Leis­tun­gen des huma­nis­ti­schen Pazi­fis­mus, dass er die­se Gedan­ken inno­vier­te, dass er denk­bar mach­te, dass die Welt ohne Krie­ge aus­zu­kom­men ver­mag. Die Idee war „frei­den­ke­risch“.

Die­se Art frei­en Den­kens hat Fried­rich Nietz­sche 1880/81 – zeit­gleich zur Grün­dung der „Brüs­se­ler-Frei­den­ker-Inter­na­tio­na­le“ und des „Deut­schen Frei­den­ker­bun­des“, die er wohl gar nicht kann­te – wie folgt beschrie­ben: Es wür­den die­je­ni­gen zu Frei­den­kern, denen „schon ein Aus­den­ken und Aus­spre­chen von ver­bo­te­nen Din­gen … Befrie­di­gung gie­bt“.[7] Die­ses wei­te Ver­ständ­nis von Frei­den­ke­rei ist von dem gründ­lich zu unter­schei­den, das dann die Frei­den­ker­be­we­gung des 20. Jahr­hun­derts der „Klas­sen­kämp­fe“ prägt.

Kurze Freidenkergeschichte

Die Frei­den­ke­rei zwi­schen 1840 und 1930 fuß­te auf den sich popu­la­ri­sie­ren­den Auf­klä­rungs­ideen des 18. Jahr­hun­derts.[8] Der Begriff des Frei­den­kers kann­te zunächst kei­ne Orga­ni­siert­heit, impli­zier­te aber diver­se Grup­pen­bil­dun­gen. Bereits das 1759 erschie­ne­ne „Frey­den­ker-Lexi­con“ von Johann Anton Tri­ni­us nennt „Athe­is­ten, Natu­ra­lis­ten, Deis­ten, gro­be Indif­fe­ren­tis­ten, Scep­ti­ker und der­glei­chen Leu­te“.[9]

Das Wort „Frei­den­ker“ selbst kam um 1700 aus dem Eng­li­schen in die Welt und 1715 über Leib­niz ins Deut­sche. Es ging noch dar­um, den Unter­schied zwi­schen Reli­gi­on und Aber­glau­ben in das Bewusst­sein der Öffent­lich­keit zu rücken. Das Ziel war eine auf­ge­klär­te Reli­gi­on, sprich: Chris­ten­tum, aber auch, wie Les­sings frü­hes Lust­spiel von 1749 „Der Frey­geist“ zeigt, um das Akzep­tie­ren einer plu­ral moti­vier­ten Haltung.

Durch die Frei­ga­be des Zwei­fels im Gefol­ge der bür­ger­li­chen Revo­lu­tio­nen des 18./19. Jahr­hun­derts (Stich­wort: weit­ge­hen­de Ein­schrän­kung der Zen­sur im Wis­sen­schafts­be­trieb) ver­schwand die all­ge­meins­te Ursa­che die­ser frü­hen Frei­den­ke­rei. Das neue Frei­den­ker­tum, das ist die tra­di­tio­nel­le frei­den­ke­ri­sche Bewe­gung, ent­stand in der ers­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts aus bür­ger­li­chen Eman­zi­pa­ti­ons­be­stre­bun­gen. Sie war zum einen eine Intel­lek­tu­el­len-Bewe­gung außer­halb des aka­de­mi­schen Bereichs, ein frei­er geis­ti­ger Betrieb, kon­sti­tu­iert vor­wie­gend durch Pri­vat­ge­lehr­te und Schrift­stel­ler. Man hat ihre Ange­bo­te berech­tigt als „Poe­ten­phi­lo­so­phie“ bezeichnet.

Vie­le von ihnen sahen sich als Welt­an­schau­ungs­pro­du­zen­ten – und waren dies auch.[10] In ihrem orga­ni­sier­ten Teil han­del­te es sich um eine Glau­bens­be­we­gung, deren Anhän­ger in ihrer Reli­gi­on frei sein woll­ten, wes­halb sie sich auch „Frei­re­li­giö­se“ nann­ten. Juris­tisch waren sie „Dis­si­den­ten“. Mit frie­dens­po­li­ti­schen Ideen tra­ten sie nicht geson­dert her­vor. Die zehn For­de­run­gen des „Wei­ma­rer Kar­tells“ von 1909, des ers­ten gro­ßen Zusam­men­schlus­ses der Frei­den­ker, sag­te dazu nichts. Die Dis­si­den­ten die­ser Zeit folg­ten zum einen ihrer christ­li­chen Ver­gan­gen­heit und einer bibel­kri­ti­schen all­ge­mei­nen Frie­dens­lie­be, zum ande­ren ihren Gedan­ken­vä­tern Imma­nu­el Kant, Fried­rich Schil­ler, Lud­wig Feu­er­bach und Johann Wolf­gang Goethe.

Zwei gesell­schaft­li­che Bedürf­nis­se, die sich immer wie­der bün­del­ten und zu unter­schied­li­chen Orga­ni­sa­ti­ons­for­men führ­ten, erzeug­ten gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts ein brei­tes Spek­trum von athe­is­ti­schen, frei­geis­ti­gen, frei­re­li­giö­sen, agnos­ti­schen und huma­nis­ti­schen Ver­bän­den. Da ist zum einen der Wunsch nach Frei­heit des öffent­li­chen Nach­den­kens, erlaub­ter Reli­gi­ons­kri­tik und Lösung des engen Ban­des zwi­schen Staat und Kir­chen, Bil­dungs­we­sen und Reli­gi­on; zum ande­ren gab es immer wie­der diver­se Inter­es­sen von Dis­si­den­ten, heu­te Kon­fes­si­ons­freie genannt, hin­sicht­lich Bil­dung, Fes­ten und Fei­ern sowie der Ein­rich­tung einer huma­ni­tä­ren Praxis.

Zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts ver­än­der­te sich die bür­ger­li­che Intel­lek­tu­el­len-Debat­te für neue Welt­an­schau­un­gen und gegen eine dog­ma­ti­sche Kir­che mit ihren Restrik­tio­nen des Geis­tes­le­bens. Ursa­chen dafür waren zum einen eine offe­ne­re Land­schaft aka­de­misch betrie­be­ner Wis­sen­schaf­ten mit weit­ge­hen­der For­schungs­frei­heit; zum ande­ren kam es zu öffent­lich akzep­tier­ten Indi­vi­dua­li­sie­run­gen der pri­va­ten Reli­gi­ons­aus­übung. Die Kir­chen die­ser Zeit waren dem Mili­tär eng ver­bun­den und för­der­ten natio­na­le Gesin­nung. Das war Oberschichtenkultur.

Zugleich, und dies war eine Unter­schich­ten-Bewe­gung, kam es zu einer mas­sen­haf­ten pro­le­ta­ri­schen Orga­ni­sa­ti­on mit ent­spre­chen­den Dienst­leis­tun­gen (Ster­be­kas­sen, Jugend­wei­he), die gegen das vor­herr­schen­de Chris­ten­tum stand. Das Bünd­nis von Thron und Altar, von Mili­tär und Kir­che dräng­te oppo­si­tio­nel­le Arbei­ter in die­se Rich­tung. Die Ver­bin­dung von Dar­wins Evo­lu­ti­ons­theo­rie mit Marx‘ Ana­ly­se der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft erzeug­te eine im Ver­ständ­nis der Sozi­al­de­mo­kra­tie „wis­sen­schaft­li­che Welt­an­schau­ung“, den Sozia­lis­mus als Reli­gi­ons­er­satz. Im Bild der Frei­den­ker kam für einen künf­ti­gen „Volks­staat“ nur eine Frei­wil­li­gen­kir­che in Betracht, die sich mit ihren Gläu­bi­gen beschäf­tigt, aber nicht mit Bil­dung, Erzie­hung, Poli­tik oder gar Mili­tär. Die Sozi­al­de­mo­kra­tie warb für „Volks­mi­li­zen“ statt Armeen.

Der Begriff des „Mili­ta­ris­mus“ wur­de 1864 vom fran­zö­si­schen Sozia­lis­ten Pierre Joseph Proudhon ein­ge­führt.[11] Die Dis­kus­si­on dar­über ver­band sich gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts mit der Kri­tik am „Impe­ria­lis­mus“ (Groß­macht­stre­ben)[12] – ein im 16. Jahr­hun­dert gepräg­ter Begriff, zurück­ge­führt auf das Römi­sche Welt­reich („impe­ri­um Roma­n­um“). Die deut­sche Arbei­ter­be­we­gung rich­tet ihre frie­dens­po­li­ti­schen Stel­lung­nah­men und Aktio­nen zunächst gegen den Mili­ta­ris­mus[13] und ab 1911 (Refe­rat von Cla­ra Zet­kin auf der 6. Frau­en­kon­fe­renz in Jena) auch gegen den Impe­ria­lis­mus.[14] Die­se Linie wur­de beson­ders beför­dert durch den Frei­den­ker Wil­helm Lieb­knecht (hier zuerst 1868 im „All­ge­mei­nen Deut­schen Arbei­ter­ver­ein“) und dann durch sei­nen Sohn, den Rechts­an­walt Karl Lieb­knecht, eben­falls Freidenker.

Karl Lieb­knecht und Rosa Luxem­burg wur­den zu pazi­fis­ti­schen Leit­fi­gu­ren der lin­ken Sozi­al­de­mo­kra­tie. Die­se in der Arbei­ter­be­we­gung star­ke Grup­pie­rung setz­te sich im Par­la­ment gegen den Mili­tär­haus­halt ein und for­der­te Abrüs­tungs­kon­fe­ren­zen. Ansons­ten waren auch frei­den­ke­ri­sche Sozi­al­de­mo­kra­ten kei­ne Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer. Es hat­te sich viel­mehr die Auf­fas­sung durch­ge­setzt, dass es gut sei, wenn die Arbei­ter mit Waf­fen umge­hen kön­nen, um sie spä­ter gegen ihre Unter­drü­cker ein­set­zen zu können.

Die Freidenker und das Friedensproblem

Die moder­ne Frei­den­ker­be­we­gung und der Pazi­fis­mus als krie­ge­ri­sche Gewalt ableh­nen­der Kern­be­stand von Frie­dens­be­we­gun­gen sind Inno­va­tio­nen des frü­hen 20. Jahr­hun­derts. Sie über­schnei­den sich dort, wo Ideen der Huma­ni­tät in einer bil­dungs­bür­ger­li­chen Son­der­grup­pe der Frei­den­ke­rei (in den „Huma­nis­ten­ge­mein­den“ um 1900) auf­ge­grif­fen und trans­for­miert wer­den in ein Pro­gramm des ethi­schen Huma­nis­mus, das sich auf Sozi­al­ar­beit, aber auch auf Frau­en- und Müt­ter­rech­te sowie auf „Lebens­kun­de“ als einem schu­li­schen Lehr­fach bezieht, das an die Stel­le von Reli­gi­ons­un­ter­richt tre­ten oder die­sen ergän­zen soll.

Die­se Andeu­tun­gen zei­gen, dass die gesell­schaft­li­chen Akteu­re des Huma­nis­mus, des Pazi­fis­mus und der Frei­den­ker­be­we­gung kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich zusam­men agier­ten, sich gar als zuein­an­der gehö­rig emp­fan­den. Gro­ße Grup­pen der Frei­den­ker, inso­fern sie sich den poli­ti­schen Rich­tun­gen der sich im ers­ten Welt­krieg auf­spal­ten­den Arbei­ter­be­we­gung zurech­ne­ten, waren – um radi­ka­le Hal­tun­gen gleich hier zuzu­spit­zen – für einen revo­lu­tio­nä­ren Bür­ger­krieg, für die Ver­tei­di­gung der Revo­lu­ti­on 1918/19 und ihre sozia­lis­ti­sche Fort­füh­rung mit Waf­fen­ge­walt, für gewalt­sa­me Akte gegen Militärseelsorger.

Wer hier die Hal­tun­gen von Frei­den­kern her­aus­fil­tern will, muss zunächst ihre Zuge­hö­rig­keit zu sol­chen Ver­ei­nen halb­wegs his­to­risch ver­bürgt her­aus­fin­den und dann in die Par­tei­pro­gram­me und ‑beschlüs­se der­je­ni­gen Orga­ni­sa­tio­nen schau­en, denen sie zuge­hör­ten, deren „Vor­feld­ein­rich­tun­gen“ sie waren. Zu nen­nen sind hier der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche „Deut­sche Frei­den­ker­ver­band“,[15] der die­sen Namen aller­dings erst 1930 annahm, und die kom­mu­nis­ti­sche „Zen­tral­stel­le pro­le­ta­ri­scher Frei­den­ker“ (schon im Mai 1932 verboten).

Die Frei­den­ker­be­we­gung war in den 1920er Jah­ren eine Mas­sen­be­we­gung mit Ster­be­kas­sen, Eigen­be­trie­ben, Ver­la­gen und einer aus­ge­präg­ten Fest- und Agi­ta­ti­ons­kul­tur. Ihre Beson­der­heit ist – ver­ein­facht gesagt – die jewei­li­ge kir­chen- und reli­gi­ons­po­li­ti­sche Poin­te der Poli­tik ihrer Par­tei­en. Genau genom­men ist kei­ne frie­dens­po­li­ti­sche Gemein­sam­keit der Frei­den­ker fest­stell­bar, weil sie nie zu einer ein­heit­li­chen Orga­ni­sa­ti­on fanden.

Anders wird dies nach dem zwei­ten Welt­krieg als sich in der Bun­des­re­pu­blik Frei­den­ker gegen die Wie­der­be­waff­nung und dann für Frie­dens­be­we­gun­gen und Kriegs­dienst­ver­wei­ge­run­gen enga­gie­ren – und zwar unab­hän­gig davon, ob dies sozi­al­de­mo­kra­ti­sche oder kom­mu­nis­ti­sche Frei­den­ker waren (bei allen sons­ti­gen grund­sätz­li­chen Unter­schie­den). Die Idee einer ethi­schen Sol­da­ten­be­ra­tung stand bis in die 1990er Jah­re außer­halb des frei­den­ke­risch Vor­stell­ba­ren. Sie kam erst durch Aneig­nun­gen hol­län­di­scher Erfah­run­gen in den „Huma­nis­ti­schen Ver­band Deutsch­lands“, auf den noch ein­ge­gan­gen wird.

In der DDR wie­der­um gab es bis Ende 1988 kei­ne eigen­stän­di­ge Freidenker‑, aber eine ver­staat­lich­te Arbei­ter­be­we­gung, dar­in bestimm­te „Anwen­dun­gen“ alter For­de­run­gen der Tren­nung von Staat und Kir­che sowie Reli­gi­on und Schu­le, der Fei­er­kul­tur (Jugend­wei­he) und der Staats­ri­tua­le. Mili­tär, Poli­zei und Staats­si­cher­heit waren, ver­ein­facht for­mu­liert, „reli­gi­ons­frei“ und ein bestimm­tes Ver­ständ­nis von Huma­nis­mus Teil der gesell­schaft­li­chen Welt­an­schau­ungs­po­li­tik.[16] Als es mit der DDR zu Ende ging, waren es die­je­ni­gen Tei­le des „Ver­ban­des der Frei­den­ker“ in den ehe­ma­li­gen Bezir­ken Pots­dam und Halle/Saale, die sich selbst refor­mier­ten und dann in den HVD gin­gen, die – ohne ein his­to­ri­sches Bewusst­sein die­ser Tra­di­ti­on zu haben – Ideen und Prak­ti­ken eines ethi­schen Huma­nis­mus aus­bil­de­ten.[17]

Huma­nis­mus“, der als sol­cher und mit die­sem Wort gedacht und pro­gram­ma­tisch wur­de für Dis­si­den­ten, kam – von den schon erwähn­ten ethi­schen Huma­nis­ten um 1900 abge­se­hen – erst Anfang der 1990er Jah­re in die nun neue, gesamt­deut­sche Frei­den­ker­be­we­gung – und zwar zuerst als „säku­la­rer Huma­nis­mus“ in einer stark reli­gi­ons­kri­ti­schen US-ame­ri­ka­ni­schen Vari­an­te des Nor­we­gers Finn­ge­ir Hiorth, der ihn vor­wie­gend als eine säku­la­ri­sie­ren­de Phi­lo­so­phie verstand.

Wäh­rend sich bei Hiorth kei­ne beson­de­ren Aus­füh­run­gen zur Frie­dens­pro­ble­ma­tik fin­den,[18] gibt es beim lang­jäh­ri­gen Haupt­theo­re­ti­ker die­ses Huma­nis­mus, Paul Kurtz, eine klei­ne, sehr all­ge­mei­ne Notiz. Inner­halb des ers­ten Punk­tes sei­ner Aus­füh­run­gen zu Grund- und Uni­ver­sal­rech­ten („Recht auf Leben“) for­mu­liert ein zwei­ter Abschnitt, der „Ver­tei­di­gung gegen äuße­re Aggres­si­on“ über­schrie­ben ist: „Indi­vi­du­en, die in einem defi­nier­ten Bereich leben, müs­sen gegen­über plün­dern­den Ban­den oder Inva­si­ons­kräf­ten durch die Ein­rich­tung von Sicher­heits­kräf­ten oder eines Ver­tei­di­gungs­hee­res geschützt wer­den. Ohne einen Zustand des Frie­dens kann nie­mand in Sicher­heit leben.“[19]

Im Anfang 1993 gegrün­de­ten HVD stan­den gro­ße Tei­le der Mit­glied­schaft noch lan­ge in der Tra­di­ti­on der Frie­dens­be­we­gung und Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung. Deut­li­cher Aus­druck die­ser Ori­en­tie­rung ist eine vom HVD Ber­lin als „Hom­mage an Ossip K. Flecht­heim“ her­aus­ge­ge­be­ne Bro­schü­re.[20] Ihr Anlie­gen ist es zum einen, Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung zwi­schen Pazi­fis­mus und Anti­mi­li­ta­ris­mus zu ver­or­ten, und zum ande­ren die Frie­dens­be­we­gung als gesell­schaft­li­che Pro­test­be­we­gung zu cha­rak­te­ri­sie­ren, unter­schie­den von staat­lich-diplo­ma­ti­schen Handlungen.

Eine brei­te­re Pro­jekt­land­schaft (Schul­fach Lebens­kun­de, Pati­en­ten­ver­fü­gun­gen, Schwan­ge­ren- und Kon­flikt­be­ra­tung, eige­ne Kinder‑, Jugend- und Sozi­al­ein­rich­tun­gen) und durch Tagun­gen und Publi­ka­tio­nen der „Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie“ ab 1997 erwei­ter­te sich das Ver­ständ­nis von Huma­nis­mus im HVD. Im Zuge der Hin­wen­dung zu einem prak­ti­schen Huma­nis­mus ver­än­der­ten sich auch die grund­le­gen­den Aus­sa­gen zur Krieg-Frie­den-Pro­ble­ma­tik. Das „Huma­nis­ti­sche Selbst­ver­ständ­nis“ von 1995, eine Kurz­fas­sung des Grün­dungs­do­ku­ments von 1993, sag­te im neun­ten Grund­satz noch ganz rigo­ros: „Der Krieg, die Pro­duk­ti­on von Mas­sen­ver­nich­tungs­mit­teln und der Han­del mit Kriegs­ma­te­ri­al sind Aus­druck inhu­ma­ner Ver­hal­tens­wei­sen von Men­schen. Frie­den, Gleich­heit und Gerech­tig­keit sind dage­gen die zen­tra­len Zie­le des Huma­nis­mus.“ Dar­in ein­ge­bet­tet ist unter „Poli­ti­sche Zukunft“ auch die For­de­rung, „kon­fes­si­ons­freie Sol­da­ten in Lebens­fra­gen zu beraten.“

Zwan­zig Jah­re spä­ter fal­len im „Huma­nis­ti­schen Selbst­ver­ständ­nis“ von 2015 die For­mu­lie­run­gen all­ge­mei­ner aus: „Wir set­zen uns dafür ein, Wege fried­li­cher Kon­flikt­lö­sung zu fin­den, Abrüs­tung zu ver­wirk­li­chen und dau­er­haf­ten Frie­den zwi­schen den Völ­kern zu schaf­fen.“ Das The­ma „Sol­da­ten­seel­sor­ge“ ist in die ande­ren For­de­run­gen zur Gleich­be­hand­lung der ange­bo­te­nen Bera­tungs­for­men ein­ge­ord­net: „Es bedarf eines gleich­be­rech­tig­ten recht­li­chen und finan­zi­el­len Rah­mens für die sta­bi­le insti­tu­tio­nel­le För­de­rung der Trä­ger welt­an­schau­li­cher Arbeit. Das betrifft den Sozial‑, Bil­dungs- und Kul­tur­be­reich wie auch die huma­nis­ti­sche Bera­tung in Gefäng­nis­sen, Kran­ken­häu­sern oder Bundeswehr.“

Den Part einer akti­ven Frie­dens­po­li­tik hat im huma­nis­ti­schen Spek­trum weit­ge­hend die „Huma­nis­ti­sche Uni­on“ über­nom­men. Sie wur­de 1961 vor dem Bau der Mau­er gegrün­det. Sie ver­steht Huma­nis­mus durch­aus als säku­la­ri­sie­ren­des Pro­gramm in frei­den­ke­ri­scher Tra­di­ti­on, doch steht sie als bür­ger­li­che Intel­lek­tu­el­len­or­ga­ni­sa­ti­on bewusst den­je­ni­gen Ver­bän­den frem­delnd gegen­über, die sich selbst den Rest­be­stän­den der Frei­den­ker­be­we­gung zurech­nen. Bis heu­te hat die HU eine unmit­tel­ba­re Nähe zu frie­dens­po­li­ti­schen Aktio­nen und lehnt nahe­zu alle Mili­tär­ein­sät­ze mit durch­aus zum Pazi­fis­mus nei­gen­den Argu­men­ten rigo­ros ab. Ihren Huma­nis­mus ver­steht die HU „bür­ger­recht­lich“.

Freidenkerische Pazifisten im ersten Weltkrieg

Zu Kriegs­be­ginn 1914 kam es beson­ders im „Deut­schen Monis­ten­bund“ zu einem Streit, der sich auf die deut­sche Frei­den­ke­rei eben­so Struk­tur bil­dend aus­wirk­te wie auf die Frie­dens­be­we­gung. Der Ver­eins­vor­sit­zen­de Ernst Hae­ckel und sein Nach­fol­ger, der Nobel­preis­trä­ger Wil­helm Ost­wald, unter­zeich­ne­ten im Okto­ber 1914 gemein­sam mit Max Planck und wei­te­ren neun­zig Pro­fes­so­ren den vom Ber­li­ner Alt­phi­lo­lo­gen Ulrich von Wila­mo­witz-Moel­len­dorff ange­reg­ten Auf­ruf „An die Kul­tur­welt“ gegen Eng­lands „Blut­schuld“ im Welt­krieg: die „Fein­de Deutsch­lands, Eng­land an der Spit­ze“, die „angeb­lich zu unsern Guns­ten einen Gegen­satz machen wol­len zwi­schen dem Geis­te der Wis­sen­schaft und dem, was sie den preu­ßi­schen Mili­ta­ris­mus nen­nen“, sol­len wis­sen, „daß für die gan­ze Kul­tur Euro­pas das Heil an dem Sie­ge hängt, den der deut­sche ‚Mili­ta­ris­mus‘ erkämp­fen wird“.[21]

Es kamen um die 4.000 Unter­schrif­ten zusam­men. Nur Max und Alfred Weber, Georg Fried­rich Knapp, Lujo Bren­ta­no, Leo­pold von Wie­se, Lud­wig Quid­de (im Monis­ten­bund aktiv), Fried­rich Wil­helm Foers­ter, Wal­ter Schücking („Deut­sche Frie­dens­uni­on“) und Albert Ein­stein ent­zo­gen sich der Kriegs­psy­cho­se der ers­ten Kriegs­wo­chen. Ost­wald, der sich bis dahin als beken­nen­der „Kos­mo­po­lit“ ver­stand und orga­ni­sier­ter Anhän­ger der „Deut­schen Frie­dens­ge­sell­schaft“ war, aus der er 1917 demons­tra­tiv aus­trat, und auch dem „Ver­band für inter­na­tio­na­le Ver­stän­di­gung“ ange­hör­te, ver­wei­ger­te eine wei­te­re Erklä­rung, „in wel­cher die deut­schen Gelehr­ten als Ant­wort auf die eng­li­sche Kriegs­er­klä­rung geschlos­sen ihre eng­li­schen Ehrun­gen nie­der­leg­ten“.[22]

Die bel­li­zis­ti­sche Hal­tung Ost­walds bewirk­te im Monis­ten­bund die Grün­dung einer „von den abso­lu­ten Pazi­fis­ten gebildete[n] Grup­pe, wel­che jeden Patrio­tis­mus als Chau­vi­nis­mus brand­mark­te und mit dem Prä­si­den­ten … sehr unzu­frie­den“ wur­de.[23] Das hat­te zur Fol­ge, dass sich wäh­rend des ers­ten Welt­krie­ges die Frei­den­ker­be­we­gung zu einem Sam­mel­be­cken für Pazi­fis­ten ent­wi­ckel­te. Georg Graf von Arco über­nahm 1916 die Ber­li­ner Zel­le des Monis­ten­bun­des. Der berühm­te Renn­rei­ter Kurt von Tep­per-Laski, Ber­li­ner Lei­ter des „Komi­tees Kon­fes­si­ons­los“, hat­te mit Otto Leh­mann-Ruß­büldt 1915 den „Bund Neu­es Vater­land“ gegrün­det, eine ent­schie­de­ne Friedensorganisation.

Beson­ders Fried­rich Wil­helm Foers­ter, der Erfin­der des Begriffs „Lebens­kun­de“ und als Per­son noch immer iden­ti­fi­ziert mit der „Deut­schen Gesell­schaft für Ethi­sche Kul­tur“ (1892–1936), die in Ber­lin und ande­ren gro­ßen Städ­ten ab 1892 „Huma­nis­ten­ge­mein­den“ gegrün­det hat­te, war zum Sym­bol eines ent­schie­de­nen Pazi­fis­mus gewor­den. Sei­ne Welt­of­fen­heit, sein Ein­tre­ten für einen Ver­stän­di­gungs­frie­den und sei­ne Tätig­keit als Baye­ri­scher Gesand­ter in der Schweiz 1918/19 brach­ten ihn 1922 auf die Mör­der­lis­te, der Wal­ter Rathen­au zum Opfer fiel. Recht­zei­tig gewarnt, floh Foers­ter zunächst in die Schweiz. Dort ver­folg­ten ihn noch im hohen Alter die Natio­nal­so­zia­lis­ten, so dass er von 1940 bis 1963 in den USA Exil suchen muss­te.[24]

Allen sei­nen spä­te­ren Geg­nern blieb in Erin­ne­rung, dass Foers­ter trotz mas­si­ver Anfein­dun­gen wäh­rend des Krie­ges sei­nen Pazi­fis­mus durch­hielt und ihn 1917/18 in Mün­chen sogar in Vor­le­sun­gen aus­drück­te, wor­auf sich eine gesell­schafts­kri­ti­sche frei­stu­den­ti­sche Grup­pe bil­de­te, die glei­che, vor der Max Weber am 7. Novem­ber 1917 den Vor­trag „Geis­ti­ge Arbeit als Beruf“ (publi­ziert unter dem Titel „Wis­sen­schaft als Beruf“) und am 28. Janu­ar 1919 sei­nen eben­so berühm­ten Vor­trag über „Poli­tik als Beruf“ hielt, auch, um Foers­ters Huma­nis­mus und Pazi­fis­mus zu kor­ri­gie­ren, der ver­häng­nis­voll – wie die „Obers­te Hee­res­lei­tung“ kon­sta­tier­te – auf eben die­se neue schwär­me­ri­sche jun­ge Intel­li­genz aus­strahl­te und deren Kriegs­mü­dig­keit arti­ku­lier­te.[25]

Gegen die sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche Hae­ckel-Frak­ti­on und die „ener­ge­ti­sche“ Frak­ti­on um Ost­wald, die bei­de inner­halb des orga­ni­sier­ten Monis­mus im Krieg zuneh­mend bel­li­zis­tisch argu­men­tier­ten, erhob sich eine pazi­fis­ti­sche Glücks­phi­lo­so­phie zum Gegen­kon­zept, ver­tre­ten vor allem durch den Arzt, Psych­ia­ter und Phi­lo­so­phen Franz Mül­ler-Lyer. Er leb­te als Pri­vat­ge­lehr­ter in Mün­chen und war Anhän­ger des frei­geis­ti­gen Wei­ma­rer Kar­tells und Mit­be­grün­der des „Mut­ter­schutz­bun­des“. Mül­ler-Lyer trug eine „Kul­tur­wis­sen­schaft“ vor, mit deren Hil­fe man, wie er mein­te, ler­nen kön­ne, wie die Kul­tur der Welt in ihrem fried­li­chen Gang zu rich­ten sei. „Kul­tur­be­herr­schung“ war der Kern des Kon­zepts. In der Ten­denz lief die­ses Pro­gramm auf eine „Men­schen­ge­mein­schaft“ im Zeit­al­ter der Mas­sen hin­aus.[26]

Auf die­sen „Eupho­ris­ten-Orden“, wie die Orga­ni­sa­ti­on hieß, in der zahl­rei­che Pazi­fis­ten wäh­rend der Zeit des Krie­ges sich ver­sam­mel­ten, ist hier zu ver­wei­sen, weil die Rezep­ti­on die­ser Ideen spä­ter Anschluss­punk­te lie­fer­te für die moder­ne Zukunfts­for­schung, die im Kal­ten Krieg ihren Anfang nahm und pazi­fis­ti­sche Gedan­ken in den orga­ni­sier­ten Huma­nis­mus hin­ein­trug – eine Leis­tung, die Ossip K. Flecht­heim wesent­lich zu ver­dan­ken ist.

Freidenker und Pazifismus nach dem zweiten Weltkrieg

In dem Maße, wie sich die Arbei­ter­be­we­gung nach 1917 spal­te­te, folg­te die Frei­den­ker­be­we­gung die­sen Grup­pen­bil­dun­gen mit ent­spre­chen­den Vari­an­ten des Sozia­lis­mus bzw. Kom­mu­nis­mus. Da alle poli­ti­schen Par­tei­en in der Wei­ma­rer Repu­blik ihre uni­for­mier­ten, zum Teil bewaff­ne­ten „Armeen“ hat­ten (Arbei­ter­be­we­gung: „Reichs­ban­ner Schwarz-Rot-Gold“, „Roter Front­kämp­fer­bund“), fin­den sich in ihren Rei­hen mit hoher Wahr­schein­lich­keit auch orga­ni­sier­te Frei­den­ker. Zugleich ent­fal­te­te sich in der „Zwi­schen­kriegs­zeit“ eine geson­der­te pazi­fis­ti­sche Bewe­gung und Orga­ni­sa­ti­ons­kul­tur, in der eben­falls Frei­den­ker wirk­ten, beson­ders das „Deut­sche Frie­dens­kar­tell“ und im Umfeld der Ber­li­ner „Welt­frie­dens­kon­fe­renz“ von 1924 (Carl von Ossietzky).

Die Struk­tu­ren der Arbei­ter- und Frie­dens­be­we­gung und die pro­le­ta­ri­schen Frei­den­ker­ver­ei­ne wur­den durch den Natio­nal­so­zia­lis­mus zer­stört. Nach dem zwei­ten Welt­krieg lös­ten sich in bei­den deut­schen Staa­ten durch unter­schied­li­che Maß­nah­men die sozia­len Milieus auf, die auch die Frei­den­ker­be­we­gung tru­gen. Gleich­zei­tig ver­selb­stän­dig­ten sich diver­se Frie­dens­be­we­gun­gen anhand jeweils kon­kre­ter Anläs­se, in denen die Reli­gi­ons­fra­ge nicht mehr gestellt wird. Die Sache wird über­kon­fes­sio­nell. Auch Chris­ten wen­den sich gegen Militärseelsorge.

Die Geschich­te der Frei­den­ker in den West­zo­nen und dann der Bun­des­re­pu­blik kann hier nicht aus­ge­brei­tet wer­den. Für unse­ren Gegen­stand ist wich­tig, dass der Deut­sche Frei­den­ker­ver­band, 1933 ver­bo­ten, 1951 in der Bun­des­re­pu­blik wie­der gegrün­det wur­de. In Ber­lin war aller­dings bereits im Som­mer 1947 ein Aus­schuss von Frei­den­kern ent­stan­den, der ent­spre­chen­de Akti­vi­tä­ten ent­fal­te­te, Jugend­wei­hen durch­führ­te und einen „Frei­den­ker-Ver­band Groß-Ber­lin“ vor­be­rei­te­te, der dann am 20. Juni 1949 gegrün­det wur­de mit Per­so­nen aus dem Sowjet­sek­tor. Im Osten Ber­lins und in der SBZ hat­te sich die SED schon unmit­tel­bar nach ihrer Grün­dung gegen den Wie­der­auf­bau eines Frei­den­ker­ver­ban­des entschieden.

Der West­ber­li­ner Ver­band erhielt seit den 1950er Jah­ren öffent­li­che Mit­tel. Er aner­kann­te im Gegen­zug den Staat (hier das Land Ber­lin), woll­te ihn nicht mehr revo­lu­tio­när besei­ti­gen. Das hat­te zur Fol­ge, dass sich die West­ber­li­ner Orga­ni­sa­ti­on, mehr­heit­lich Sozi­al­de­mo­kra­ten, in der Fol­ge vom Deut­schen Frei­den­ker­ver­band lös­ten, sich in den 1970ern davon völ­lig trenn­ten und sich zum Deut­schen Frei­den­ker­ver­band (Sitz Ber­lin) erklärten.

Dane­ben gab es noch den DFV (Sitz Dort­mund). Die­sem war­fen die „Ber­li­ner“ vor dem Mau­er­bau mit eini­ger Berech­ti­gung vor, er unter­stüt­ze ein­sei­tig die kom­mu­nis­ti­sche Par­tei und sei ein Sam­mel­be­cken für ehe­ma­li­ge KPD-Funk­tio­nä­re. „Zwar bemüh­te man sich noch gemein­sam um die recht­li­che Wie­der­her­stel­lung des 1933 von den Nazis ver­bo­te­nen Ver­ban­des und die Her­aus­ga­be des Frei­den­ker­ver­mö­gens, fak­tisch aber ging man getrenn­te Wege.“[27] Der Ber­li­ner Ver­band wur­de auf die­se Wei­se zu einem Lan­des­ver­band, der zugleich – juris­tisch gese­hen – ein Bun­des­ver­ein war, der dann 1990 bis 1993 die Grün­dung des HVD beförderte.

Mit Beginn der 1980er Jah­re rief der Zukunfts­for­scher und kri­ti­sche Intel­lek­tu­el­le Ossip K. Flecht­heim die frei­geis­ti­ge Tra­di­ti­on des ethi­schen Huma­nis­mus in Erin­ne­rung. Er war Frei­den­ker und Mit­glied des Ber­li­ner Ver­ban­des. Als Klein­kind kam Flecht­heim 1910 aus Russ­land nach Müns­ter. Nach dem Abitur trat er 1927 in Düs­sel­dorf aus der Syn­ago­gen­ge­mein­de aus und schloss sich eine zeit­lang der KPD an. Im glei­chen Jahr begann er mit dem Stu­di­um der Staats- und Rechts­wis­sen­schaf­ten. 1935 muss­te er Deutsch­land ver­las­sen und arbei­te­te wis­sen­schaft­lich in der Schweiz und den USA.

1951 kehr­te Flecht­heim nach Ber­lin zurück, wo er 1954 an der Hoch­schu­le für Poli­tik die Stel­le eines Direk­tors des „Insti­tuts für Zukunfts­for­schung“ antrat. Als radi­ka­ler Demo­krat kri­ti­sier­te Flecht­heim die Ent­wick­lung in der Bun­des­re­pu­blik. Besorgt und tief ent­täuscht ange­sichts der Restau­ra­ti­on in den 1950er Jah­ren, und dass sei­ne lin­ken Posi­tio­nen nicht mehr gefragt waren, ver­ließ er 1961 die SPD und ging spä­ter mit den „Grü­nen“. Flecht­heim wirk­te in der „Inter­na­tio­na­len Liga für Men­schen­rech­te“ und dem „PEN-Zen­trum“. Flecht­heims Vor­wort zur Schrift „Reli­gi­on ist Men­schen­werk“ des Deut­schen Frei­den­ker­ver­ban­des, Sitz Ber­lin, 1980 ent­hielt für die spä­te­re Grün­dung des HVD wich­ti­ge Pas­sa­gen über Huma­nis­mus als „Global‑, Human- und Öko­so­zia­lis­mus“. In der Pha­se des Zusam­men­bruchs des öst­li­chen Staats­so­zia­lis­mus wie der end­gül­ti­gen Mar­gi­na­li­sie­rung der west­li­chen dog­ma­ti­schen Lin­ken und deren Ver­su­che, aus­ge­rech­net Pazi­fis­mus für sich zu rekla­mie­ren, erhoff­te sich Flecht­heim neue Orientierungen.

Humanismus, Pazifismus und Kosovo-Krieg

Es gehört zu den theo­re­ti­schen wie prak­tisch spür­ba­ren Män­geln des orga­ni­sier­ten Huma­nis­mus in der Gegen­wart, dass die Ver­bin­dun­gen zwi­schen Pazi­fis­mus und Huma­nis­mus unge­nü­gend erforscht sind. Dies in dop­pel­ter Hin­sicht: das huma­nis­ti­sche Den­ken in Fort­set­zung der Ideen von Ber­tha von Sutt­ner („Die Waf­fen nie­der!“; 1889); und in Abgren­zung von mili­tä­ri­schen Inter­ven­tio­nen im Namen des Huma­nis­mus.[28] Dar­aus folgt eine unent­schie­de­ne Praxis.

Ein Bei­spiel dafür war 1999 der Streit um den Koso­vo-Kon­flikt. Hier hat sich beson­ders Peter Schulz-Hage­leit, 1997 Grün­dungs­prä­si­dent der Huma­nis­ti­schen Aka­de­mie Ber­lin, „frei­den­ke­risch“ posi­tio­niert. Er ver­öf­fent­lich­te 1999 auf eige­ne Kos­ten ein Son­der­heft von „huma­nis­mus aktu­ell“, der Zeit­schrift der Aka­de­mie als „Ein Essay über Huma­nis­mus in Zei­ten des Krie­ges“. Er schrieb aus betont frie­dens­po­li­ti­scher Posi­ti­on, was er aus Lebens­er­fah­rung und Lehr­klug­heit ablei­te­te: Huma­nis­mus sei nicht gleich „Pazi­fis­mus im Sinn einer bedin­gungs­lo­sen Ableh­nung von Gewalt.“ Aber: „Der Haupt­in­halt huma­nis­ti­schen Den­kens ist gleich­wohl Frie­den als Grund­be­din­gung kraft­voll sich ent­fal­ten­den guten Lebens.“[29]

Aber, dis­ku­tiert Schulz-Hage­leit die­sen Gedan­ken wei­ter: „Ist ange­sichts die­ser radi­ka­len Ableh­nung des Krie­ges kon­se­quen­ter Pazi­fis­mus um jeden Preis die ein­zig mög­li­che huma­nis­ti­sche Lebens­hal­tung? Ganz so ein­fach ist das nicht. Auch gute Eltern müs­sen zuwei­len gewalt­sam ein­grei­fen, wenn ande­re Mit­tel ver­sa­gen.“[30] Er ant­wor­tet: „Es genügt fest­zu­stel­len, dass ein radi­ka­ler Pazi­fis­mus in dem Sinn, dass Waf­fen um kei­nen Preis ein­ge­setzt wer­den dür­fen, aus geschicht­li­chen Erfah­run­gen nicht abzu­lei­ten ist. Doch auch der Umkehr­schluss (Gewalt ist unver­meid­bar, die Geschich­te ‘bewei­se’ es) ist nicht zuläs­sig. Die Geschich­te beweist alles, was bewie­sen wer­den soll, und sie bleibt sich selbst ja nie gleich.“

In sei­nem weni­ge Jah­re spä­ter erschie­ne­nen Werk „Die lei­sen Stim­men der Ver­nunft“ nahm er die­se Fra­ge wie­der auf. Sei­ne Ant­wort ist, dass sich gera­de Huma­nis­ten letzt­lich auf das Ver­ste­hen von Geschich­te ver­las­sen müs­sen. Sie haben mit allen and­ren zu ler­nen, ohne Fein­de zu leben – aus Ver­nunft, die eben auch „das Uner­le­dig­te ‘das ‚Uner­hör­te’, das vor uns lie­gen­de bzw. Lie­gen­ge­blie­be­ne“ ist.[31] Auf­ar­bei­tung sei nötig, mit Ambi­va­len­zen zu leben beson­ders. Das Pro­blem sei nicht, dass die „lei­sen Stim­men der Ver­nunft kaum zu hören“ sei­en, son­dern dass man sich anzu­stren­gen müs­se, damit die vie­len Ver­nünf­ti­gen einen Reso­nanz­bo­den bekommen.

Hart­nä­ckig ver­folgt Schulz-Hage­leit eine Gegen­warts- und Geschichts­be­trach­tung, die stets den Lebens­be­zug erken­nen lässt, der ihm wich­ti­ger ist als alle Weit­weg-Phi­lo­so­phie. Rea­li­tät sind ihm dabei his­to­ri­sche Ereig­nis­se eben­so wie in die Rea­li­tät ein­ge­gan­ge­ne Geschich­ten und Legen­den, die ein Eigen­le­ben füh­ren und seit der Anti­ke ver­han­delt wer­den: Sisy­phos, Kas­san­dra, Rabelais, Zola … Es geht ihm dabei um Genuss und Dis­zi­plin, Ver­nunft und Lei­den­schaft, Bin­dung und Eman­zi­pa­ti­on – und stets um Dia­lek­tik, nicht um „Leit­sät­ze“ oder gar „Leit­kul­tur“.

Fazit

Seit den frü­hen Pazi­fis­ten des 20. Jahr­hun­derts wird Huma­nis­mus auch als Anspruch gese­hen, Men­schen zu einem soli­da­ri­schen und ver­ant­wort­li­chen Ver­hal­ten zu befä­hi­gen, dass Krie­ge ver­hin­dert. Das huma­nis­ti­sche Ver­ständ­nis schließt Tole­ranz ein, unmit­tel­bar ver­knüpft mit dem kämp­fe­ri­schen Ein­tre­ten für gesell­schaft­li­chen Aus­gleich im All­tag wie in den Staats­an­ge­le­gen­hei­ten. Demo­kra­tie und Völ­ker­ver­stän­di­gung gel­ten dabei als Grund­prin­zi­pi­en, die­sen Aus­gleich zu suchen und zu errei­chen. Es wird vor­aus­ge­setzt, dass Men­schen ihre Inter­es­sen – ein­ge­schlos­sen die pazi­fis­tisch moti­vier­ten – anmel­den unter Beru­fung auf ihre Bedürf­nis­se, die eben­so irdisch sind wie die Lösung gesell­schaft­li­cher und indi­vi­du­el­ler Konflikte.

Das wie­der­um heißt nun gera­de nicht, dass Huma­nis­ten auch Ver­tei­di­gungs­krie­ge gene­rell ableh­nen, beson­ders, wenn sie aus­ge­bro­chen sind und ihre Been­di­gung nur durch bewaff­ne­ten Kampf zu errei­chen ist.[32] Bei­spie­le dafür sind die Ein­sät­ze von Huma­nis­ten gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus, sowohl im Spa­ni­schen Bür­ger­krieg, aber beson­ders im Wider­stand gegen deut­sche Besat­zun­gen, an denen sich auch Deut­sche betei­lig­ten. In der Lite­ra­tur ange­führt wird hier meist Hein­rich Manns Bild vom tat­be­rei­ten Huma­nis­ten und König Hen­ri Quar­te.[33] Aber auch die Moti­va­ti­on der Wider­stands­grup­pe „Wei­ße Rose“ in Ham­burg gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus gilt als kämp­fe­ri­scher Huma­nis­mus.[34]

Im Kampf gegen den Faschis­mus sei ein mili­tan­ter Huma­nis­mus nötig, schrieb fast zeit­gleich im Pari­ser Exil der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Phi­lo­soph Sieg­fried Marck.[35] Die „Pari­ser Tages­zei­tung“ ist eine über­ra­schen­de und sicher sel­te­ne Quel­le. Sein ein Jahr spä­ter erschie­ne­nes Buch „Der Neu­hu­ma­nis­mus als poli­ti­sche Phi­lo­so­phie“ ent­hält ähn­li­che Aus­sa­gen.[36]

In ihren Ant­wor­ten auf Fra­gen nach Krieg und Frie­den, Abgren­zung und Tole­ranz, Kon­kur­renz und Eini­gung ler­nen Huma­nis­tin­nen und Huma­nis­ten aus den in Geschich­te, Küns­ten, Medi­en und Wis­sen­schaf­ten vor ihnen aus­ge­brei­te­ten Erfah­run­gen für die eige­ne Bio­gra­phie. Sie wis­sen, zu wel­chen Hel­den­ta­ten und Ver­bre­chen Men­schen in der Lage sind und wie oft unklar bleibt, was das eine und was das ande­re ist. Des­halb eint sie das Bewusst­sein, dass die Gefahr, selbst oder ande­re ins Elend zu stür­zen, nie gebannt ist, und dass Krieg, Natur­zer­stö­rung und mate­ri­el­le Not Gei­ßeln der Mensch­heit sind. Jeder Dog­ma­tis­mus und Fun­da­men­ta­lis­mus sowie jeder päd­ago­gi­sche, reli­giö­se, ras­sis­ti­sche, kapi­ta­lis­ti­sche, mili­ta­ris­ti­sche und natio­na­lis­ti­sche Wahn wird von ihnen als Krieg för­dern­de Zuspit­zung gesell­schaft­li­cher Zie­le abgelehnt.

In die­sem Sin­ne wird es in Bezug auf die vor­herr­schen­de öffent­li­che Mei­nung immer Frei­den­ker geben, reli­gi­ös oder nicht­re­li­gi­ös ori­en­tiert, aber ethisch und huma­ni­tär moti­viert. Sie wol­len durch vor­ur­teils­frei­es Den­ken hin­ter die gesell­schaft­li­chen Nebel kom­men, wie Krie­ge gemacht wer­den. Ihnen erschei­nen die Grün­de, sie zu füh­ren, soll­ten sie auch noch so „ver­nünf­tig“ schei­nen, als trü­ge­risch. Die Logik der Barm­her­zig­keit, der Men­schen­wür­de und der Men­schen­rech­te steht immer quer zu dem Sog und dem Eifer, den die Mecha­nis­men des Kriegs­be­ginns und der Kriegs­füh­rung bei Men­schen aus­lö­sen kön­nen, sie zwin­gen, ihn wei­ter zu führen.

Dafür hat der grie­chi­sche Dich­ter Pin­dar um 480 v.u.Z. eine durch­aus unhe­roi­sche For­mel gefun­den: „Süß ist der Krieg für die Uner­fah­re­nen. Ein Erfah­re­ner aber fürch­tet ihn, wenn er her­an­kommt, im Her­zen über die Maßen.“ Der Huma­nist Eras­mus hat die­sen Satz als Sprich­wort an die euro­päi­sche Kul­tur wei­ter­ge­ge­ben in sei­nem lei­den­schaft­li­chen Plä­doy­er gegen den Krieg, der das Gegen­teil der Huma­ni­tät ist.[37]

Quelle Text:

Horst Gro­schopp: Huma­nis­mus und Pazi­fis­mus in der deut­schen Frei­den­ker­be­we­gung. In: Ders. (Hrsg.): Pro Huma­nis­mus. Eine zeit­ge­schicht­li­che Kul­tur­stu­die. Mit einer Doku­men­ta­ti­on. Aschaf­fen­burg 2016, S. 154–170.

Der vor­lie­gen­de Text wur­de im Früh­jahr 2007 erstellt und im Spät­herbst 2015 für das „Hand­buch Frie­dens­ethik“ über­ar­bei­tet, dort aber aus for­ma­len Grün­den nicht publi­ziert und als Anhang in der oben genann­ten Publi­ka­ti­on ver­öf­fent­licht. Ich dan­ke Hil­de­gard Can­cik-Lin­de­mai­er, Hubert Can­cik und Tho­mas Hein­richs für gute Hinweise.

Quelle Titelfoto:

Deck­blatt SPD-Mai­fest­zei­tung 1914. In: Udo Ach­ten: Illus­trier­te Geschich­te des 1. Mai. Ober­hau­sen 1979, S. 171.


[1] Der Ein­trag auf stattweb.de wur­de inzwi­schen gelöscht.

[2] Das bedeu­tet nicht, dass es im Pazi­fis­mus nicht auch Strö­mun­gen gibt, die jede Gewalt ablehnen.

[3] Zitiert nach der Luther-Über­set­zung, revi­dier­ter Text, Ber­lin 1956, Mat­thä­us 5,9: „Selig sind die Fried­fer­ti­gen; denn sie wer­den Gott schauen.“

[4] Mat­thä­us 5,44.

[5] Vgl. Karl Holl: Pazi­fis­mus in Deutsch­land. Frank­furt a.M. 1988. – Pazi­fis­mus. Ideen­ge­schich­te, Theo­rie und Pra­xis. Hrsg. von Bar­ba­ra Bleisch/Christa Stru­b/­Jean-Dani­el Strub. Bern/Stuttgart/Wien 2006.

[6] Hans-Joa­chim Bees­kow: Kir­chen­ge­schich­te von „links“ und von „unten“. Stu­di­en zur Kir­chen­ge­schich­te des 19. und 20. Jahr­hun­derts. Berlin/Basel 2011, S. 237.

[7] Fried­rich Nietz­sche: Gedan­ken über die mora­li­schen Vor­urt­hei­le (1881). In: Nietz­sche Wer­ke. Kri­ti­sche Gesamt­aus­ga­be. Hrsg. von Gior­gio Colli/Mazzino Mon­ti­na­ri. Fünf­te Abtei­lung. Ers­ter Band. Berlin/New York 1971, S. 29.

[8] Vgl. Horst Gro­schopp: Dis­si­den­ten. Frei­den­ker und Kul­tur in Deutsch­land (1997). Mar­burg 2011.

[9] Tri­ni­us zitiert bei Rei­ner Wild: Frei­den­ker in Deutsch­land. In: Zeit­schrift für His­to­ri­sche For­schung 1979, S. 253–285, hier S. 254 f.

[10] Vgl. Frank Simon-Ritz: Die Orga­ni­sa­ti­on einer Welt­an­schau­ung. Die frei­geis­ti­ge Bewe­gung im Wil­hel­mi­ni­schen Deutsch­land. Güters­loh 1997.

[11] Vgl. Erhard Ass­mus: Die publi­zis­ti­sche Dis­kus­si­on um den Mili­ta­ris­mus unter beson­de­rer Berück­sich­ti­gung der Geschich­te des Begrif­fes in Deutsch­land und sei­ner Bezie­hung zu den poli­ti­schen Ideen zwi­schen 1850 und 1950. Maschi­nen­schrift­li­che Dis­ser­ta­ti­on. Phi­lo­so­phi­sche Fakul­tät, 30. Juli 1951. Erlan­gen. – Der Autor unter­sucht in sei­ner gründ­li­chen, aber bis­lang wenig beach­te­ten Stu­die, das katho­li­sche Den­ken über Mili­ta­ris­mus und Antimilitarismus.

[12] Erst nach dem Ers­ten Welt­krieg wird Impe­ria­lis­mus auch als (so Lenin) höchs­te und letz­te Stu­fe der kapi­ta­lis­ti­schen Öko­no­mie gedacht.

[13] Vgl. Wil­helm Schrö­der: Hand­buch der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­ta­ge von 1863 bis 1909; Hand­buch der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­ta­ge von 1910 bis 1913. Mün­chen 1910, S. 311–332; Mün­chen 1917, S. 434–474.

[14] Vgl. Schrö­der: Hand­buch 1917, S. 225–245.

[15] Der DFV geht zurück auf den 1905 in Ber­lin gegrün­de­ten „Ver­ein der Frei­den­ker für Feu­er­be­stat­tung“. Von die­sem führt die Orga­ni­sa­ti­ons­ge­schich­te hin zum HVD Berlin.

[16] Vgl. Horst Gro­schopp: Der gan­ze Mensch. Die DDR und der Huma­nis­mus. Ein Bei­trag zur deut­schen Kul­tur­ge­schich­te. Mar­burg 2013.

[17] Vgl. Horst Groschopp/Eckhard Mül­ler: Letz­ter Ver­such einer Offen­si­ve. Der Ver­band der Frei­den­ker der DDR (1988–1990). Ein doku­men­ta­ri­sches Lese­buch. Aschaf­fen­burg 2013.

[18] Vgl. Finn­ge­ir Hiorth: Huma­nis­mus – genau betrach­tet. Eine Ein­füh­rung. Neu­stadt am Rüben­ber­ge 1996.

[19] Paul Kurtz: Ver­bo­te­ne Früch­te. Ethik des Huma­nis­mus (1988). Neu­stadt am Rüben­ber­ge 1998, S. 269.

[20] Vgl. Kriegs­diens­te ver­wei­gern. Pazi­fis­mus heu­te. Hom­mage an Ossip K. Flecht­heim. Hrsg. von Wolf­ram Bey­er. Ber­lin 2000.

[21] Bern­hard vom Bro­cke: Wis­sen­schaft und Mili­ta­ris­mus. Der Auf­ruf der 93 „An die Kul­tur­welt!“ und der Zusam­men­bruch der inter­na­tio­na­len Gelehr­ten­re­pu­blik im Ers­ten Welt­krieg. In: Wila­mo­witz nach 50 Jah­ren. Hrsg. von Wil­liam M. Cal­der III./Hellmut Flashar/Theodor Lind­ken. Darm­stadt 1985, S. 651. – Vgl. Auf­ru­fe und Reden deut­scher Pro­fes­so­ren im Ers­ten Welt­krieg. Hrsg. von Klaus Böh­me. Stutt­gart 1975.

[22] Gre­te Ost­wald: Wil­helm Ost­wald, mein Vater. Stutt­gart 1953, S. 171.

[23] Ost­wald: Wil­helm Ost­wald, S. 173.

[24] Vgl. Fried­rich Wil­helm Foers­ter: Erleb­te Welt­ge­schich­te 1869–1953. Memoi­ren. Nürn­berg 1953. – Horst Gro­schopp: Die drei berühm­ten Foers­ters und die ethi­sche Kul­tur. Huma­nis­mus in Ber­lin um 1900. In: Huma­nis­mus und Huma­ni­sie­rung. Hrsg. von Horst Gro­schopp. Aschaf­fen­burg 2014 S. 157–173.

[25] Vgl. Max Weber: Wis­sen­schaft als Beruf (1917/19); Poli­tik als Beruf (1919). Hrsg. von Wolf­gang J. Mommsen/Wolfgang Schluch­ter. Tübin­gen 1992, S. 28 f., 60 f., 115 (Max Weber Gesamt­aus­ga­be, Band 17).

[26] Vgl. Franz C. Mül­ler-Lyer: Wege zur Kul­tur­be­herr­schung. Schrif­ten aus dem Eupho­ris­ten-Orden. Mün­chen 1913 (nur Band 1 erschienen).

[27] Man­fred Ise­mey­er: Frei­geis­ti­ge Bewe­gun­gen in der Bun­des­re­pu­blik 1945 bis 1990. Ein Über­blick. In: Säku­la­re Geschichts­po­li­tik. Hrsg. von Horst Gro­schopp. Ber­lin 2007, S. 84–95, hier S. 92.

[28] Erst jüngst hat sich der orga­ni­sier­te Huma­nis­mus der Denk­tra­di­ti­on des Huma­ni­ta­ris­mus geöff­net. Vgl. Heinz-Bern­hard Wohlf­arth: Huma­ni­ta­ris­mus. In: Huma­nis­mus: Grund­be­grif­fe. Hrsg. von Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf. Ber­lin 2016, S. 31–38.

[29] Peter Schulz-Hage­leit: Lebens­strom und Ratio­na­li­tät. Ein Essay über Huma­nis­mus in Zei­ten des Krie­ges. Ber­lin 1999, S. 5.

[30] Schulz-Hage­leit: Lebens­strom und Ratio­na­li­tät, S. 63. – Hier auch das fol­gen­de Zitat.

[31] Peter Schulz-Hage­leit: Die lei­sen Stim­men der Ver­nunft. Ton­auf­nah­men im Schlacht­haus der Geschich­te. Her­bolz­heim 2006, S. 159.

[32] Dem Pro­blem, inwie­fern dann eine „huma­ni­tä­re Krieg­füh­rung“ dis­ku­tiert wird, kann nicht nach­ge­gan­gen werden.

[33] Hein­rich Mann: Gestal­tung und Leh­re (1939). In: Hein­rich Mann. Ver­tei­di­gung der Kul­tur. Anti­fa­schis­ti­sche Streit­schrif­ten und Essays. Hrsg. von Wer­ner Her­den. 2. Auf­la­ge. Berlin/Weimar 1973, S. 481–486, hier S. 485.

[34] Ursel Hoch­muth: Can­di­da­tes of Huma­ni­ty. Doku­men­ta­ti­on zur Ham­bur­ger Wei­ßen Rose anläß­lich des 50. Geburts­ta­ges von Hans Lei­pelt. Ham­burg 1971, S. 45 ff.

[35] Vgl. Sieg­fried Marck: Mili­tan­ter Huma­nis­mus. Zwei Vor­trae­ge. Pari­ser Tages­zei­tung, 2. Jg., Nr. 286 (24.3.1937), S. 4.

[36] Zürich 1938, S. 203–209.

[37] Pin­dar, Frag­ment 110. (1954): Pin­da­ri Car­mi­na cum frag­men­tis. Hrsg. von Bru­no Snell. Leip­zig 1954, S. 255. – Eras­mus, Ada­gium 3001. In: Ope­ra Omnia Desi­de­rii Eras­mi Rotero­da­mi reco­gni­ta et adno­ta­tio­ne cri­ti­ca ins­truc­ta notis­que illus­tra­ta. Ams­ter­dam e. a. 1981–2005. II, Bd. 7, S. 11.

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